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Angestarrt und unsichtbar

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Sie ist rund, sie eckt damit an, und sie traut sich was. In der Stuttgarter Oper "Platée" steht die Studentin Conny Eilenstein als weiblicher Bacchus auf der Bühne. Wohlbeleibt, wohllüstig und nackt. Eine Statistenrolle, die unerwartet Gewicht bekommt – und nicht nur zum Pausengespräch wird.

Theater ist für mich komprimierter Alltag: Conny Eilenstein vor dem Bühnenbild zu Platée.Sie ist rund, sie eckt damit an, und sie traut sich was. In der Stuttgarter Oper "Platée" steht die Studentin Conny Eilenstein als weiblicher Bacchus auf der Bühne. Wohlbeleibt, wohllüstig und nackt. Eine Statistenrolle, die unerwartet Gewicht bekommt – und nicht nur zum Pausengespräch wird.

Diese junge Frau ist es gewohnt, angestarrt zu werden. Wenn Conny Eilenstein in ihrem Heimatort Weimar durch die Straßen geht, spürt sie diese tastenden Blicke auf ihrem Körper, die sie taxieren und ihr Gewicht scannen, und sie weiß, dass hinter diesen fremden Augen ein ganzer Film an Fragen und Wertungen abläuft. Kann die so gehen? Warum isst die so viel? Wo kauft die wohl ihre Kleider? Nicht eben selten passiert es, dass Passanten stehen bleiben oder hinter ihr her starren wie hinter einer Erscheinung. Wenn sie gut drauf ist, dreht sich die junge Frau um und fragt: "Möchten Sie ein Autogramm?"

Kürzlich hat sie ein Wispern im Rücken gehört, als sie an der U-Bahn-Haltestelle stand. "Das ist doch die Dicke aus der Oper." Da hat sie sich nicht umgedreht. Es gibt in jedem Leben gute und schlechte Tage. Im Grunde steht diese Frau, die jedes Korsett sprengt, Tag für Tag auf der Bühne. "Theater ist für mich komprimierter Alltag", sagt die Frau, die auf der Bühne Bacchus ist, "ich versuche, in der bestmöglichen Art und Weise, ich selbst zu sein."

Noch ungeschminkt sitzt Conny Eilenstein im Sitzungszimmer der Stuttgarter Oper, weites schwarzes T-Shirt, weite Hose, zartes Gesicht und zarte Hände, bereitwilliges Lachen und vorsichtige Augen. In wenigen Stunden wird die 31-Jährige in der Maske wieder in Bacchus verwandelt werden. Mit rotgeschminktem Erdbeermund, nur bekränzt vom Rebentanga, wird sie in überbordender Nacktheit über die Bühne schreiten, fast gelangweilt die Huldigungen der Sänger und des Chors entgegennehmen, wird Kaugummi kauend und Nägel feilend manchen Zuschauer mit ihrem raumgreifenden Anderssein provozieren.

"Zu Hause höre ich immer: Du bist schön"

Doch noch sitzt hier die Studentin, die eine Statistenrolle angenommen hat, eine Frau, die sich fast ihr Leben lang mit festgefügten Wertungen von Schönheit und Normalität herumgeschlagen hat und dabei lebensklug und souverän geworden ist. Jung sieht sie aus, viel jünger als 31. "Wir kriegen keine Falten", sagt sie munter , "das ist der Vorteil von uns Korpulenten." Korpulent sagt sie, von großem Format spricht sich, von füllig. Aber nie sagt sie fett oder dick. Fett, das ist das Schimpfwort der Anderen, der scheinbar Normalen.

Hat sie sich nie ausgestellt gefühlt, wie in vielen Pausengesprächen und Kritiken angeklungen ist, als Freak in einer Jahrmarktshow, in der alles, was aus dem Rahmen des Normalen fällt, als Hässlichkeit zum Amüsement freigegeben wird? Conny Eilenstein legt den Kopf in die Hand und lächelt. "Dann hätte ich die Rolle nicht angenommen", sagt sie schlicht. Und außerdem: zu Hause höre sie immer: "Du bist schön." Zu Hause? "Bei meiner Frau", sagt sie und lacht. Vor genau drei Monaten hat sie ihre langjährige Freundin geheiratet, wohnt jetzt mit Frau und Mutter in einer Wohnung in Weimar und ist mit sich im Reinen. Die Lebensgefährtin sieht Conny als Bacchus heute, zum dreimonatigen Hochzeitstag, zum ersten Mal auf der Bühne. "Du warst toll, und du sahst super aus", wird sie danach sagen.

