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Digitalisierung

Wettlauf mit den Platinen

Digitalisierung: Wettlauf mit den Platinen
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Bei der Digitalisierung wird das große "Wir" bemüht, das Chancen ergreifen und Risiken vermeiden solle. Der Sozialwissenschaftler Peter Schadt hat sich angeschaut, wer genau davon profitiert, wenn Roboter die Belegschaft einer Fabrik ersetzen.

"Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, dass alle Menschen sicher und behaglich leben können", schrieb einmal Betrand Russell. "Wir haben es stattdessen vorgezogen, dass sich manche überanstrengen und andere verhungern." 80 Jahre, nachdem der Philosoph die Frage aufgeworfen hatte, ob die energiegeladen Arbeitsamen "nicht irgendwann einmal gescheit werden" wollten, lässt sich das mit einem klaren Nein beantworten: Trotz spektakulärer Produktivitätssteigerungen und ungeahnter Effizienzmaximierung auf dem Gebiet der Technik gelten auch 2022 rund zehn Prozent der Weltbevölkerung als unterernährt, während der Burnout in Wohlstandszentren wie der Bundesrepublik zur Volkskrankheit avanciert. Radikale Verkürzungen der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit zu fordern, ist in den politischen Diskussionen eine eher randständige Position, dafür drängen insbesondere arbeitgebernahe Organisationen auf die Rente ab 70 und die 42-Stunden-oder-noch-mehr-Woche.

Peter Schadt, Jahrgang 1988, studierte empirische Politik- und Sozialforschung in Stuttgart und promovierte 2021 an der Universität Duisburg Essen zur "Digitalisierung der deutschen Autoindustrie". Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart und seit 2017 Gewerkschaftssekretär bei dem DGB Region Stuttgart. 

Mit der Digitalisierung zeichnet sich nun schon seit geraumer Zeit ab, wie erneut ein großer Teil menschlicher Arbeit durch technische Innovation überflüssig gemacht wird. Studien zufolge stehen bis zu die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Bundesrepublik durch die Digitalisierung zur Disposition. Doch wenn etwa Altkanzlerin Angela Merkel über die Digitalisierung Europas sagt, "dort, wo wir abgeschlagen oder zurückgefallen sind, müssen wir unsere Kräfte bündeln, um darauf die richtigen Antworten zu finden" – wer genau ist dann eigentlich mit "wir" gemeint und was genau ist richtig? 

Der Sozialwissenschaftler Peter Schadt, wohnhaft in Reutlingen, hat sich genauer angeschaut, wer von der Digitalisierung profitiert – und identifiziert den Konflikt um die voranschreitende Automatisierung der Arbeit als Klassenfrage. In einem schlanken Taschenbuch hat er seine Beobachtungen und Thesen auf 118 Seiten zusammengefasst. Aufschlussreich ist die Lektüre schon deshalb, weil einer Fußnote zu entnehmen ist, warum das Wort "Technologie" im alltäglichen Sprachgebrauch so gut wie immer falsch verwendet wird: "Es ist der Begriff der Technik, der die Maschinen, Geräte und Apparate der Digitalisierung umfasst. 'Technologie' beschreibt dagegen die Wissenschaft über und von der Technik."

Alles soll vernetzbar sein, nichts ist kompatibel

Die Haltung, die Schadt gegenüber der Digitalisierung einnimmt, ist kritisch, aber nicht technikfeindlich. An keiner Stelle wird suggeriert, dass ein Leben ohne Maschinen und Computer grundsätzlich erstrebenswerter wäre und nirgends werden Roboter per se als Teufelszeug verunglimpft. Vielmehr führt der Autor anhand einer Reihe von Anschauungsmaterial aus der modernen Arbeitswelt vor, wie die kapitalistische Konkurrenzlogik dazu führt, dass Innovationen, die das Potenzial hätten, den menschlichen Alltag zu erleichtern, stattdessen für haufenweise Unsinn eingesetzt werden.

