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Ukraine-Krieg

Märchenland ist abgebrannt

Ukraine-Krieg: Märchenland ist abgebrannt
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Jetzt ist Krieg. Und alle drehen durch. Überall auf der Welt gehen Menschen auf die Straße, um für Frieden zu demonstrieren. Innerhalb weniger Tage rüstet Deutschland auf. Und Elon Musk wird über Nacht vom Finanzbetrüger zum Helden.

Am liebsten würde man mitweinen, als am Donnerstag, am ersten Tag des russischen Angriffs, Dutzende UkrainerInnen vor der Commerzbank am Stuttgarter Schlossplatz stehen. Viele weinen, es ist so still wie selten bei einer Kundgebung. So klingt es wohl, wenn Trauer und Angst überwältigend groß werden. Ein ukrainischer Pfarrer spricht, auch ein katholischer. "Alle haben Angst, alle flüchten", sagt eine Frau. Und dann will sie lieber nichts mehr sagen. Linke Presse kommt nicht gut an an diesem Tag. Zu viele Putin-Freunde, sagt eine andere, auch bei der taz. Am Rande steht ein Deutscher mit einem Anti-Nato-Plakat und kann froh sein, dass sich keiner für ihn interessiert. Hinter ihm leuchtet das Alte Schloss in ukrainischen Farben.

Schock. Jetzt also Krieg in Europa.

Da sitzt man Stunden, Tage vor der Glotze und drückt der Ukraine die Daumen. Und wie könnte man um Gottes Willen auch nicht mitfiebern? Wenn Vitali Klitschko, der Ex-Boxer und Bürgermeister von Kiew, live in den Sozialen Medien den Kampf seines Lebens kämpft. Wenn der ukrainische Präsident Selensky eben nicht das Schiff verlässt wie so viele auf hohen Posten in anderen Kriegen. Wie könnte man nicht, angesichts so vieler Flüchtender, so vieler Tränen in Europa.

Solidarität mit Einschränkungen

Überall in Deutschland gehen Menschen auf die Straße. Am Freitag demonstriert das OTKM, das "Offene Treffen gegen Krieg und Militarisierung". Linke, Antifas, Kurden, sozialistische Türken, Anti-Imperialisten aller Art. Wie immer hat die MLPD die größten Fahnen dabei. "Wir sind definitiv nicht hier, um die russische Invasion zu befürworten", heißt es. Das Alte Schloss in Stuttgart ist jetzt mit der ukrainischen Flagge beflaggt. "Russland hat den Krieg begonnen, aber die Nato hat ihn provoziert!", ruft einer von der Bühne. Manche, die sich sonst eher links verorten, wenden sich mit Schaudern ab. "Hoch die internationale Solidarität!", schallt es durch die Reihen.

In Stuttgart hört die Solidarität schon bei der Jungen Union auf. Am Tag zuvor standen die Jugendorganisationen aller größeren Parteien vor dem russischen Konsulat zur Kundgebung. Bis auf Solid, den Jugendverband der Linken. Die JU habe einen Unvereinbarkeitsbeschluss, erzählt einer, wo Solid ist, macht die JU nicht mit. Er selbst, sagt einer von der Junglinken, sei nicht hingegangen, weil dort alle Parteien vertreten gewesen seien, die an diesem Krieg mit schuld waren. Nur die Linke sei das nicht. "Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht", ruft einer von der Bühne. Brecht, abgeschliffen in unzähligen Corona-Protesten.

Wasserstandsmeldung aus der Ukraine: 1.000 russische Soldaten getötet, dann 2.000, 3.500 sagen die Ukrainer. Ob es wahr ist, hört und liest man, sei nicht abschließend zu überprüfen. Viele Fakes sind im Netz unterwegs, das Foto eines Unglück auf einer Flugshow wird da schon mal zu einem abgeschossenen Kampfjet. "Wir dürfen uns nicht zu Propagandagehilfen einer Konfliktpartei machen lassen", hatte Frank Überall vom Journalistenverband DJV gemahnt. "Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst." Auch so ein alter Satz, immer wieder wahr.

Medien stellen Tipps zusammen, wie man sich in all der Aufgeregtheit selbst schützen kann: Twitter ausschalten, mal einfach keine Nachrichten sehen, mal mit Freunden sprechen. Andere wiederum regen sich auf, wie man angesichts all des Leids in einem anderen Land auf die eigene Befindlichkeit schauen kann: "Geht's noch!?" Der Dritte Weltkrieg scheint vor der Tür zu stehen. Atomwaffen, wenn auch nur taktische, könnten demnächst von Putin gezielt eingesetzt werden. Die können ein ganzes Dorf auf einmal zerstören, "oder auch eine kleine Stadt", erklärt Nato-General a.D. Hans-Lothar Domröse, gerade in allen möglichen Talkshows zu sehen.

Eine Russin ruft: "Das ist Putins Krieg!"

Samstag in Stuttgart. Die jungen Diasporas von Russland, Belarus, Ukraine und Kasachstan haben zur Demo aufgerufen, die Seebrücke ist auch da. Angemeldet haben sie die "Belarussen in Stuttgart", ihre Flagge: eine Brezel in rot und weiß, den alten Nationalfarben, die in Belarus auf der Straße verboten sind. "Wir wollen zeigen, dass Belarussen, Russen, Ukrainer und Kasachen als Volk vereint sind und nicht gegeneinander Krieg führen", heißt es im Aufruf. Eine Russin steht auf der Bühne und ruft: "Ich bin Bürgerin Russlands und stehe an der Seite der Ukraine!" Worte seien nicht genug, sagt sie, "aber ich möchte mich bei den Ukrainern entschuldigen, das ist kein Krieg Russlands, das ist Putins Krieg! Und ich verspreche euch, der Widerstand der Russen wird wachsen."

Google schaltet seinen Kartendienst Maps vorübergehend ab, damit die Russen nicht sehen, was die Ukrainer machen. Alle dürfen dafür am Samstagabend die Heldwerdung von Elon Musk live beobachten. Noch am Freitagmittag schrieben Wirtschaftsmedien über möglichen strafbaren Insiderhandel mit Tesla-Aktien. Am Abend wurde dann vermeldet, dass Musk weitere Starlink-Satelliten ins All schießt, damit die Internetversorgung in der Ukraine weiter funktioniert. Am Samstag, um Mitternacht, beginnt Musk, das Netz live freizuschalten. Die Schweizer Zeitung "Blick" war die erste, die das bejubelte. Die Grüne Marina Weisband twittert: "Das hier ist die gedankliche Notiz, nach dem Krieg darüber zu reden, welche Macht quasimonopolistische Techfirmen in Kriegen haben."

Neue Nachrichtenschnipsel. