Zu den Hoffnungen, die das schier omnipotente Transportmittel alsbald weckte, zählte die Vision von der Verringerung der Distanz zwischen politischen Parteien und dem Wahlvolk, und das in Sekundenschnelle, ohne die Notwendigkeit, die herkömmlichen Medien zu kontaktieren. Die Demokratie, so der optimistische Gedanke, werde Nutznießer der neuen Technologie sein. Vor einem Vierteljahrhundert analysierte die Heinrich-Böll-Stiftung erstmals die politische Kommunikation im Internetzeitalter nach einem Seminar über "Die Zivilisierung des Kampfes um Wählerstimmen" und gab konkrete Tipps aus den Kindertagen: "Machen Sie Ihre Website informativ und halten Sie sie aktuell!"
Nach seinem Wiedereinstieg in die Politik über Brüssel nach Berlin nutzte Özdemir die neuen Möglichkeiten intensiv, schneller und konsequenter als viele Kollegen. Im Spätsommer 2025 hat er 380.000 Follower auf X, mehr als doppelt so viele wie SPD-Parteichef Lars Klingbeil, fast 160.000 auf Facebook und 150.000 auf Instagram. Fachleute verweisen zwar unisono darauf, dass die nicht mit Wählerstimmen zu verwechseln sind. Einig sind sie sich aber auch darüber, dass, wer früh auf soziale Medien gesetzt hat, entscheidend im Vorteil sein kann.
Die digitale Litfaßsäule
Der tagesaktuelle politische Informationsfluss im Netz ist längst kombiniert mit Auskünften über das private und halbprivate Leben. Vorbei die Zeiten, in denen Boulevardzeitungen wichtigstes Instrument waren, um Partnerschaften oder Trennungen bekannt zu machen, mit Prunk- oder ganz bescheidenen Hochzeiten Aufmerksamkeit zu erregen, mit dem eigenen Stil zu punkten und sich in Homestorys mit Familie, Haustieren, Hobbys, Garten, Autos etc. ein bodenständig-volkstümliches, ein glamouröses oder ein wie auch immer geartetes Image zu verschaffen. Heute nutzt, wer etwas auf sich hält, seine eigene digitale Litfaßsäule, längst nicht nur im Showbiz oder in der Welt des Sports.
Für manche Politiker scheint die Imagepflege im Netz kaum Grenzen zu kennen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (540.000 Follower auf X, 340.000 auf Facebook, 770.000 auf Instagram) war dem "Spiegel" im Sommer 2025 sogar eine Titelgeschichte wert zur Frage: "Wie unterhaltsam muss Politik sein?" Beim Kampf um die Macht setze der CSU-Chef auf maximale Sichtbarkeit und Reichweite, so das Nachrichtenmagazin. Sein Credo: Es brauche Unterhaltung, um mit politischen Botschaften überhaupt anzukommen – neuerdings sogar inklusive der eigenen, geschützten Kebab-Marke.
Gerade in der Zeit als Minister nutzte Özdemir seine digitale Popularität, unter anderem um Falschdarstellungen entgegenzutreten, etwa zum Dauerthema Ernährung. Zunächst reiste er mit einem überdimensionierten Kühlschrank, wollte werben für sachgerechtes Einräumen, aber auch für seine Strategie zur Einschränkung ungesunder Lebensmittel für Kinder. Als der Gegenwind beim heiklen Thema immer schärfer wehte, wehrte er sich auf X gegen die munter in und aus Bayern verbreitete Botschaft, er regiere in die Kühlschränke und Küchen der Leute hinein. Eine Viertelmillion Views wurden registriert. Es gab, wie so oft, viel Zuspruch aus der Fachwelt, während Kritiker meinten, die vermeintlichen Steilvorlagen im Netz in ihrem Sinne verwandeln zu müssen.
Wagner und Wehrdienst
Özdemirs Einträge in den ersten Monaten als Spitzenkandidat zeigen, wie er sein Spiel mit der Selbstdarstellung gerade digital austestet. Wenn er erstmals überhaupt auf den Grünen Hügel nach Bayreuth pilgert, um sich mit seiner Lebensgefährtin unter Wagnerianer zu mischen und sechs Stunden lang den Nürnberger Meistersingern hinzugeben, dann ist das ebenso eine Mitteilung wert wie das mittlerweile zweite Praktikum bei der Bundeswehr: Die Bilder vom Minister in Gleichschritt und Tarnanzug machen sich in Zeiten wie diesen sicherlich gut.
Für Bekannt- und Beliebtheit gewiss nicht schlecht ist sein Besuch in Südtirol bei der Bergsteigerlegende Reinhold Messner, der eine Wahlperiode vor ihm als parteiloser Abgeordneter für die Grünen im Europaparlament saß. Özdemir dokumentiert den Gang zum Blutspenden oder sein Aufkreuzen beim VfB Stuttgart, in dessen Stiftungsrat der Fußballfan sitzt. Wer ihm in den sozialen Medien folgt, weiß, dass er bei Spielen nicht in der Promi-Lounge hockt, sondern wohlweislich beim Fußvolk in der Untertürkheimer Kurve. Und in der Wilhelma, dem zoologisch-botanischen Garten in Stuttgart, wird er Schirmherr für die einzige überlebende Säugetiergruppe der Gepanzerten Nebengelenktiere: ein Gürteltier mit der assoziativ ergiebigen Gabe, sich einzukugeln in einen stahlharten Panzer. Der Videoclip bekommt schnell ein paar Tausend Klicks.
Trotz eines Drangs, die Nähe zu Prominenten zu suchen und zu pflegen – "wenn sie was zu sagen haben", schränkt er sogleich ein –, bleibt manches tabu. Seine jahrelange enge Verbindung zu Christoph Daum wird erst nach dessen Krebstod im Sommer 2024 einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er auf der Trauerfeier im Müngersdorfer Stadion spricht und dem Fußballtrainer mit der wechselvollen Karriere in den sozialen Medien nachruft: "Ich hatte das Privileg, Christoph Daum meinen Freund nennen zu dürfen."
1 Kommentar verfügbar
-
Antworten
Wenn schon Buch, dann bitte bei aller Begeisterung über den grünen Militaristen Cem Özdemir ungeschönt: Dessen Aufenthalt in den USA war nicht ganz „freiwillig“. Man zog ihn u.a. nach seiner Bonusmeilen - Thailand- Reise - Affäre aus dem Verkehr.
Kommentare anzeigenJörg Tauss
vor 9 StundenSeine darauf folgende Zeit als gesponserter…