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Wem gehört Stuttgart

Ein blinder Fleck

Wem gehört Stuttgart: Ein blinder Fleck
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Bei den Wohnkosten belegt Stuttgart seit Jahren einen Spitzenplatz. Mitunter ist aber gar nicht klar, wem die Häuser in der Stadt überhaupt gehören. Eine Gruppe Studierender stellt nun die Eigentumsfrage.

Wem gehört die Stadt? Ganz neu ist diese Frage nicht, aber in Stuttgart offenbar besonders beliebt. Unter diesem Titel lud im vergangenen Juli die baden-württembergische Akademie der Jugendarbeit zur Diskussion ins Stadtpalais, der Verein Stadtlücken startete dazu 2016 eine monatliche Veranstaltungsreihe mit verschiedenen Gruppen aus der Zivilgesellschaft. Und schon 2010 erschien aus dem Umfeld der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 ein Sammelband, der die Frage auf dem Cover platzierte. "Wem gehört die Stadt?", wollte Autor Tomo Pavlovic nach den Ausschreitungen der sogenannten Krawallnacht wissen und machte in einem Beitrag für die "Stuttgarter Zeitung" klar, dass er sie nicht den Säufern und Feiernden überlassen wollte. "Wem gehört die Stadt?", fragt auch das Architekturmagazin "Marlowes", ebenso wie das "Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg". Doch trotz des anhaltenden Interesses aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen bleibt verblüffend unklar: Ja, wem genau eigentlich?

Jüngst unternahmen Architektur und Stadtplanung Studierende der Universität Stuttgart einen Anlauf, mehr Klarheit über die Eigentumsverhältnisse in der Stadt zu schaffen und warfen dabei einen Blick auf den Immobilienmarkt. Ihre Recherche-Ergebnisse stellten sie vor wenigen Tagen im Württembergischen Kunstverein vor – wobei die Erkenntnisse, wie die Beteiligten selbst betonten, mit Vorsicht genossen werden müssen. Die Datenlage ist dürftig, der Zensus der Stadt, der als Grundlage dient, stammt noch aus dem Jahr 2011, und neuere Angaben müssten "aus verschiedenen Quellen mühsam zusammengetragen werden", heißt es in der Broschüre zum Projekt. Zudem habe sich die Bereitschaft der Behörden, aktualisiertes Material bereitzustellen, in Grenzen gehalten, wie eine Referentin ausführt (wobei, unabhängig von der studentischen Recherche, Ende dieses Jahres ein neuer Zensus erscheinen soll).

Die gewonnenen Informationen sind also nicht bis auf die Nachkommastelle belastbar, aber geeignet, um Größenordnungen abschätzen zu können und Trends zu erfassen. Klar wird dabei zumindest: Stuttgart gehört nur sehr bedingt den Menschen, die in der Stadt wohnen. Während die Eigentumsquote in Deutschland verglichen mit der europäischen Nachbarschaft ohnehin gering ausfällt, liegt sie in Stuttgart mit 32 Prozent besonders niedrig – der Großteil lebt zur Miete. Laut den studentischen Recherchen habe der Anteil von Eigentümer:innen, die ihre Wohnung oder ihr Haus nutzen, um selbst darin zu leben, in den vergangenen Jahren abgenommen: von 92.033 Selbstnutzer:innen im Jahr 2011 auf aktuell 81.330.

Wohnamtsleiter ist vom Marktglauben abgefallen

Zugleich habe es eine Zunahme beim Marktanteil der börsennotierten Immobilienkonzerne gegeben, wobei die Angabe von aktuell 1,74 Prozent sehr gering im Vergleich mit beispielsweise Berlin ausfällt. Dort besitzt allein die Vonovia etwa neun Prozent der Wohnungen. Auch in Stuttgart ist der Immobilienriese mit 4500 Einheiten die einflussreichste Aktiengesellschaft am Wohnungsmarkt, als börsennotierte Konkurrenz konnten hier lediglich die Patrizia SE mit etwa 300 Wohnungen und die Dinkelacker AG mit 500 bis 700 Wohnungen ausfindig gemacht werden. Bei insgesamt knapp 318.000 Wohnungen in der Stadt fällt das nicht so stark ins Gewicht.

Schludrige Broschüre

Die studentische Broschüre "Wem gehört Stuttgart?" leistet wichtige Arbeit, indem sie eine Leerstelle beleuchtet – aber sie macht es einem nicht leicht, sie als Quelle anzuführen. Generell ist das Werk orthographisch ausbaufähig, Kommas wurden sehr sparsam gesetzt, in Textpassagen angeführte Zahlen stimmen nicht immer mit den begleitenden Balken- und Tortendiagrammen überein. Teils wurde an den falschen Stellen auf Leerzeichen verzichtet, chaotische Zustände auch bei der Groß- und Kleinschreibung. Die Passage über die städtische Wohngesellschaft SWSG macht stutzig, weil hier die Fehler fehlen und sie sich ziemlich werblich liest. Tatsächlich ist sie über weite Strecken wortgleich mit der Selbstbeschreibung auf der SWSG-Website ("Die Aktivitäten des Unternehmens basieren auf dem sozialen Auftrag der SWSG, der im Gesellschaftsvertrag verankert ist. Dabei gründet sich der unternehmerische Erfolg der SWSG auf ihrem nachhaltigen Wirtschaften in sozialer, ökologischer und ökonomischer Dimension sowie einem gesellschaftlich verantwortungsvollen Handeln."). (min)

Die allermeisten Vermietungen in Stuttgart finden offenbar abseits des Finanzmarktes statt – können aber auch für GmbHs oder andere privatwirtschaftliche Unternehmen extrem lukrativ sein. Die Vermögensmanager von Vema Stuttgart werben exemplarisch: "Das höchste Gut des Immobilienbesitzers ist der Wert seiner Immobilie. Diesen Wert zu mehren, diesen Wert wertvoller zu machen, ist die Aufgabe, der wir uns täglich stellen."

Die Freuden der einen sind das Leid der anderen: Dass der Wohnungsmarkt enorm angespannt ist, räumt Thorsten Donn offen ein. Der Leiter des Amts für Stadtplanung und Wohnen in Stuttgart sitzt im Anschluss an die Präsentation der studentischen Recherchen auf einem Podium und führt aus, dass "wir alle" in den 1980er Jahren, im Zuge der neoliberalen Welle, den Staat verteufelt hätten und glaubten, der Markt würde Probleme generell besser regeln. Heute hält er das mit Blick aufs Wohnen für einen Irrglauben.

Doch eine Korrektur fällt schwer, nun, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist. Ebenfalls an der Diskussion beteiligt ist Angela Barazzutti, die in einer Wohnung der städtischen SWSG lebt, sich seit vier Monaten in Mieter:inneninitiativen engagiert und einen langen Katalog von Problemen auflisten kann, die die Betroffenen belasten: Von Mieten, die allgemein zu hoch, und Löhnen, die generell zu niedrig sind, über zugige und schlecht gedämmte Behausungen bis zu Schimmel, der nicht entfernt wird, oder Modernisierungskosten, die auf Mieter:innen umgelegt werden, um denen, die sich den Hausbesitz leisten können, eine Wertsteigerung ihrer Immobilie zu finanzieren.

Stadt will zum Wohnungstausch animieren

Ihre Diskussionspartner:innen haben ein paar Strategien, die Milderung versprechen. Donn von der Stadt verweist darauf, dass die Wohnungen in Stuttgart nicht nur teuer, sondern auch schlecht verteilt sind. Die Stadt arbeite daher daran, Menschen zum Wohnungstausch zu animieren, etwa wenn sie nach dem Tod einer Partnerin oder eines Partners mehr Fläche haben, als sie brauchen. Er spricht auch an, dass die Stadt entschiedener gegen Leerstand und Zweckentfremdung vorgehen könnte – wenn es mehr Personal gäbe, dass sich darum kümmern würde. Christoph Trautvetter, der als externer Projektleiter der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema "Wem gehört die Stadt?" forscht, plädiert für eine Reform der Erbschaftssteuer, um mehr staatliche Maßnahmen auf dem Wohnungsmarkt zu finanzieren.

Grundsätzlicher wird Hannes Rockenbauch, seit 2004 Stadtrat in Stuttgart für das ökosoziale Bündnis SÖS. Sie würden das Ziel einer "revolutionären Kommunalpolitik" verfolgen, sagt Rockenbauch, und ein Teil davon sei, dass Naturressourcen wie Wasser, Boden und Luft generell keine Waren sein sollten. Heruntergebrochen auf die Handlungsmöglichkeiten einer Stadt befürwortet er eine aktivere Bodenpolitik, genauere Vorschriften in Genehmigungsverfahren für Bauprojekte und generell das Prinzip: Sanierung vor Neubau (2016 kommentierte der inzwischen verstorbene Architekt Roland Ostertag den städtischen Umgang mit vorhandenen Bauwerken in einem lesenswerten Gastbeitrag für die "Stuttgarter Zeitung" mit: "Abriss-Furor und kein Ende in Sicht." Seine Befunde sind noch heute gültig).

Gerade mit Blick auf die Öko-Bilanz des Bauens und Wohnens erweitert sich das Problemfeld neben zu hohen Kosten dramatisch. Laut einer Schätzung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft liegt der Anteil der bau- und gebäuderelevanten Treibhausgasemissionen in der Bundesrepublik bei 40,6 Prozent (Stand 2020). Während die energetische Sanierung des vorhandenen Bestands dringend überfällig wäre, ist insbesondere der betonbasierte Neubau ein Klimakiller. Auch das nährt die Zweifel, ob sich die Probleme am Wohnungsmarkt durch das nicht nur in der Immobilienlobby beliebte Mantra "Bauen! Bauen! Bauen!" wirklich beheben lassen. Stadtrat Rockenbauch wie auch Mietaktivistin Barazzutti rufen vor diesem Hintergrund beide dazu auf, den Druck auf die Politik zu erhöhen und sich in entsprechenden Bewegungen zu organisieren.


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