KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Buch über Cem Özdemir

Ein Grüner der Mitte

Buch über Cem Özdemir: Ein Grüner der Mitte
|

Datum:

Bei der kommenden Landtagswahl im Südwesten tritt der bundesweit bekannte Cem Özdemir als Spitzenkandidat für die Grünen an. Über ihn hat Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer mit ihrem Mann Peter Henkel ein Buch geschrieben. "Cem Özdemir: Brücken bauen" nennen sie es. Kontext veröffentlicht einen Auszug.

Immer wichtiger im Leben von Politikern und zumal von Spitzenkandidaten ist die seriöse Nutzung der Möglichkeiten des World Wide Web. Als Cem Özdemir in den USA lebte, waren die Anfänge des Internets zwar schon zwei Jahrzehnte vorüber, doch sein Gebrauch war noch längst kein Massenphänomen. Zurück in Deutschland, legte er sich eine E-Mail-Adresse zu. Passend zu seinem Aufsteiger-Image dieser Jahre besaß er als einer der ersten Politiker eine Webseite, nachdem ihm eine Freundin aus der Werbebranche die schon damals verlockend klingenden Vorteile angepriesen hatte.

Nicht nur Grüne fremdelten beträchtlich mit der epochalen Innovation und lehnten die Einrichtung von Computern in ihren Büros als höchst überflüssig ab. Es war die Zeit, in der über die Volkszählung, über informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz zum Teil heftig debattiert wurde und der bedeutende Tübinger Geistesmensch Walter Jens das entschieden zu kurz gedachte Bonmot vom Internet erfand, das Fragen beantworte, die niemand stellt.

Zur Entstehung des Buchs

Schon vor der Landtagswahl 2021 hatte Winfried Kretschmann mit der Idee geliebäugelt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Ein renommierter baden-württembergischer Verlag hatte deshalb geplant, Cem Özdemir als möglichen Nachfolger zu portraitieren. Das Projekt zerschlug sich fürs Erste, weil Kretschmann doch noch einmal antrat. Manche Vorarbeiten und Recherchen waren da bereits geleistet worden. Bis 1999 hatte Özdemir vier Bücher über sich und seine Erfahrungen in Deutschland geschrieben, danach aber keines mehr. Mit "Brücken bauen" liegt jetzt das erste Buch vor, das seine ganze Vita samt dem steilen Aufstieg zum grünen Parteichef, zum Bundesminister und zum Ministerpräsidentenkandidaten schildert, aber auch Brüche und Niederlagen. Wie kaum ein anderes ist das Leben des Einzelkinds aus türkischem Elternhaus verwoben mit der Geschichte der Bundesrepublik seit den Siebziger Jahren, beginnend mit vielen unschönen Erfahrungen in der Schulzeit, über unzählige Aufs, Abs und wieder Aufs bis zum Stammplatz im Politiker:innen-Ranking mit den meisten Follower:inen in den sozialen Medien.  (red)

Zu den Hoffnungen, die das schier omnipotente Transportmittel alsbald weckte, zählte die Vision von der Verringerung der Distanz zwischen politischen Parteien und dem Wahlvolk, und das in Sekundenschnelle, ohne die Notwendigkeit, die herkömmlichen Medien zu kontaktieren. Die Demokratie, so der optimistische Gedanke, werde Nutznießer der neuen Technologie sein. Vor einem Vierteljahrhundert analysierte die Heinrich-Böll-Stiftung erstmals die politische Kommunikation im Internetzeitalter nach einem Seminar über "Die Zivilisierung des Kampfes um Wählerstimmen" und gab konkrete Tipps aus den Kindertagen: "Machen Sie Ihre Website informativ und halten Sie sie aktuell!"

Nach seinem Wiedereinstieg in die Politik über Brüssel nach Berlin nutzte Özdemir die neuen Möglichkeiten intensiv, schneller und konsequenter als viele Kollegen. Im Spätsommer 2025 hat er 380.000 Follower auf X, mehr als doppelt so viele wie SPD-Parteichef Lars Klingbeil, fast 160.000 auf Facebook und 150.000 auf Instagram. Fachleute verweisen zwar unisono darauf, dass die nicht mit Wählerstimmen zu verwechseln sind. Einig sind sie sich aber auch darüber, dass, wer früh auf soziale Medien gesetzt hat, entscheidend im Vorteil sein kann.

Die digitale Litfaßsäule

Der tagesaktuelle politische Informationsfluss im Netz ist längst kombiniert mit Auskünften über das private und halbprivate Leben. Vorbei die Zeiten, in denen Boulevardzeitungen wichtigstes Instrument waren, um Partnerschaften oder Trennungen bekannt zu machen, mit Prunk- oder ganz bescheidenen Hochzeiten Aufmerksamkeit zu erregen, mit dem eigenen Stil zu punkten und sich in Homestorys mit Familie, Haustieren, Hobbys, Garten, Autos etc. ein bodenständig-volkstümliches, ein glamouröses oder ein wie auch immer geartetes Image zu verschaffen. Heute nutzt, wer etwas auf sich hält, seine eigene digitale Litfaßsäule, längst nicht nur im Showbiz oder in der Welt des Sports.

