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Freifahren

Teure Haft für arme Menschen

Freifahren: Teure Haft für arme Menschen
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Meryem G. fuhr drei Mal ohne Fahrkarte ICE. Die Folge: mehrere Monate Haft in der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd. Die Linke hat sie nun freigekauft. Doch das ist nicht immer einfach – und es bleibt ein Politikum.

Um Punkt acht Uhr legt Luigi Pantisano einen dicken Stapel Geldscheine in eine Schublade. "Das sind 1.800 Euro", sagt er, zückt sein Portemonnaie, sucht weitere 30 Euro heraus und legt sie dazu. Anschließend schiebt er die Schublade zu, und sie verschwindet bei einem Mann, der hinter der Glasscheibe sitzt. Das Geld ist weg, aus der Freiheit in den Knast. Meryem G. geht den umgekehrten Weg – gleich wird sie frei sein.

An diesem Samstag hängt der Nebel über Schwäbisch Gmünd, ein kalter, frösteliger Novembermorgen. Auf dem großen Parkplatz ist ein Flohmarkt, viele kleine Stände, Eltern mit ihren Kindern. Ein paar Meter weiter stehen Pantisano (für die Linke sitzt der ehemalige Stuttgarter Stadtrat mittlerweile im Bundestag) und die beiden linken Landtagskandidatinnen Mersedeh Ghazaei und Nina Eisenmann vor dem Frauengefängnis in Schwäbisch Gmünd und kaufen eine Gefangene frei.

Nach ein paar Minuten die erste positive Nachricht: "Die Gefangene möchte ausgelöst werden", sagt der Mann an der Anmeldepforte hinter der Glasscheibe. Es gibt zwei Möglichkeiten, das Geld zu übermitteln. Entweder in bar, dann lässt die Justizvollzugsanstalt (JVA) die Gefangenen direkt frei, oder per Überweisung. Letzteres kann allerdings Zeit in Anspruch nehmen und ist daher unsicherer.

Meryem G., 36 Jahre alt, mittlerweile wohnungslos, sitzt wegen Schwarzfahren im Gefängnis. Eigentlich wäre sie bis zum 5. Januar dortgeblieben, denn sie selbst hat keine finanziellen Mittel, ihre Geldstrafe zu bezahlen. Pantisano erklärt, dass es ein Gespräch der Linken-Fraktion mit dem Freiheitsfonds gab. Die Initiative befreit deutschlandweit Menschen, die wegen Fahren ohne Fahrschein im Gefängnis sitzen. Die Forderung ist, die in Paragraf 265a festgeschriebene Straftat im Strafgesetzbuch abzuschaffen. "Das ist ein in der Nazi-Zeit gemachtes Gesetz, das ist schon bezeichnend", sagt Luigi Pantisano.

Der Freiheitsfonds legt Formulare in Gefängnissen aus, mit denen Häftlinge Hilfe beantragen können. In Berlin liegen sie direkt am Eingang. Zu Gefängnissen in Baden-Württemberg und Bayern sei der Kontakt schwierig, sagt Nora Nolle, Pantisanos Pressesprecherin. Die Linken haben alle JVAs in Baden-Württemberg angeschrieben, aber nur Freiburg, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd hätten sich gemeldet. Den Kontakt zu den Gefangenen zu vermitteln, sei Aufwand für die Mitarbeiter:innen der Haftanstalten. Daher brauche es auch dort Menschen, die den Freikauf für eine gute Sache halten, ihn für sinnvoll erachten.

Doch in Schwäbisch Gmünd hat es geklappt. Meryem G. hat den Antrag des Freiheitsfonds ausgefüllt und eingewilligt, dass die Partei die Kosten übernimmt. Zunächst war die Überlegung, sie am 27. November freizukaufen, dem sogenannten Freedom Day der Initiative Freiheitsfonds. "Aber nee", sagt Pantisano. An diesem Tag sollen zwar möglichst viele Menschen, die aufgrund von Schwarzfahren im Gefängnis sind, befreit werden. Doch das hätte weitere 19 Tage Haft für die Frau bedeutet.

In Deutschland sitzen ungefähr 9.000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab, weil sie im ÖPNV ohne Ticket erwischt wurden und die Strafen nicht zahlen konnten. Jeder Hafttag kostet viel Geld. Im Fall von Meryem G. spart der Staat nun 12.000 Euro.

"Rein geht's schnell, aber raus ist schwer"

Um 9.30 Uhr tritt Meryem G. aus der schweren, dicken Gefängnistür. G. sieht fit aus. Und sie ist aufgebracht. Ihre Haare sind zu einem hohen Zopf zusammengebunden, sie trägt einen dunkelblau-türkisfarbenen Trainingsanzug, blaue Nike-Schuhe, ein Piercing unterhalb der Lippe und ein Tattoo auf der Hand mit dem Geburtsdatum ihres Kindes. Über ihrer Schulter hängt eine beige Handtasche, in der Hand hält sie eine knallrote Stofftasche. Das ist ihr ganzes Hab und Gut, alles was sie besitzt. Ihr Koffer ist verlorengegangen, "meine ganzen Papiere sind weg, zum Beispiel meine Steuer-ID und Geburtsurkunde." In den nächsten Tagen wird sie sich um die bürokratischen Dinge kümmern und eine Wohnung suchen.

