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Pünktlich wie die Eisenbahn

Pünktlich wie die Eisenbahn
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Kopfbahnhof ohne Flügel, Reisende im Regen, Herz des Stuttgarter Widerstands. Und nebenbei ist der Stuttgarter Hauptbahnhof auch noch ein Ort, an dem die kleinen Dramen auf die großen Pläne der Deutschen Bahn treffen.

Gestrandet. Das passiert Bahnfahrern öfter mal. Fotos: Daniel Keller

Warum die Gleise gesperrt sind, will ich wissen. "Darüber dürfen wir keine Auskunft geben", sagt der junge Mann an der Information. Dafür sei die Pressestelle zuständig.

Warum der Zug nach München 20 Minuten Verspätung habe? Zwei Frauen, der Kleidung nach eindeutig der Bahn zuzuordnen, sagen das Gleiche. "Des isch jetzt aber kein Interview?", interveniert ein herbeigeeilter Dritter. Ein solches nämlich sei in diesem Fall mit dem Kundenservicemanager zu führen, welcher leider in einer Besprechung weile.

Ein weiterer Anlauf am selben Tag. Ich spreche einen gemütlich aussehenden Zivilisten nahe dem Infoschalter an. Als Bahnmitarbeiter sage er nichts, da gebe es Zuständige, werde ich beschieden.

Wenn rennen nicht mehr hilft

Derweil sprintet ein junger Mann mit einem riesigen Rucksack um die Ecke, beschleunigt entlang der Gleisgeraden noch mal, drückt den Türöffner und nein, er steigt nicht ein. Die Türen bleiben geschlossen, der Zug fährt ab. "Scheiße", keucht der sportliche Mittdreißiger, das erkennt man ohne Grundkurs im Lippenlesen auch durch die Scheibe.

Eine Szene, wie sie sich tagtäglich am Stuttgarter Hauptbahnhof ereignet: Hat der eine Zug Verspätung, kommt der Anschluss ins Wanken. Und mit ihm Reisepläne, Verabredungen, geschäftliche Meetings. 

Der Grund für Verspätungen heißt im offiziellen Bahnsprech "Störungen im Betriebsablauf". Es dürfte kaum einen Reisenden geben, der das nicht kennen- und hassen gelernt hat. Hinter dem bürokratendeutschen Konstrukt kann sich übrigens alles verbergen, was mit Zügen, Gleisen, Bahnhöfen zu tun hat, von der lapidaren Signalstörung über das liegen gebliebene Auto auf dem Bahnübergang bis zum Selbstmord.

Die offizielle Bahnstatistik zur "Pünktlichkeitsentwicklung" suggeriert trotzdem, dass alles in Ordnung ist. "Pünktlich wie die Eisenbahn" eben. Sämtliche Werte liegen über 90 Prozent. Das aber hängt mit dem Zeitbegriff der Deutschen Bahn zusammen. Züge, die weniger als sechs beziehungsweise 16 Minuten Verspätung haben, gelten als pünktlich. Auch lässt sich die Statistik nicht auf eine Region oder einen Verkehrsknotenpunkt herunterbrechen. Sie gilt für rund 800 000 Fahrten monatlich und bundesweit. Im Oktober zeigt die Statistik eine deutliche Abwärtskurve.

Die Bahn will pünktlich werden

Die Bahn erklärt das so: "Die Verfügbarkeit des Schienennetzes war durch den Anstieg der Baumaßnahmen und zahlreiche Störungen von Infrastrukturanlagen – darunter mehrtägige Sperrungen im Stuttgarter Hauptbahnhof, die dauerhafte Streckensperrung Halle–Bitterfeld sowie eine größere Stellwerksstörung in Berlin – stark eingeschränkt." Hinzu komme noch ein "erhöhtes Störgeschehen bei den Zügen". Aber es gibt auch Trost: "Die DB hat entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet, um die derzeit zweifellos unbefriedigende Pünktlichkeit zu verbessern." Das lässt hoffen. 

Warten.

Warum aber warten manche Anschlusszüge auf verspätete Reisende, während in anderen Fällen auch der rekordverdächtigste Sprint die Weiterfahrt nicht garantiert? "Das liegt daran, dass wir ein System haben, das zum Teil bundesweit wirkt", sagt ein Stuttgarter Bahnsprecher. Aha. Roland K. heißt er, aber "Sie sollten uns nicht mit Namen zitieren". Warum eigentlich? Da hätten die Medien ihren Teil dazu beigetragen, sagt Herr K. Es gebe keinen einzelnen Pressesprecher, sondern ein Team, mehrere sogar, wenn man "die in der Zentrale" dazurechnet. Und wenn Medien dann mehrere Pressesprecher zum gleichen Thema befragen, sei das "irgendwie kontraproduktiv". Daran also liegt's, wenn man wieder mal nur Bahnhof versteht.

