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KZ-Überlebender

Brückenbauer für ein besseres Leben

KZ-Überlebender: Brückenbauer für ein besseres Leben
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Garry Fabian gehört zum einen Prozent der Kinder, die das Konzentrationslager Theresienstadt bis zum Kriegsende überlebt haben. Beim Besuch in seiner Geburtsstadt Stuttgart beeindruckt die Heiterkeit eines Menschen, der durch die Hölle gegangen ist.

Gelächter kennt viele Maskeraden. Mal soll es Unsicherheit überblenden oder geschieht aus Höflichkeit, am traurigsten aber ist es, wenn Eis darin liegt und es zum Ausdruck von Häme wird. Garry Fabians Lachen ist frei davon, unbeschwert. Und wer dem 88-Jährigen zuschaut, wie er Gesprächspartner:innen mit seiner Lebensfreude ansteckt, findet auf den ersten Blick keinerlei Anzeichen für das Grauen, das seine Kindheit geprägt hat.

Einmal, als er ein Baby war, hat ihn eine Cousine der Mutter im Kinderwagen durch Stuttgart geschoben, fängt eine der Anekdoten an, die Fabian als "in Anführungsstrichen amüsant" bezeichnet. Zwei Männer sind ihnen begegnet, haben den Nachwuchs gemustert und einer von ihnen war ganz begeistert: "Schau' dir dieses Kind an, blaue Augen, blondes Haar und ausgeprägte Gesichtszüge – ein Musterbeispiel für einen Arier." Fabian nennt das ein kleines Beispiel für die Vorurteile der Dreißiger Jahre. 1936 hatte der antisemitische Massenwahn Ausmaße erreicht, dass seine Eltern nach einer 700 Jahre lang zurückverfolgbaren Familiengeschichte in Deutschland nicht mehr glaubten, hier weiterhin eine Zukunft zu haben.

Fabian flüchtete mit der Verwandtschaft in die Tschechoslowakei, wo sie in Bodenbach nahe an der Grenze zu Deutschland lebten. "Meine Erinnerungen an diese Zeit sind naturgemäß sehr vage", sagt Fabian. Der Tag, an dem sich alles änderte, hat sich dagegen tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Am 14. September 1938 saßen sie am Mittagstisch, da kam der Vater in heller Aufregung hereingerannt. Die Deutschen starteten ihren Einmarsch ins Sudetenland. Fabian, damals viereinhalb Jahre alt, war bestürzt, aber verstand nicht, was los war. In seinem Alter war "das Mittagessen natürlich viel wichtiger als alles andere, egal wie weltbewegend es auch sein mag", schreibt er in seiner Biographie. Er erinnert sich an ständig wechselnde Verstecke, die Willkür der nationalsozialistischen Judenverfolgung und an Staaten, die Flüchtende zu "Nicht-Personen" erklärten, sodass diese über viele Monate ihre Zeit damit verbrachten, "vertrieben zu werden, illegal in ein Land wieder einzureisen, dann festgenommen und wieder vertrieben zu werden".

Am 15. März 1939 marschierten die Nazis in Prag ein, wo die Fabians zwischenzeitlich unterkommen waren, und die Situation der Jüdinnen und Juden verschlechterte sich auch im Exil immer weiter. "Ich konnte die volle Tragweite der Geschehnisse damals natürlich nicht richtig einschätzen," sagt Fabian, "aber ich kann mich genau an die Kolonnen von Soldaten, Lastern und gepanzerten Fahrzeugen auf den Straßen erinnern. Beim bloßen Anblick der arrogant auftretenden deutschen Militärmaschinerie lief es mir kalt den Rücken runter. Ich spürte die Verkörperung des Bösen vor mir." Drei Jahre gelang es ihm und seiner Familie, den Klauen des NS-Regimes immer wieder zu entkommen. Im November 1942 aber wurden auch sie deportiert.