Ein kurioses Beispiel für die Zerrissenheit von Unternehmen im Zuge der Digitalisierung ist die "Konkurrenz um den Standard": Eigentlich wäre es für die Ausschöpfung technischer Potenziale erstrebenswert, wenn möglichst alle Maschinen und Geräte miteinander kommunizieren könnten. Aber: "Der Wunsch nach lückenloser Vernetzung der Betriebsabläufe trifft auf geschäftsbedingte Inkompatibilität ihrer Produkte." Einige Anwendungen funktionieren auf bestimmten Betriebssystemen weniger gut oder überhaupt nicht, ein USB-Kabel ist ungeeignet, damit ein iPhone aufzuladen. Je nach Stellung eines Unternehmens kann sich die Nicht-Kompatibilität als Vor- oder Nachteil erweisen. Das Unternehmen Apple sei laut Schadt das wohl bekannteste Beispiel für eine Exklusivitätsstrategie: "Die Idee: Unter Ausnutzung der eigenen Marktmacht wird davon ausgegangen, dass die Begrenzung der eigenen Kompatibilität mehr Schaden für die Konkurrenz als für das eigene Geschäft bedeutet."

Wenn es in der Marktwirtschaft zu Kooperation zwischen Unternehmen kommt, etwa um einen gemeinsamen Standard zu etablieren, ist diese Zusammenarbeit nach Schadt "nicht das Gegenteil der Konkurrenz, sondern ein Mittel in ihr": mit dem Ziel, durch den Zusammenschluss überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben oder zu werden. Dabei von einer Interessengemeinschaft auszugehen, erscheint aber ebenso deplatziert wie einer gesamten Bevölkerung beim Thema der Digitalisierung einheitliche Ziele anzudichten. Hier von einem "Wir" zu sprechen, fasst Schadt zufolge "diejenigen, die die Digitalisierung ins Werk setzen, um bezahlte Arbeit überflüssig zu machen, und diejenigen, die da überflüssig gemacht werden, als Kollektiv zusammen". Von gemeinsamen Chancen und Risiken zu reden, entpuppe sich "als Nebelkerze, wenn die Chance des Eigentümers auf Extraprofit das Risiko der Lohnabhängigen ist, gar nicht mehr gebraucht zu werden".

Mein Chef ist jetzt der Algorithmus

Im Kern geht es bei der Digitalisierung also um die Fortschreibung eines unternehmerischen Evergreens seit Anbeginn der Industrialisierung: Im Dienste des maximalen Profits soll der Anteil menschlicher Arbeit innerhalb des Produktionsprozesses minimiert werden. Der in diesem Kontext geläufige Begriff der "Rationalisierung" beschreibe dabei eigentlich die Durchsetzung von Kapitalinteressen zu Lasten der Beschäftigten. Das Wort sei daher beides: "Einerseits sehr unpassend, weil die Beschäftigten mit diesem beschönigenden Argument entlassen werden oder ihre Arbeit verdichtet wird. Andererseits auch sehr passend, weil es zur hier gültig gemachten Sorte Rationalität passt." Also zu einer Art Vernunft, die als Ideal auf die "menschenleere Fabrik" zustrebe.

Doch sind dabei nicht alle Arbeitsplätze gleichermaßen bedroht. "Damit Roboter anstelle von Beschäftigten eingesetzt werden, muss sich das für den Unternehmer lohnen", argumentiert Schadt und verweist darauf, dass sich der Einsatz von und damit Ersatz durch Roboter "gerade dort, wo die Arbeit besonders schwer und schlecht bezahlt ist", am wenigsten lohne. So sei etwa der Beruf der Näherin in Bangladesch nicht überflüssig geworden, obwohl der elektronische Webstuhl schon im 18. Jahrhundert erfunden worden ist. "Die Konsequenz dieser Sorte kapitalistischer Rationalität besteht also darin, dass gerade jene Berufe, die besonders dreckig, ungesund und schlecht bezahlt sind, nicht durch technische Errungenschaften ersetzt werden."

Doch damit nicht genug: Für verbleibende Arbeitsplätze können sich die Bedingungen durch technischen Fortschritt sogar drastisch verschlechtern. Schadt beschreibt das am Beispiel eines Logistikers im Lager eines großen Versandhauses: "Mit GPS-Gerät am Arm wird er mit der kürzesten Route durch das Lager navigiert, sein Vorgesetzter erhält eine Meldung, wenn er sich unerlaubt von der Route entfernt."

Während die schinderischsten Drecksarbeiten also wohl auch weiterhin ausbeutbaren Menschen vorbehalten bleiben, betreffen die "Rationalisierungspotenziale" insbesondere Beschäftigungen, die bislang keineswegs prekär sind – etwa Personalabteilungen: "Hier erhofft man sich von den Algorithmen, auch Entscheidungs- und Kontrollfunktionen zu ersetzen und so auch Stellen in gehobenen Gehaltsklassen abzubauen."