Für die meisten Reisenden dürfte die Pünktlichkeit freilich größere Bedeutung haben als das Auskunftsverhalten von Bahnsprechern. Innerhalb des ausgeklügelten Systems aus Fern- und Nahverkehrszügen gebe es "Grenzen, wo ein Zug nicht mehr warten kann", sagt Herr K. Zumal ja auch der (nicht) wartende Anschlusszug wiederum Anschlusszüge erreichen müsste. "Dann bringen Sie am Schluss den ganzen Fahrplan durcheinander."

Einen Fahrplan, der durcheinandergeraten ist, erkennt man auf nahezu allen Bahnhöfen an den blauen Anzeigetafeln. Die verweisen nicht nur auf den Zielbahnhof und das (womöglich) richtige Gleis, sondern auch auf Probleme aller Art. Grundsätzlich gilt: ein weißes Laufband auf der blauen Tafel verheißt Probleme. Faustregel: je mehr Weißraum, desto länger die Wartezeit.

Eine Dauersperrung und ihre Gründe 

Ein Rückblick: innerhalb weniger Wochen entgleisten zwei Züge an derselben Doppelweiche vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Tagelanges Chaos war die Folge. Züge und S-Bahnen fuhren stark verspätet oder gar nicht, Start- und Endpunkte einzelner Bahnlinien wurden auf Bahnhöfe im Umland verlegt, mehrere Gleise waren dauerhaft gesperrt. Hektische Bauarbeiten an der Weiche waren die Konsequenz, ein Testzug sprang trotzdem aus den Gleisen. Bis heute ist Gleis zehn gesperrt.

Faustregel: je mehr Weißraum, desto länger die Wartezeit.

Als Grund für die Entgleisungen vermuten Bahnexperten zu enge Kurvenradien an den Weichen. Einer davon ist Egon Hopfenzitz. Der hat 46 Jahre im Dienst der Bahn verbracht, 20 davon auf dem Stuttgarter Bahnhof. Anfangs im Aufsichtsdienst, später als Bahnhofsvorsteher. Heute ist er Bundesbahnoberrat a. D., eine Galionsfigur der S-21-Gegner und wird auf Montagsdemos mit "Ho-Ho-Hopfenzitz"-Sprechchören empfangen. Spaziert man mit dem hageren Eisenbahner der alten Schule durch den Hauptbahnhof, versteht man zwei Dinge: zum einen, dass Hopfenzitz seinen Bahnhof heute noch liebt. Zum anderen, wie der eigentlich funktioniert – bis in kleinste technische Details.

"Das ist der größte Witz des Jahrhunderts, dass auf einem Bahnhof Gleise gesperrt werden müssen", schimpft Hopfenzitz. Die Sperrungen, sagt er, seien "die allergrößte Pleite für die Bauplaner". Eine Pleite, die mit Stuttgart 21 zusammenhänge. "Die Bahn baut, was sie bloß darf, um die Sache unumkehrbahr zu machen." Ein Immobilienprojekt sei Stuttgart 21, schimpft Hopfenzitz, die Flächen, die durch den tiefergelegten Bahnhof mit seinen "Glubschaugen" frei würden, seien irrsinnig teuer. "Wirtschaftsförderung par excellence", knurrt Hopfenzitz und stapft weiter Richtung Stellwerk, raus aus der Bahnhofshalle.

Auf Gleis zehn, mit Blick auf "die ominöse Weiche", erläutert Hopfenzitz die Ursache des Unfalls. An der Weiche folgt eine scharfe Rechts- auf eine ebensolche Linkskurve. Die Folge nennt Hopfenzitz eine "Überpufferung". Während die Lok die Wagen aus dem Bahnhof schiebt, verschieben sich an den Kurven die Puffer so weit, dass sie abgleiten und die Waggons sich gegenseitig aus dem Gleis wuchten. 

Hilfe für Gestrandete 

Danach hilft vielleicht ein Besuch in der Bahnhofsmission. An Gleis 6 findet sich diese Anlaufstelle für gestrandete oder gehandicapte Reisende. Hinter einer unscheinbaren weißen Tür tut sich ein kleiner, in freundlichen Farben gehaltener Raum auf. Ein Tisch steht da mitsamt Eckbank und einer Thermoskanne Tee. Hinter einem kleinen Tresen sitzen die Mitarbeiter in ihren blauen Kitteln. Nein, den Rucksack hier mal eben eine Stunde abzustellen sei kein Problem, sagen sie. Und antworten geduldig auf meine Fragen. 

