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Herrenfahrer

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Es war noch März, als ich in der Leonhardstraße Rollkoffer rattern hörte und mir klar wurde, dass sich alles ändern würde. Die Prostituierten verließen in Truppenstärke ihre Buden, vertrieben von den staatlichen Verordnungen in den Zeiten der Corona. Ich kenne das Viertel seit langem, und ein ähnlich apokalyptisches Szenario war mir zuvor nur in den Sprechblasen genervter Kaschemmenwirte begegnet: Ruhe im Puff.

Mehr als zwei Jahrzehnte war ich hauptberuflicher Spaziergänger, ein journalistischer Stadtkundschafter im Angestelltenverhältnis, der jetzt im Rentnerstatus als sogenannter Freier herumzieht. Wer auf dem Weg durchs Rotlichtviertel nur eine Sekunde über die Berufsbezeichnung "Freier" nachdenkt, begreift, wie idiotisch dieser Begriff ist.

Die Stadt ist für den Herumgeher seit der sozialen Distanzpflicht übersichtlicher geworden, der Blick hat sich geöffnet. Fußgänger mit etwas gutem Willen werden jetzt womöglich mehr sehen als nur Schaufensterpuppen und Eisbuden. Wenn ich mich allerdings umhöre, fällt mir auf, dass viele Zeitgenossen ausgerechnet die Virenpest mit ihren tödlichen Gefahren wie eine Zeit der Besinnung betrachten. Und verdrängen. Gerade so, als bewegten sie sich im Schneckentempo "zwischen den Jahren" und hätten vor dem Korkenknallen noch die Verse von "Macht hoch die Tür" in den Ohren.

Viel Hoffnung, diese milchglasäugige Sicht auf das Elend vor der Haustür könnte das Bewusstsein verändern, habe ich nicht. Würde morgen ein Laden die neue Sneaker-Kollektion eines als "mega" gepuschten Popstars ankündigen, wäre die Schlange in Decken gehüllter Modemasochisten bereits in der Nacht vor der Ladenöffnung zehn Kilometer lang – heuer etwas länger als sonst, weil Polizisten mit Banditenmasken im Gesicht den Einskommafünfmeter-Abstand der Turnschuh-Trampel überwachen würden.

Als ich gegen Ende der Neunziger mit meinem halbwegs bewussten Spazierengehen anfing, ahnte ich nicht, dass diese, eigentlich nicht ganz ungewöhnliche, Fortbewegungsart eines Tages eine politische Dimension erreichen und zu handfesten Konflikten in Parlamenten und im Alltag führen würde. Als Anfänger, der sich keineswegs die Fähigkeiten des klassischen Flaneurs anmaßte, hielt ich es zunächst pragmatisch mit Johann Gottfried Seume: "Wer geht, sieht mehr, als wer fährt." Und nach wie vor interessiert es mich einen Hundehaufen, ob der Schriftsteller Seume den aufrechten Gang zu einer Zeit probte, als es noch keine Eisen- und Straßenbahnen gab. Von Autos zu schweigen.

Heute, im Sisyphos-Kampf gegen die bevorstehende Klimakatastrophe, bin ich schlauer. Neulich las ich im Roman "Superbusen" der "Titanic"-Redakteurin Paula Irmschler die bisher treffendste aller Analysen beim Blick auf unser Verkehrsfiasko: "Autos sind die Männer, Fahrräder die Frauen und Fußgänger die mehrfach Diskriminierten." So beschloss ich, Rosa Luxemburgs berühmten Satz zu modifizieren: "Wer sich nicht zu Fuß bewegt, spürt seine Fesseln nicht."

Eifriger als sonst nur im Kopf unterwegs, auch wegen der geschlossenen Kinos, stieß ich in Ödön von Horvaths Roman "Der ewige Spießer" auf die Tatsache, dass Männer auch schon vor hundert Jahren dumm wie Autos waren. Im Buch wettert der Chauffeur Harry, dass für jedes "Kraftfahrzeugunglück" immer nur ein Fußgänger die Schuld trage – und nie und nimmer ein "Herrenfahrer". Schon vor FDP, CDU und ADAC hielten es Automobilisten für einen Skandal, wenn der Schweinestaat sie in ihren stinkenden Kisten reglementierte. Freie Fahrt für freie Bürger! Erst recht, wenn dem Herrenfahrer ein Fußgänger auf dem Zebrastreifen den Weg versperrt.

Was für eine Pointe, dass ausgerechnet der Spaziergänger Horvath im Juni 1938 in seinem Pariser Exil frühen urbanen Klimaschutzrequisiten zum Opfer fiel. Der Stuttgarter Koch und Autor Vincent Klink schildert die Tragödie in seinem Buch "Ein Bauch spaziert durch Paris" so: "Beim Flanieren unter den Platanen der Champs geriet der vor sich hin sinnierende Dichter in starkes Windgeflüster, ein Baum wurde entwurzelt und erschlug den braven Mann." And the wind cries Ödön ...

Unterdessen stolpern aufgeblasene Herrschaften aus der politischen Marktschreier-Ecke grobmotorisch auf den Internet-Pfaden herum. Wie die Stuttgarter Kultusministerin Eisenmann, die auf Facebook mit populistischen Forderungen zur besseren Künstlersoforthilfe oder zum höheren Kurzarbeiterlohn digitalen Frühstart-Applaus als oberste CDU-Kandidatin der Landtagswahlen 2021 einfahren will. Was soll's. Nicht alle Frauen sind Fahrräder und solche Fußnoten der Propaganda weniger gehaltvoll als Gunter Gabriels klassenkämpferischer, wenn auch revolutionär nicht ganz zu Ende gedachter Schlager: "Hey Boss, ich brauch mehr Geld".

Als Fußreisender, der im Dreikilometer-pro-Stunde-Tempo denkt und dabei einige inhaltliche Kurven im Sprung-in-der-Schüssel-Zustand zu meistern versucht, verschärft sich der Eindruck: Bis jetzt hat die krisenbedingte Beschäftigung mit der Mortalität kaum Einfluss auf die herrschende Moralität. Moral gilt bei uns schon lange nur noch als eine Art Virus, das vorzugsweise depperte "Gutmenschen" befällt wie eine Kopfgrippe. Der Kapitalismus hingegen verlässt sich auf seine getunten SUV-Hirne, die trotz aller Corona-Fesseln und Klimagefahren ihrer neoliberalen Vollgas-Strategie treu bleiben: "Wenn wir hier durchkommen, kommen wir überall durch."

Das Rattern der Rollkoffer im Rotlichtbezirk, wo ich im Schatten der Frühlingssonne um ein Haar einen einsam herumstehenden AMG-Mercedes vor Mitleid gestreichelt hätte, ließ mich einen Windhauch lang hoffen, die mehrfach Diskriminierten dieser untergehenden Welt könnten jetzt den Zellen der Ausbeutung entkommen. Irrtum. In absehbarer Zeit wird sich nur dann etwas bewegen, wenn sich von uns mehr als vor der Krise bewegen. Und so kann ich allen nur raten, sich beim stürmischen Zufußgehen auf den Straßen in Acht zu nehmen vor entwurzelten Platanen und entfesselten Herrenfahrern.


Alle 14 Tage stürzt sich Joe Bauer für Kontext ins Straßenleben. Lustvoll folgt er dabei einem Mantra als Fußreisender: lieber zu weit gehen als gar nicht.


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4 Kommentare verfügbar

  • Waldemar Grytz
    am 29.04.2020
    Antworten
    Was da in solchen Zeiten alles so hoch kommt: da eilt einer mehr rennend als flanierend über den Botnanger Marktplatz, hustet und rotzt, wie mancher Top-Spieler der Fußballbundesliga (als er noch durfte). Verständnisloser Blick als ihm "Sau" nachgerufen wird und die aggressive Nachfrage " hast du…
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