Roboter trinken keinen Champagner

An anderer Stelle macht Schadt deutlich, wie wenig er davon hält, einen Konflikt zwischen Menschen und Maschinen zu inszenieren, da auch ein KI-gestützter Roboter nicht mehr Eigeninteresse verfolge als ein Hammer. Die Herrschaft des Automaten sei daher in Wahrheit "ein genuin gesellschaftliches Verhältnis, das nur als ein Verhältnis zwischen Mensch und Ding erscheint, aber eigentlich eines zwischen Mensch und Mensch ist". Später führt Schadt noch eine Aussage der Soziologin Sabine Pfeifer an, laut der es keine Roboter-Herrscher sein würden, "die zukünftig in Davos den Champagner trinken".

Entsprechend sei die Digitalisierung auch kein eigenständiger Akteur – was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber ganz anders klingt, wenn etwa die ehemalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles im Vorwort zu "Weißbuch Arbeiten 4.0" schreibt: "Die Digitalisierung mag zwar die heimliche Hauptfigur dieses Buches sein, die überall ihre Finger im Spiel hat und das Geschehen maßgeblich beeinflusst. Sie ist aber nicht die einzige Protagonistin." Mitunter erscheint die Digitalisierung gar als Naturgewalt, an deren Auftreten und Ausdehnung es ebenso wenig zu rütteln gäbe wie an einem Vulkanausbruch oder einem Wirbelsturm.

Da sich hinter diesem Trend aber der gute, alte, durch Konkurrenz der Kapitalisten geschaffene Sachzwang zur Profitmaximierung verberge, benennt Schadt die Digitalisierung als "Scheinsubjekts", das – im Grunde banal – gar keine eigenen Interessen verfolge: "Die neuen digitalen Techniken sind das Mittel von Charaktermasken (Marx) des Kapitals, die damit ihre ökonomischen Interessen durchsetzen."

Das letzte Kapitel seines Buchs hat Schadt ein paar ideologiekritischen Betrachtungen gewidmet – und zitiert in diesem Zusammenhang auch die liberale Ikone John Stuart Mill, die schon 1848 Skepsis erkennen ließ, "ob alle bisher gemachten mechanischen Erfindungen die Tagesmühe irgendeines menschlichen Wesens erleichtert haben". Und natürlich hat auch Karl Marx gewusst, dass es gar nicht der primäre Zweck von Innovationen ist, das Dasein angenehmer zu gestalten, sondern dass unternehmerische Erfindungen unter dem Primat stehen, bei der Erzeugung von Mehrwert behilflich sein zu müssen.

Aber geht uns, angesichts der technischen Fortschritte und ihrer rasanten Geschwindigkeit, eines Tages die Arbeit aus, ob wir wollen oder nicht? Peter Schadt präsentiert dazu ein paar Standpunkte und antwortet selbst mit Nein. "Denn die Lohnarbeit geht im Kapitalismus nie aus." Er begründet das mit Arbeitern, die nunmal auf einen Lohn angewiesen seien, und wenn "der Maschinenpark weiter wächst, verbilligt sich über die steigende Konkurrenz der Lohnarbeiter um die verbleibende Arbeit auch der Lohn für diesen." Schadts Folgerung: "Mit jeder Entlassungswelle schwillt die Reservearmee der Arbeiter an und drückt die Löhne so lange, bis sich deren Einsatz gegenüber der Anschaffung weiterer Maschinen wieder lohnt, längere Arbeitszeiten und schlechtere Arbeitsbedingungen gleich inklusive." Der letzte Satz lautet daher: "Wenn wir nicht als variables Kapital leben wollen, werden wir damit – über alle Tagesforderungen hinaus – schon selbst Schluss machen müssen."


Peter Schadt, "Digitalisierung", erschienen im Papyrossa-Verlag, 118 Seiten, erhältlich für 9,99 Euro.

Transparenz-Hinweis: Peter Schadt verfasste bislang zwei Artikel für Kontext. Sein Beitrag zum Bitcoin als millionenschweres und wertloses Investitionsobjekt, erschienen in Ausgabe 551, enthält Überschneidungen mit einer Passage aus dem Buch "Digitalisierung". 


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