Dass Schönheit im Auge der Betrachterin liegt, weiß Conny Eilenstein schon lange: "Ich muss nicht für jeden attraktiv sein, wenn ich da auf der Bühne stehe." Die Frau mit den XXL-Maßen hat gelernt, mit ihren Körper zu leben. Doch wie jede Frau findet auch sie an sich hässliche Teile. Sie tröstet sich damit, dass auch dünne Frauen unter Orangenhaut leiden.

Verrenkungen unterm gnadenlosen Schlankheitsdiktat

Es ist ein Kreuz mit der Schönheit. Diesem gnadenlosen gesellschaftlichen Diktat, das vor allem Frauen in die absurdesten Verrenkungen führt. Dieses Schönheitsideal, von dem Exmodell Nadja Auermann sagt, es sei krank. Das keine Frau erreichen kann, weshalb auch die Schönen sich am Operationstisch zurechtschneiden lassen, Modells am Computer perfektioniert werden und sogar eine Julia Roberts in "Pretty Woman" in der Badewanne ein Fußdouble braucht. Von den unzähligen Schlankheitskuren ganz zu schweigen.

Mit jedem Gramm ihres Körpergewichts signalisiert Conny Eilenstein: Ich bin schön.Auch Conny Eilenstein hat schon sinnlose Diäten hinter sich, sinnlose Quälereien. Sie weiß die Anzahl genauso wenig wie ihr derzeitiges Gewicht. Als sie vor wenigen Tagen in Stuttgart eine neue Hose gekauft hat, stellte sie fest, dass sie zwei Nummern kleiner war. Der Spaß, den sie auf der Bühne hat, scheint die beste Diät zu sein. Es mag nur Theater sein, und sie spielt nur eine Nebenrolle. Doch in dieser Rolle signalisiert sie mit jedem Gramm ihres nicht unbeträchtlichen Körpergewichts: Ich bin schön.

Selten erregt eine Statistenrolle so viel Aufmerksamkeit. Es hat ihr geschmeichelt, einerseits, weil sie viel Lob und Ermunterung von den BühnenkollegInnen erfahren hat. Es hat sie verletzt, andrerseits, was da an Gehässigkeiten in den Zeitungen stand, "ein echter Busenalptraum als Bacchus" etwa oder "moralisch grenzwertig ist es, eine übergewichtige Statistin barbusig vorzuführen". "Natürlich hat das wehgetan", sagt Conny Eilenstein. Eine starke Frau muss die eigene Verletzlichkeit nicht überspielen. Doch sie braucht auch Schutz. Bilder des nackten Bacchus sind nirgendwo im Internet zu finden und auch nicht in diesem Artikel. "Wir wollen nicht, dass sie im Netz auf einschlägigen Pornoseiten kursieren", sagt Pressesprecherin Sara Hörr.

Verzweifelte Suche nach einer Frau mit Format

In Stuttgart haben die Opernmacher eine dicke Frau gesucht, die sich wohlfühlt in ihrer Haut. Sie sollte die Urmutter sein, die Urgöttin, aus ihren nackten Brüsten sollte die Muttermilch der Kunst fließen. "Wir haben monatelang nach diesem göttlichen Wesen gesucht", sagt Produktionsdramaturg Patrick Hahn. Unter den eigenen Statisten. Im Bekanntenkreis. In der Boutique für Übergewichtige. In der Arztpraxis für Adipöse. Und in der Verzweiflung auch in einschlägigen Erotik-Etablissements. Patrick Hahn lacht. Mitten in seine kulturellen Erläuterungen von Urgöttin und Hedonismus, von Schein und Sein und der kulturellen Bedingtheit von Schönheit platzte schon mal ein Klingeln und die schnöde Unterbrechung seiner erklärenden Ausflüge: "Entschuldigung, ich muss auflegen, jetzt kommt ein Kunde." Patrick Hahn seufzt. "Es ist ein Glück, dass wir Conny gefunden haben." Und zwar erst kurze zweieinhalb Wochen vor der ersten Probe.