Es ist nicht ihr erstes Mal in Haft, sie saß mehrere Monate wegen anderer Delikte, dieses Mal kam noch die Ersatzfreiheitsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrschein dazu. "Es ist ein Albtraum gewesen, Schwäbisch Gmünd ist echt ein Fall für sich. Rein geht's schnell, aber raus ist schwer", sagt sie. "Du bist nur eine Nummer. Meine war: 611 2025. Ich habe total stark abgenommen, fünf bis sechs Kilo." Sie wollte dort arbeiten, durfte aber nicht, erzählt sie. Pro Stunde verdiene man im Gefängnis zwischen 1,15 und 1,20 Euro. 34 Euro habe sie als Taschengeld für den ganzen Monat bekommen. Allerdings keine Fahrkarte, mit der sie nach der Entlassung vom Gefängnis zu einer Übernachtungsmöglichkeit kommt – darum hat sich niemand der dort Arbeitenden gekümmert. Pantisano fasst zusammen: "Sie kommt raus, hat kein Geld, muss nach Stuttgart."

Drei Mal ist sie mit dem ICE ohne Ticket gefahren. Allein dafür hätte sie rund zwei Monate in Haft sitzen müssen. Sie wünsche sich, sagt sie, dass Fahren ohne Fahrschein nicht mehr als Straftat angesehen wird. "Ich finde es einfach scheiße, dass man wegen so etwas sitzen muss." Dann lächelt sie, und dabei ist ihre Erleichterung zu spüren, aus dem Gefängnis raus zu sein. Sie freut sich auf den Kontakt zu ihrem Lebensgefährten. "Jetzt bin ich endlich in Freiheit", sagt G. "Vielen, vielen Dank."

Meryem G. möchte schnell weg vom Gefängnis. Von außen sieht es gar nicht so schlimm aus, auf dem Gelände steht eine alte, große Kirche, der Eingang der JVA ist in einem weißen Haus mit hellblauen Fensterklappen. "Ich will gar nicht daran zurückdenken", sagt die Frau. Sie steigt ins Auto der Linken, auf die Rückbank, die Fahrt führt zum Bahnhof Schwäbisch Gmünd. Später erzählt sie, dass die Autofahrt für sie bedrückend gewesen sei in dem engen, geschlossenen Raum.

Wärme am kalten Tag

"Hat jemand von euch eine Powerbank?", fragt sie in die Runde, weil ihr Handy leer ist. Aber ausgerechnet heute hat niemand eine dabei. Pantisano schließt das Kabel des Handys an den USB-Stecker im Auto an. Das Laden braucht länger als gedacht, bei Ankunft am Bahnhof zeigt das Handy nur zwei Prozent an. Zu wenig um zu telefonieren. Drei Linke aus Schwäbisch Gmünd, erkennbar an ihren roten Warnwesten mit Parteilogo, kreuzen den Weg – sie haben eine Powerbank dabei. Kurz darauf telefoniert Meryem G. mit ihrem Freund. Zwar bekommt man in der JVA WebEx-Telefontermine, die haben jedoch kein einziges Mal funktioniert, erzählt G.. Währenddessen löst Luigi Pantisano einen Fahrschein für sie. Für die nächsten Tage wird sie im Neefhaus, einer Frauenunterkunft in Stuttgart, unterkommen.

Am Donnerstag, 13. November will die Fraktion der Linken einen Antrag in den Bundestag einbringen mit der Forderung, den Paragraf 265a abzuschaffen. Wahrscheinlich werde der Antrag abgelehnt, weil es aktuell keine Mehrheit gebe und die SPD unter Schwarz-Rot nicht mehr bereit sei mitzugehen, sind sich die Linken sicher. Vergangene Legislaturperiode habe es tatsächlich eine Mehrheit dafür gegeben – es scheiterte wohl an der vorgezogenen Neuwahl des Bundestags. Unabhängig davon verfolgt der Freiheitsfonds den Plan, dass Fahren ohne Fahrschein in einzelnen Städten nicht mehr als Straftat geahndet wird. In manchen ist das bereits erreicht, auch Freiburg und Karlsruhe sind auf dem Weg dahin. Wenn nur genug mitmachen, wird irgendwann eine ganze Welle daraus, die über ganz Deutschland schwappt. Das ist das Ziel der Ini Freiheitsfonds.

Die Sonne steht inzwischen hoch über Schwäbisch Gmünd, Sonnenstrahlen wärmen den Rücken. Und kurz gerät in Vergessenheit, dass es vor wenigen Stunden noch so kalt und düster war.

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4 Kommentare verfügbar

  • Rainbow-Warrior21
    vor 7 Stunden
    Antworten
    Luigi Pantisano setzt hier ein klares Signal für Menschlichkeit und gegen den fatalen und destruktiven Trend des nach unten tretens .
    Das sollte Schule machen, besonders bei den gewählten Vertreter*innen der anderen demokratischen Parteien !
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