Für manche Politiker scheint die Imagepflege im Netz kaum Grenzen zu kennen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (540.000 Follower auf X, 340.000 auf Facebook, 770.000 auf Instagram) war dem "Spiegel" im Sommer 2025 sogar eine Titelgeschichte wert zur Frage: "Wie unterhaltsam muss Politik sein?" Beim Kampf um die Macht setze der CSU-Chef auf maximale Sichtbarkeit und Reichweite, so das Nachrichtenmagazin. Sein Credo: Es brauche Unterhaltung, um mit politischen Botschaften überhaupt anzukommen – neuerdings sogar inklusive der eigenen, geschützten Kebab-Marke.

Gerade in der Zeit als Minister nutzte Özdemir seine digitale Popularität, unter anderem um Falschdarstellungen entgegenzutreten, etwa zum Dauerthema Ernährung. Zunächst reiste er mit einem überdimensionierten Kühlschrank, wollte werben für sachgerechtes Einräumen, aber auch für seine Strategie zur Einschränkung ungesunder Lebensmittel für Kinder. Als der Gegenwind beim heiklen Thema immer schärfer wehte, wehrte er sich auf X gegen die munter in und aus Bayern verbreitete Botschaft, er regiere in die Kühlschränke und Küchen der Leute hinein. Eine Viertelmillion Views wurden registriert. Es gab, wie so oft, viel Zuspruch aus der Fachwelt, während Kritiker meinten, die vermeintlichen Steilvorlagen im Netz in ihrem Sinne verwandeln zu müssen.

Wagner und Wehrdienst

Özdemirs Einträge in den ersten Monaten als Spitzenkandidat zeigen, wie er sein Spiel mit der Selbstdarstellung gerade digital austestet. Wenn er erstmals überhaupt auf den Grünen Hügel nach Bayreuth pilgert, um sich mit seiner Lebensgefährtin unter Wagnerianer zu mischen und sechs Stunden lang den Nürnberger Meistersingern hinzugeben, dann ist das ebenso eine Mitteilung wert wie das mittlerweile zweite Praktikum bei der Bundeswehr: Die Bilder vom Minister in Gleichschritt und Tarnanzug machen sich in Zeiten wie diesen sicherlich gut.

Für Bekannt- und Beliebtheit gewiss nicht schlecht ist sein Besuch in Südtirol bei der Bergsteigerlegende Reinhold Messner, der eine Wahlperiode vor ihm als parteiloser Abgeordneter für die Grünen im Europaparlament saß. Özdemir dokumentiert den Gang zum Blutspenden oder sein Aufkreuzen beim VfB Stuttgart, in dessen Stiftungsrat der Fußballfan sitzt. Wer ihm in den sozialen Medien folgt, weiß, dass er bei Spielen nicht in der Promi-Lounge hockt, sondern wohlweislich beim Fußvolk in der Untertürkheimer Kurve. Und in der Wilhelma, dem zoologisch-botanischen Garten in Stuttgart, wird er Schirmherr für die einzige überlebende Säugetiergruppe der Gepanzerten Nebengelenktiere: ein Gürteltier mit der assoziativ ergiebigen Gabe, sich einzukugeln in einen stahlharten Panzer. Der Videoclip bekommt schnell ein paar Tausend Klicks.

Trotz eines Drangs, die Nähe zu Prominenten zu suchen und zu pflegen – "wenn sie was zu sagen haben", schränkt er sogleich ein –, bleibt manches tabu. Seine jahrelange enge Verbindung zu Christoph Daum wird erst nach dessen Krebstod im Sommer 2024 einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er auf der Trauerfeier im Müngersdorfer Stadion spricht und dem Fußballtrainer mit der wechselvollen Karriere in den sozialen Medien nachruft: "Ich hatte das Privileg, Christoph Daum meinen Freund nennen zu dürfen."

Fotos der heranwachsenden Kinder gab es nicht, manch Familiäres berichtete er dann doch voll Stolz: Ende 2018 hatte Özdemir sich auf X vorübergehend abgemeldet mit der Botschaft wiederzukommen. Anfang 2019 war er zurück: "Habe auf 4.380 Metern Höhe über Neujahr mit Tochter und auf dem Pferderücken von Argentinien nach Chile auf den Spuren von San Martin die Anden überquert und Energie für das neue Jahr getankt. Jetzt wieder Online."

