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Ravensburger Justizposse

Auf die Bäume

Ravensburger Justizposse: Auf die Bäume
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Am 11. Mai 2021 kletterte Wolfgang Ertel, Professor für Informatik, auf eine Trauerweide auf dem Campus seiner Hochschule Ravensburg-Weingarten. Der 63-Jährige protestierte damit gegen die Energieverschwendung an der Uni. Dafür muss er jetzt 4.000 Euro Strafe zahlen.

Wenn ein Ordinarius, Mitglied bei den "Scientists for Future", und zwei junge Aktivisten von "Fridays for Future", auf einen Baum steigen, ist das eine nicht angemeldete und somit strafbare Versammlung. So sehen das Richter und Staatsanwalt am Amtsgericht Ravensburg, wobei Letzterer bereits Berufung gegen das Urteil angekündigt hat.

Es mutet an wie eine Justizposse: Drei Kletterer bilden also eine Versammlung, alle drei werden verurteilt, die Jungen als "Leiter" einer Aktion, zu der niemand aufgerufen hat. "Wen leiten die", fragt Ertels Anwalt Daniel Rheinländer, "es war eine Demonstration im abgeschlossenen Kreis, die für die Presse gedacht war." Die Verteidigung vermutet, dass es hier gegen etwas ganz anderes geht. Gegen die Meinungsfreiheit.

Ertels zweiter Verteidiger, Gotthold Balensiefen, Jurist und Beauftragter für Nachhaltige Entwicklung an der Hochschule Biberach, erkennt keinen Rechtsbruch des Professors, sondern rechtswidrige Zustände an der Hochschule Weingarten, die gegen das Klimaschutzgesetz verstoße, und die an allen Unis, inklusive seiner eigenen in Biberach, Realität seien. Hier wird auf Hochtouren geheizt, gerne auch in den Ferien. Kontext hat darüber vor einem Jahr berichtet.

Balensiefen sieht seinen Kollegen im Recht, dagegen zu protestieren, und verweist auf den Glückwunsch von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne), die Ertel lobt und einen Klimaschutz-Manager für den Campus verspricht. Der Staatsanwalt hebt dagegen auf die besondere "Vorbildfunktion" eines Ordinarius' für die Jugend ab, und fordert eine Strafe von 5.000 Euro. Soweit die Debatte im Gerichtssaal.

Jetzt stellt sich die Frage: Was für ein Urteil, was für eine Justiz ist das? Soll jeder spontane Widerstand, jeder Protest gegen staatliches Fehlverhalten, das sich gegen bestehende Klimaschutz-Verordnungen und Gesetze richtet, im Keim erstickt werden mit drakonischen Strafen?

Gewaltloser Widerstand gegen staatliche Maßnahmen, die das Gemeinwohl beeinträchtigen oder die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger pervertieren, sind eine Säule unserer rechtsstaatlichen Demokratie. In zahlreichen Urteilen anerkannte das Bundesverfassungsgericht Phänomene wie "gesellschaftlichen Notstand" und nicht angemeldete Widerstandsformen wie Sitzblockaden. Anlässe in der noch jungen Republik waren die Notstandsgesetze, die Stationierung von Atomwaffen.

Eine Demokratie braucht zivilen Ungehorsam

Der zivilie Ungehorsam ist Teil politischer Partizipation, die unser gesellschaftliches System von autokratischen und diktatorischen unterscheidet. Eine moderne Demokratie braucht Formen der Einmischung und des Aufbegehrens, die nicht mit der Obrigkeit abgesprochen, geschweige denn von ihr genehmigt sind, weil sie sich gegen Beschlüsse und potentiell auch gegen Gesetze richten, die Behörden, Kommunen, Länder- oder Bundesparlamente beschlossen haben. In einer Demokratie ist der Staat nicht unfehlbar und Bürgerinnen und Bürger sind nicht ohne Verstand.

Wenn man aber erlebt hat, wie im Altdorfer Wald gegen ein paar jugendliche Baumbesetzer eine Hundertschaft des SEK aufgefahren wurde, wie wegen ein paar besetzter Bäume am Ravensburger Grüngürtel eine Hundertschaft Reservepolizisten angekarrt wurde, fragt man sich, in welchem Land wir leben. Es war schon einmal anders, es gab zivilen Ungehorsam in dieser Republik, der nicht mit dem SEK weggeräumt und nicht mit Abschreckungsurteilen demonstrativ bekämpft wurde.

Erinnert sei an 1980, den NATO-Doppelbeschluss, der die Stationierung US-amerikanischer Pershing II Raketen in der Bundesrepublik Deutschland erlaubte. Wir, die wir damals dagegen protestierten, hatten alle das tödliche Napalm, Agent Orange, Agent Blue gegen die Befreiungsbewegung in Vietnam im Gedächtnis. War das nicht Irrsinn genug?

September 1983. Da bildete sich ein Ökumenisches Friedenscamp in Mutlangen, eine 108 Kilometer lange Menschenkette, da waren die Christliche Arbeitsgemeinschaft Frieden und viele andere Friedensgruppen. Gewaltlosigkeit gegen die tödliche Gewalt der Pershings. Sitzblockaden. "Das weiche Wasser bricht den Stein", war das Motto.

Und da saß die westdeutsche Kultur- und Politprominenz auf dem Boden und blockierte die Kasernen: Petra Kelly und Ex-General Gerd Bastian, Günter Grass, Oskar Lafontaine, Klaus Staeck, Walter Jens, Annemarie und Heinrich Böll, Rolf Hochhuth, der Zukunftsforscher Robert Jungk, Pastor Heinrich Albertz.

Diese Sitzblockaden veränderten unser Land, sie sind Teil einer anderen Republik, einer besseren Welt. Ob dieser zivile Ungehorsam im Kulturbegriff von Juristen und Polizeichefs vorkommt, die Blockaden im Dannenröder Forst, in Garzweiler und im Altdorfer Wald mit einem Ausmaß an Gewalt räumen lassen, die man eher aus anderen politischen Systemen kennt, wissen wir nicht.

Was wir wissen, ist, dass sich in Ravensburg immer montags ein paar hundert Impfgegner und Verschwörungs-Spezialisten treffen, ganz zufällig, und einen "Spaziergang" machen und, ganz spontan, allesamt die selben Parolen skandieren. Das ist offenbar keine Versammlung, da gibt es keine Versammlungsleiter, an denen Recht und Ordnung hergestellt und die Staatskasse ein wenig aufgemöbelt wird.

Antworten wir doch einer Recht-und-Ordnung-Justiz mit dem Mut und der Fantasie, die der zivile Ungehorsam mal hatten. Drei Personen bilden eine Versammlung. Bilden wir 50, 100 Versammlungen mit je drei Personen, die wir anmelden. Und dann bilden wir 50, 100 Versammlungen mit je drei Personen, die wir nicht anmelden. Das belebt die Bürokratie, das belebt die Justiz. Und uns auch.

Aus Erich Kästners Gedicht "Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?": "Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will – und es ist sein Beruf etwas zu wollen, steht der Verstand erst stramm und zweitens still. Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!"


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1 Kommentar verfügbar

  • Karl P. Schlor
    am 28.04.2022
    Antworten
    Unglaublich, zu was sich solch ein Staatsanwalt und ein Richter hergeben, haben die denn gar kein Gewissen? Ich nenne das Verfolgung Unschuldiger und würde ein Offizialdelikt daraus
    machen, welch ein ungeheuerlicher Vorgang, man kann nur hoffen daß das Berufungsgericht
    dieser leider nicht eine…
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