Diensteifrige Sadisten mit speziellen Hobbys

"Aus mir wurde einfach Nummer CC988", erinnert sich Garry Fabian. Theresienstadt, erbaut als Garnison, war ursprünglich auf 3.500 Menschen ausgelegt. In der Zeit als Konzentrationslager war dort mehr als das Zehnfache an Personen untergebracht. In anderen Dörfern und Städten ließen sich um diese Zeit Milch- und Brotkarren beobachten, die von Pferden und Eseln gezogen wurden. In Theresienstadt wurden die Karren von Menschen gezogen und transportierten Leichen – das war ein alltäglicher Anblick, den Fabian beschreibt. "Es stimmt, dass Hunger der beste Koch ist", sagt er. "Und es ist besonders wahr, wenn man gerade verhungert." Sogar Suppe, die in Wahrheit eher schmutziges Wasser war, und anderes Essen, "dessen Ursprung man nicht erforschen wollte", schmeckt dann "wie die Götterspeise Ambrosia und man kann die nächste Mahlzeit gar nicht abwarten". Der Achtjährige erkrankte in rascher Folge an Masern, Windpocken und Keuchhusten. Aber irgendwie überlebte er. Eine große Ausnahme: Von den 15.000 Kindern, die seit 1941 nach Theresienstadt deportiert wurden, erlebten nur etwa 150 das Kriegsende.

Über seine Geschichte sagt Garry Fabian, dass sie keineswegs außergewöhnlich sei, und dass viele Jüdinnen und Juden noch weitaus größere Grausamkeiten erlitten haben. Er betrachtet es als Verpflichtung für die Überlebenden des Holocausts, für die sechs Millionen zu sprechen, die es selbst nicht mehr können. Für die Verbrechen der Väter, Mütter und Großeltern will er nicht die Söhne, Töchter und Enkel in Haftung nehmen, sagt er in Stuttgart. Aber nicht nur müssten die Erinnerungen an den historischen Verlauf wachgehalten werden, der zum industrialisierten Massenmord an Millionen von Menschen geführt hat. Wenn es ein Fazit aus seinen Erfahrungen gebe, dann, dass es "wichtig ist, von den schrecklichen Ereignissen der Vergangenheit eine Brücke zu schlagen hin zu einer hoffentlich besseren Zukunft, in der so etwas hoffentlich nie wieder vorkommt".

Nach dem Kriegsende wollte Fabian mit seinen Eltern, die im Gegensatz zum Rest der Familie überlebt hatten, weit weg aus Deutschland. In Australien fingen sie ein neues Leben an. Fabian arbeite erfolgreich als Elektriker – bis er sich viele Jahre später, im Alter von 45 Jahren, so über einen verworrenen Artikel in einer angeblichen Fachzeitschrift ärgerte, dass er zum Telefon griff und sich beim Herausgeber beschwerte. Der wiederum konterte: "Wenn du so ein cleveres Kerlchen bist, kannst du ja versuchen, es besser zu machen." Da fühlte sich Fabian herausgefordert, schrieb einige Zeilen und zu seiner großen Verwunderung wurde sein Text gedruckt. Das war der Auftakt für seine neue Karriere als Journalist, die, wie er sagt, viel dazu beigetragen habe, dass er seine Lebensgeschichte im Jahr 2002 verschriftlichte. Es ist ein kompaktes und fokussiertes Werk, nur 88 Seiten lang, ohne viel Pathos, aber mit einer Prise Zynismus. Etwa wenn er es als das "spezielle Hobby" eines "diensteifrigen Sadisten" beschreibt, wie dieser als Lenker eines Versorgungslastwagens im KZ "mit seinem Dreitonner Leute umgefahren hat".

40 Jahre lang dauerte es, bis Garry Fabian wieder einen Fuß auf europäischen Boden setze. 1987 wollte er Theresienstadt noch einmal besuchen. Eine beklemmende Erfahrung, von der er dennoch froh ist, sie gemacht zu haben. Am meisten habe ihn erstaunt, wie leer und verlassen der Ort war, den er als Kind völlig überfüllt erlebt hatte. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war hart, aber sie hat ihn weitergebracht, sagt Fabian heute.

Stuttgart ist für ihn wieder ein Stück Heimat

Mittlerweile hat er auch seinem Geburtsort Stuttgart mehrere Besuche abgestattet. 2003 kam er auf Einladung der Stiftung Geißstraße 7 in die baden-württembergische Landeshauptstadt und reiste als Teil des Projekts "Zeichen der Erinnerung" mit Jugendlichen nach Theresienstadt. "Natürlich kann man in Geschichtsbüchern über die Zeit der Judenverfolgung lesen", sagt Fabian. "Aber ich glaube, es ist etwas ganz anderes, persönlich mit denjenigen zu sprechen, die es erlebt haben." Die Konfrontation mit seinen Kindheitserlebnissen sei emotional sehr aufreibend gewesen. Aber er bereut es nicht.

In der Woche des 22. August 2022 war Fabian wieder in Stuttgart. Es ist der 80. Jahrestag einer Deportation vom Nordbahnhof nach Theresienstadt, von der knapp 1.100 jüdische Bürger:innen aus Württemberg betroffen waren. Sie durften ein Gepäckstück mitnehmen, aber kein Geld. Dennoch sollten sie die Reisekosten für die einfache Fahrt selbst bezahlen. Bei der Gedenkveranstaltung sitzt Fabian mit zwei Jugendlichen auf der Bühne, die ihn über sein Leben ausfragen. Er beschönigt nichts – und strahlt doch eine beeindruckende Heiterkeit aus. Lauthals loslachen muss er, als die jungen Leute von ihm wissen wollen, was er als größte Herausforderung unserer Gegenwart ansieht. "Das sollen Menschen beantworten, die über mehr Geist und mehr Informationen verfügen als ich. Ich halte lieber die Erinnerung an das wach, was sich nicht wiederholen darf."

Über das Konzentrationslager, in dem er einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hat, haben die Nazis einen Propagandafilm gedreht mit dem Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Die Dreharbeiten waren die wahrscheinlich bizarrste Episode in seinem Leben, erinnert sich Fabian. Wo Krankheit und Tot allgegenwärtig waren, wurde fürs Bewegtbild aufgehübscht und die KZ-Insassen genötigt, zu Darsteller:innen eines guten Lebens zu werden (die an den Dreharbeiten beteiligten Jüdinnen und Juden wurden im Anschluss fast ausnahmslos nach Auschwitz deportiert). Sogar ein fröhliches Fußballspiel im Hof wurde nachgestellt, das als angeblicher Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens präsentiert wird. Als Garry Fabian den Film viele Jahrzehnte später sah, schauderte er: Denn im inszenierten Publikum hat er sich selbst als kleinen Jungen entdeckt. Da kam sehr viel wieder hoch, berichtet er. Aber auch das sei ein Anreiz gewesen, an der Vergangenheitsbewältigung zu arbeiten.

Seit einem Jahr ist Fabian Träger des Bundesverdienstkreuzes – wobei er auf die Ironie hinweist, dass die Ehre einem zuteil wird, der als Kind vertrieben und ausgebürgert wurde. Bei seinem aktuellen Aufenthalt in Stuttgart, zu Gast bei der Stiftung Geißstraße, sagt Fabian, er fühle sich inzwischen wieder hier zuhause, das sei ein Stück Heimat für ihn. Neben Veranstaltungen waren auch ein paar Tage Urlaub eingeplant. Besonders gut gefallen hat ihm ein Bundesligaspiel in der Stuttgarter Mercedes-Benz Arena. "Auch wenn der VfB leider grottenschlecht war", sagt er mit freudig funkelnden Augen und prustet los. Und obwohl er so viel mehr leiden musste als die meisten Menschen in ihrem Leben ist da keine Verbitterung in seinem Gelächter. Es ist warm und herzlich und gänzlich unmaskiert.


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