Einmal machte der Grüne noch Privateres ganz bewusst publik: ein Bild von seinem ersten Weihnachtsfest in Urach, das in kürzester Zeit 40.000-mal geliket wurde. Zudem startete er eine Attacke auf die "Pegida", die damals in Dresden Montag für Montag Tausende auf die Straße brachte und sich gegen die angebliche Islamisierung des Abendlands wandte. Die Aktion brachte ihm ein Interview mit der "Berliner Morgenpost" ein, in dem er von der Annäherung seiner Mutter Nihal und seines Vaters Abdullah sowie der eigenen Familie ans Fest der Christen erzählte, verbunden mit dem ganz praktischen Vorschlag eines Leitfadens für Gastarbeiter.

Bis heute erkläre kein Buch allen Menschen, die gerade nach Deutschland kämen, "welche Bräuche und Traditionen es gibt oder wie sich Bayern von Sachsen unterscheiden". Das Staatsministerium präsentierte wenig später in Stuttgart das Handbuch "Ankommen – Klarkommen", mit Zeichnungen zu Alltagsgepflogenheiten und Riten "als Türöffner für interkulturelle Gespräche landesweit".

Ein neuer Sound

Gerade weil er ein immer so verlässlicher Vertreter des ohnehin dominierenden Realo-Flügels im baden-württembergischen Landesverband war, steht Cem Özdemir exemplarisch für die Verschiebungen im politischen Koordinatensystem seiner Grünen. Das zeigt sich insbesondere in den für die Gesellschaft und für ihn persönlich so wichtigen Fragen der Ein- und Zuwanderung. Als der Begriff "Migration" noch gar nicht allgemein gebräuchlich war, setzte er sich 1990 als Mitglied des Parteivorstands im Südwesten für eine Quotierung sogenannter "Wirtschaftsflüchtlinge" ein, um Zuzug, Bleibe- und Arbeitsrechte zu ermöglichen. Vor allem die Liberalen im Landtag beklagten die "völlig unakzeptablen Vorschläge", die die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland machen wollten.

Dreieinhalb Jahrzehnte später macht der Industrie- und Handelskammertag den Wahlkämpfern eine bedrohliche Rechnung auf: Bis 2035 drohe den heimischen Betrieben im Land ein wirtschaftlicher Schaden von bis zu 170 Milliarden Euro aufgrund des "ungelösten Fachkräftemangels", da sich die Zahl der gegenwärtig 175.000 unbesetzten Stellen bis dahin verdoppeln könnte.

Ebenfalls schon 1990 bezog Özdemir klare, aber nicht mehrheitsfähige Positionen zum Asyl-Grundrecht und zur Genfer Flüchtlingskonvention. Über beides wollte er nicht mit sich diskutieren lassen. In der Folgezeit ist er es, der einen sehr weiten Weg zurücklegen muss. Der Stil, in dem er das Thema inzwischen abhandelt, lässt zumindest gelegentlich an Äußerungen denken, die eher aus den Reihen von CDU und CSU zu erwarten wären.

"Der Sound der Grünen hat sich verändert", kommentierte Kretschmann die schärfere Gangart einmal ziemlich lakonisch. Sogar als sein möglicher Nachfolger in ungrüner Tonlage die Voraussetzungen benannte, die Flüchtlinge erfüllen müssten, wenn sie an deutsche Grenzen und Türen klopfen, blieb der Ministerpräsident gelassen. Ein Satz wie "Wer einen wertvollen Teil zu unserem Land beitragen kann und will, der ist willkommen" legt die Latte höher, als es von einem Land wie der Bundesrepublik erwartet werden muss. Oder: "Wer nachweislich Schutz sucht, dem helfen wir. Für die anderen haben wir keinen Platz." Oder: "Wer anpackt und die Ärmel hochkrempelt, der gehört bei uns dazu."

Viel Staub wirbelte Özdemir mit seinem Gastbeitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf, in dem er sogar von Erfahrungen seiner Tochter berichtete. Mit ihren Freundinnen in Berlin werde sie "von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert". Von einem Versuch, eine offene und ehrliche Debatte über die Probleme anzustoßen, die mit der Zuwanderung aus anderen Kulturen einhergehen, schrieb der "Spiegel", und wie er "ins Herz des linksliberalen grünen Milieus" gezielt habe.

In Baden-Württemberg kann ein Grüner ohnehin nur erfolgreich sein, indem er wie Kretschmann aus diesem Milieu heraus Positionen bezieht, die die vielzitierte Mitte der Gesellschaft mitträgt. An Erfahrungen, wie das funktioniert, verwoben mit persönlich Erlebtem in fast sechs Jahrzehnten, fehlt es Cem Özdemir jedenfalls nicht.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Jörg Tauss
    vor 13 Stunden
    Antworten
    Wenn schon Buch, dann bitte bei aller Begeisterung über den grünen Militaristen Cem Özdemir ungeschönt: Dessen Aufenthalt in den USA war nicht ganz „freiwillig“. Man zog ihn u.a. nach seiner Bonusmeilen - Thailand- Reise - Affäre aus dem Verkehr.

    Seine darauf folgende Zeit als gesponserter…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!