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Abstürze

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Weihnachten und der 17. Juni werden jedes Jahr kurz nach dem Frühling gefeiert. An Weihnachten erinnern sich die Jüngeren noch – das hat was mit Kaufen und Schenken zu tun. Aber 17. Juni? Vatertag? Oder ein anderer alter Volksbrauch? Etwa Halloween? Keine Angst, das ist alles nicht so schlimm – was das Wort Auschwitz bedeutet, wissen ja auch nur 21 Prozent.

Die Bildungsrepublik Deutschland hat insoweit etwas von der unbefleckten Erkenntnis – das Bildungsniveau sinkt wie der Elbpegel, aber etwas bleibt ja immer haften, und sei's der Dreck von gestern. Wir sollten in die Türkei blicken, in die Zukunft, überall dorthin, wo sich eine neue Stadtgesellschaft etabliert, unabhängig von Bakschisch und evangelikalem Islam. Die Jugend will tanzen und arbeiten und Zukunft sehen – das eine verweigern die neuen Mullahs, das andere die Troika. Für Letztere ist der Absturz der Börsen weit schlimmer als der Absturz der Menschenrechte. Denn darum geht's in Wirklichkeit – um das größte Atomkraftwerk der Welt, die längste Brücke, das schönste Shoppingcenter – Cannstatter Zuckerlefest statt Weihnachten.

Stuttgart 21 ist also tatsächlich überall – schneller, größer, dicker, aber nicht weiser. Erdogan heißt die Investoren aus dem Daimlerland willkommen, die Menschenrechtskommission der EU wartet mit Wolfgang Borchert draußen vor der Tür. Inzwischen füllen sich die mager gewordenen Leserbriefspalten der absolut unabhängigen Tageszeitungen hier wieder – allseits wird die Islamisierung am Beispiel einer so schönen Stadt wie Istanbul beklagt, Kopftücher, Kopftücher, Kopftücher! Und die einst so preiswert erworbene Wohnung mit Blick auf den Bosporus kann unter diesen Umständen kaum genutzt werden.

Trösten wir uns – auch meine Omi Glimbzsch aus Zittau kam ja ohne Kopftuch unter die Haube. Am 17. Juni 1953 hat sie die Klamotten hingeschmissen und ist streiken gegangen mit den Mädels aus Crimmitschau. Die Textilarbeiterinnen der VEB Volltuchwerke Crimmitschau waren stolz auf die Geschichte der Arbeiterbewegung – es war ihre Geschichte: 1903 streikten die Arbeiterinnen von Crimmitschau sechs Monate lang, für eine anständige Bezahlung, den Zehnstundentag, Demokratie. Die Omi hat 50 Jahre später die Forderungen wiederholt – vor der SED-Zentrale verlas sie den Brief ihrer Kolleginnen: Rede- und Streikrecht! Versammlungsfreiheit! Freie Gewerkschaften! "Die drei Jahre hab ich auf eener Oarschbacke abgesessn", erzählt sie mir. So waren sie eben damals, voller Ausdauer. Dank den Frauen von heute und von Crimmitschau. Und Omi.

 

Peter Grohmann ist Kabarettist und Gründer des Bürgerprojekts Die Anstifter.


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