"Deutlich mehr Leute" seien bei ihnen angelandet, sagt Mitarbeiterin Sandra Fahrion, ohne Wut im Bauch, nur in Sorge, nicht weiterzukommen. Die Reisenden hätten nachgefragt, ob und welche Züge fahren. "Soweit wir konnten, haben wir beraten", sagt Sandra Fahrion und lacht. Ein klein wenig sind dadurch die Schlangen vor dem Infocenter kleiner geworden. 

Gleis zehn ist immer noch stillgelegt. Warum eigentlich? "Das hat damit zu tun, dass das Eisenbahn-Bundesamt dieses Gleis momentan für Zugfahrten gesperrt hat", sagt Bahnsprecher K. Sein Kollege Moritz Huckebrink vom Eisenbahn-Bundesamt gibt eine andere Antwort: "Wir haben die Deutsche Bahn aufgefordert, die Sicherheit an diesem Gleis nachzuweisen, bevor der Regelbetrieb wieder aufgenommen wird. Das hat die Bahn bis jetzt nicht getan."

Vor dem Bau kommt der Rückbau

Dafür war sie an anderer Stelle aktiv. Boten Nord- und Südflügel noch Schutz vor den Widrigkeiten des Wetters, findet sich der Reisende heute in einer überdimensionierten Kühlkammer wieder. Dass dem Dach nun auch noch die senkrecht angeordneten Glasscheiben fehlen, die wenigstens den ein oder anderen Regenschauer abhielten, macht das Ganze auch nicht besser. Das Warten auf den Zug wird auf diesen Bahnsteigen bei winterlichen Temperaturen zur Qual. 

Wann kommt der Zug?

Das Bahnhofsdach, erklärt der warm eingepackte Hopfenzitz bei unserem Spaziergang durch die zugige Halle, sei auf Rollen gelagert. An und für sich ein gutes System, das Temperaturschwankungen und damit verbundene Dehnungen des Materials ausgleichen soll. "Vor dem Abriss des Nord- und Südflügels war das Dach gut aufgehoben", sagt Hopfenzitz. Nun gibt es in Sachen Stabilität das ein oder andere Problem. Nach dem Abriss sollten Stahlträger an den Seiten des Gleisfelds die nötige Stabilität bringen. Das aber reichte offenkundig nicht aus. Im Oktober wunderten sich Reisende über gigantische Betonklötze im vorderen Bereich von Gleis acht – das ebenfalls gesperrt war. Die Quader dienen mitsamt Pfeiler dazu, das nach dem Abriss des Südflügels stark in Mitleidenschaft gezogene Dach in der Mitte zu stützen.

Dass das Dach bei hohen Windstärken nicht halten könne, habe die Bahn wissen müssen, sagt Hopfenzitz. Ihre Organisation sei eben Mist. Zu seiner Zeit hätten 1000 Beschäftigte den Betrieb am Bahnhof aufrechterhalten. Heute sei vor allem die Zahl der Häuptlinge gestiegen. "Da sprechen sieben Chefs mit." Für das Bahnhofsgebäude etwa ist die DB Station & Service AG zuständig. Management, Sauberkeit, Beleuchtung fallen ebenso in ihren Bereich wie die Verpachtung der Ladengeschäfte. Die Zuständigkeit der DB Netz wiederum beginnt am Prellbock. Sie ist für Unterhalt und Umbau der Gleisanlagen ebenso verantwortlich wie für die Frage, wer darauf überhaupt fahren darf.

Das alles dürfte Reisende wenig interessieren. Sie wollen ankommen und abfahren, sicher und zur rechten Zeit. Stattdessen ist der S-Bahn-Verkehr massiv beeinträchtigt und das Hin- und Herspringen zwischen den Bahnsteigen die Regel. Die Bahn verspricht nun, sie wolle die Pünktlichkeit verbessern. Wie das angesichts von Stuttgart 21 gehen soll, darüber schweigt sie sich aus.


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2 Kommentare verfügbar

  • eraasch
    am 24.11.2012
    Antworten
    Zeigt klar die Prioritäten am Anfang des 21ten Jahrhunderts: In der Sache alles egal, leben von der Substanz, Parasitendasein. Nur die Rendite muß stimmen. Alle Strukturen werden darauf getrimmt.
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