Conny wusste, wovon Patrick Hahn und Regisseur Calixto Bieito sprachen. Sie kennt die kulturelle Bedingtheit von Schönheitsidealen. "In Afrika wäre ich die Göttin", sagt die Studentin der Kulturanthropologie. Was ist schön, was ist hässlich? Diese Frage stellt sich auch in der Kulturgeschichte der Menschheit immer wieder neu. Diese Radikalkur fürs magersüchtige Schönheitsideal, die Regisseur Calixto Bieito dem Stuttgarter Publikum verordnet, hat der studentischen Statistin Spaß gemacht. Schließlich schlägt sich die 31-Jährige damit schon seit 20 Jahren herum. Sie war elf Jahre alt, als ihr Vater starb. Ganz plötzlich. Herzinfarkt. Sie hat sich einen Panzer angegessen, hat sich gegen den Schmerz gewappnet, wollte ihren verwundeten Kern schützen. "Aber keiner, der mich anstarrt, macht sich die Mühe, dahinter zu schauen", sagt Conny Eilenstein. Dieses Abprallen an der Oberfläche stört sie schon lange.

"Je mehr ich wurde, umso unsichtbarer wurde ich für andere"

Sie war so oft die Außenseiterin, deren Äußeres zu Kurzschlüssen und Vorurteilen führt. Nach zwei abgebrochenen Studiengängen hat sie versucht, einen Job zu bekommen. Als Rechtsanwaltsgehilfin, weil sie Jura studiert hat. Als Bürokraft, weil sie mit Politikwissenschaften eh alles werden kann. Wenn sie mal zum Vorstellungsgespräch geladen wurde, lief es meist gleich ab. Die Bewerber saßen draußen, ein junger Mann rief ihren Namen auf und als sie aufstand, sah sie, wie hinter seinen Augen ein Rollladen nach unten rauschte, auf dem stand: "Dick und dumm." Dann wusste sie, dass das Gespräch nicht länger als fünf Minuten dauern und sie den Job nicht bekommen würde. Ein paar weitere Diskriminierungen gefällig? Bitte schön: Dicke sind nicht nur dumm, sie sind auch Klimasünder, belasten die Krankenkassen und verletzen die Ästhetik. Heutzutage ist dünn Trumpf.

Als Bacchus auf der Bühne: verehrt, begehrt und besungen. Foto: A. T. SchaeferIn ihrer Rolle als Bacchus wird Conny Eilenstein verehrt. Und auf der Bühne ist sie es, die das Konzept in der Hand hält. Die Welt des Scheins mag Illusion sein, aber sie birgt auch die Möglichkeit, hinter die Oberfläche zu schauen. "Das Paradoxe in meinem Leben", sagt Conny Eilenstein, "ist doch: Je mehr ich wurde, umso unsichtbarer wurde ich für andere."

Im wirklichen Leben studiert Bacchus Kulturanthropologie

Inzwischen hat Conny Eilenstein ihre Rolle im wirklichen Leben gefunden. Das Bachelor-Studium der Kulturanthropologie in Jena hat sie inzwischen abgeschlossen, "ich wollte mich nie festlegen", sagt sie, "jetzt kann ich alles machen, von der Kulturgeschichte des Turnschuhs bis zur Feierkultur der Theater." Ihre Arbeit hat sie geschrieben zum Thema "Wenn Schwiegertöchter Schwiegermütter werden", sie wurde mit einer eins bewertet. Darauf ist sie stolz. Inzwischen schließt sie den Master an, steckt mitten in den Klausuren, fährt zur Aufführung nach Stuttgart und schreibt einen Tag später in Jena die Klausur. Thema: "Kulturgeschichte der Sexualität". Bacchus lacht. Passt doch.

Ihre Leidenschaft ist das Theater. Seit elf Jahren arbeitet sie im deutschen Nationaltheater in Weimar als Garderobiere. Und einmal war sie die Kurtisane mit der Rubensfigur. So haben sie auch die Stuttgarter Opernleute entdeckt. Was sie gelernt hat als Bacchus? "Dass jemand von meinem Format beeindrucken kann", sagt Conny Eilenstein. Man wird auch einzigartig, wenn man aus dem engen Förmchen der Norm fällt. Aber jetzt muss sie wirklich in die Maske.

 

Die Oper „Platée“ von Jean-Philippe Rameau wird im kommenden Jahr wieder auf die Bühne der Stuttgarter Oper kommen, und zwar am 4., 14., 23. und 28. Juni und im Juli 2013 am 2., 11. Und 15. Karten können jetzt schon bestellt werden.


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