KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Dirigent Agrest gewinnt vor Gericht

Au Backe, Staatstheater

Dirigent Agrest gewinnt vor Gericht: Au Backe, Staatstheater
|

Datum:

Die Kündigung von Stardirigent Mikhail Agrest ist unwirksam, urteilt das Bühnenschiedsgericht in Frankfurt. Für das Stuttgarter Staatstheater ist das ein Schlag ins Gesicht, aber kein Grund zur Einsicht. Szenen aus dem Gerichtssaal.

Frühling in Frankfurt. Die Stadt kann schön sein. Selbst das Arbeitsgericht hat eine freundliche Adresse. Gutleutstraße heißt sie. Hier waltet auch das Bühnenschiedsgericht seines Amtes, vor dem sich KünstlerInnen wieder finden, wenn sie Streit mit ihrem Arbeitgeber haben. Der Dirigent Mikhail Agrest hat ihn. Der 47-Jährige klagt gegen das Stuttgarter Staatstheater, das ihn im vergangenen Oktober gefeuert hat, nachdem es bei einer Probe zu John Crankos Ballett "Onegin" hoch hergegangen ist. Er soll falsch dirigiert, sprich Musik und Tanz nicht in Einklang gebracht haben, und noch viel schlimmer, sich unbotmäßig gegenüber dem frühreren Ballett-Intendanten Reid Anderson verhalten haben. Trägt die Abteilung Ballett vor, deren Ikone man nicht ungestraft mit Widerspruch behelligen darf. So geschehen am 13. Oktober 2021.

Am Anfang war’s ein angeblicher Stinkefinger gegen Anderson, dann die Mamma-mia-Geste, die sich als nicht obszön und somit nicht als Kündigungsgrund halten ließ, dann schob Ballett-Intendant Tamas Detrich Tänzerinnen und Tänzer nach, die es vor Agrest zu schützen galt, was immer das heißen sollte. Dann soll der Dirigent im Verlauf von Proben mit dem Handy hantiert haben, was die Intendanz aber nicht daran hinderte, ihn einen Tag nach der Majestätsbeleidigung noch mit dem Dirigat von "New Works" zu betrauen. In Kontext ist der Vorgang ausführlich dokumentiert, der rüde Ton des 72-jährigen Kanadiers Anderson ("you do what I tell you") ebenso. Acht Orchestermitglieder haben diesen Akt "verbaler Gewalt" schriftlich bestätigt.

Und wieder ist kein Intendant zur Stelle

Dieser Sachverhalt muss also nicht mehr geklärt werden, in dieser zweiten Runde vor dem Bühnenschiedsgericht. Darin sind sich die Anwälte beider Parteien einig. Es geht jetzt darum, ob ein Vergleich möglich ist. Auf dem Flur summt Mikhail Agrest vor sich hin, seine Lebenspartnerin Jelena sagt, damit bekämpfe er seine Nervosität. Der Rechtsvertreter des Staatstheaters, Karl Schirner, parkt vorsorglich eine Cola-Flasche unterm Tisch. Die Luft ist trocken. Er kommt von Frahm Kuckuk, einer Art Hauskanzlei der Beklagten mit Sitz in der Stuttgarter Königstraße, nach eigenen Angaben spezialisiert auf Führungskräfte. Schirner hat schwer zu schlucken an diesem Tag.

Zu Beginn seines Vortrags wedelt er mit einer Vollmacht, die ihn als Abgesandten von Marc-Oliver Hendriks ausweist, befugt, in dessen Namen zu sprechen. Der geschäftsführende Intendant des Staatstheaters sei leider erkrankt, berichtet er, wie so viele in diesen Zeiten eben. Dieser Hinweis erschien wohl notwendig, nachdem Richterin Anja Fink schon beim ersten Durchgang am 17. Januar hatte erkennen lassen, dass sie es geschätzt hätte, wenn die Intendanz die Mühen der langen Reise auf sich genommen hätte. Der Kläger ist schließlich nicht irgendwer. Nicht die Garderobiere, die rausgeflogen ist, weil sie einen Direktor als Arschloch beschimpft haben soll. Agrest gilt als Star in seinem Fach, mit Auftritten in New York, London und Dresden. Nun sitzt Schirner eben wieder nur mit Personalchef Ralf Becht als Ranghöchstem da, der tut, was er an dieser Stelle immer tut: Er schweigt.

Die Richterin ist genervt. Sie hat nach der ersten Verhandlung einen Vorschlag zur Güte gemacht, beiden Seiten zugesandt, eine Abfindung in sechsstelliger Höhe empfohlen, als Ausgleich für den bis August 2023 laufenden Vertrag. "Wir hätten zugestimmt", betont Agrest-Anwalt Christof Weisenburger, aber das Staatstheater habe ihn mit der lapidaren Bemerkung "nicht einverstanden" vom Tisch gewischt. Auf Rückfragen seinerseits habe sich die gegnerische Kanzlei nicht einmal mehr gemeldet. Im Gerichtssaal erläutert Schirner, die Summen seien "so weit auseinander gelegen", dass es keinen Sinn gemacht hätte, miteinander "ins Gespräch zu treten". Auf die Frage des Gerichts, ob er einen genehmen Betrag aufrufen könne, bringt der Spezialist für kirchliches Arbeitsrecht eineinhalb Monatsgehälter ins Spiel.

Was ist das? Eine Provokation, eine "Unverschämtheit", wie es Weisenburger nennt, oder einfach die Wurstigkeit einer steuerfinanzierten Kulturanstalt, die ihre Moral auf ihre Spielpläne beschränkt und ansonsten darauf vertraut, dass ihre Gerichts- und Prozesskosten von der Allgemeinheit übernommen werden? Derzeit gibt sie in ihrer Theatersparte Dürrenmatts "Besuch der alten Dame", eine Parabel, die von der Herrschaft des Kapitals über ethische Normen erzählt, und fragt, welchen Preis die Gerechtigkeit hat.

In Polen wird Agrest ausgeladen, weil er Russe ist

Von Richterin Fink bekommt Schirner jetzt noch gesagt, dass sich ein Arbeitgeber auch schützend vor seinen Mitarbeiter stellen könne, es sei denn, er wolle den Streit "aussitzen", bewusst über fünf Instanzen ziehen, die für ein endgültiges Urteil nötig wären. Für Mikhail Agrest, der seit Oktober 2021 kein Gehalt mehr vom Staatstheater erhält, wäre das "absolut katastrophal", gibt sie zu bedenken. Anwalt Schirner beantragt die erste Pause. Rückkopplung mit Stuttgart.

Zurück kommt er mit vier Monatsgehältern. Richterin Fink versteht ihre Arbeitsstätte offensichtlich nicht als Teppichbasar und müht sich redlich, Verständnis für den kaltgestellten Musikdirektor zu wecken. Der, nur so nebenbei, in Polen von einem Gastdirigat wieder ausgeladen wurde, weil er gebürtiger Russe (mit US-amerikanischem Pass) ist. Dass er schon 2014 gegen Putin demonstriert hat, als der die Krim annektiert hat, was spielt das für eine Rolle? Sie könnten doch einen "weiteren Blick wagen", appelliert Frau Fink, eine gemeinsame Tätigkeit erwägen, vielleicht in einem anderen Orchester, von denen es doch mehrere gebe. Und sie fragt, ob überhaupt eine "gedankliche Bereitschaft" dazu vorhanden sei? Weisenburger assistiert und sagt, die Situation für seinen Mandanten sei "verheerend", er brauche einen Schnitt, keinen endlosen Prozess. Schirner guckt Becht an, der guckt schweigend zurück, und sein Rechtsvertreter bedauert bilanzierend, alles in allem sei dies "kein Idealzustand für beide Seiten". Schirner beantragt eine zweite Pause.

Die Kommunikation mit Stuttgart scheint schwierig. Wer fühlt sich eigentlich verantwortlich? Auffällig ist, dass der Anwalt des Theaters immer vom Land Baden-Württemberg spricht, das dies oder jenes befürworte oder ablehne. In der Tat wird "the Länd" als beklagte Partei geführt, aber das zuständige Ministerium für Kunst und Wissenschaft legt großen Wert auf die Feststellung, dass Kündigungen das Geschäft der Herren Intendanten seien. Das mag ein Grund für die Orientierungslosigkeit Schirners sein, der sich schwer tut, nach der Pause die richtige Saaltür zu finden. Er sei "völlig verwirrt", bekennt er leicht atemlos.

Eine gütliche Einigung? Kein Bedarf

Drinnen muss er sich schon wieder Kritik anhören. Er hätte doch jemanden mitbringen können, der Arbeitsverträge gestalten und verantworten könne, sagt Frau Fink. Aber keiner da. Und dabei schwingt mit, dass sie es nicht gewohnt ist, ihre Arbeit für die Katz zu machen. Von Schirner hört sie nur, dass seine Partei "keine gütliche Einigung" in Betracht ziehe. Ein letzter Anlauf, die Frage danach, wer eigentlich den Job von Agrest seit Oktober mache? Schirner schaut verwundert, guckt Becht an, der starr nach vorne blickt, und unwidersprochen zur Kenntnis nimmt, wie sein Anwalt sagt: "Ist doch auch egal." Kommentare gegenüber nachfragenden JournalistInnen von Kontext, FAZ und SWR lehnen sie ab.

Einen Tag danach erklärt das Frankfurter Bühnenschiedsgericht die außerordentliche Kündigung für unwirksam. Der Spruch im O-Ton: "Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 15. 10. 2021 nicht aufgelöst worden ist". Für eine Stellungnahme verweist das Büro Hendriks an das Ballett, wo sich Sprecherin Vivien Arnold um eine Antwort bemüht. Sie kommt in Gestalt einer Erklärung des Intendanten Detrich, der betont, dass er "nicht nur künstlerisch, sondern auch wirtschaftlich" für das Ballett verantwortlich sei.

Jetzt müsse die schriftliche Begründung geprüft und danach über das weitere Vorgehen entschieden werden. Erahnen lässt sich die Richtung aus dem Begleittext: Die vom Gericht genannte Summe sei "ungewöhnlich hoch" gewesen, meldet die Pressestelle.

Mikhail Agrest bevorzugt einen anderen Blickwinkel. Als Mensch, der viele Jahre in einem autokratisch regierten Land gelebt habe, schreibt er, schätze er den Wert eines unabhängigen Gerichts sehr. Dankbar sei er seinen KollegInnen, MusikerInnen, TänzerInnen und ChoreografInnen aus aller Welt für ihre Unterstützung – und für einen Dialog nach wie vor offen. Sein Rechtsbeistand Weisenburger befürchtet, dass das Staatstheater durch alle Instanzen zieht. Koste es, was es wolle.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Antje Lüth
    am 31.03.2022
    Antworten
    Agrest ist kein Einzelfall. Es gibt zahlreiche Kündigungs-Prozesse, die die Staatstheater durch mehrere Instanzen durchziehen- und verlieren. Warum schaut der Rechnungshof hier nicht auf die produzierten Kosten ? Wo ist das Controlling ? Hier werden Steuergelder verschleudert. Die…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!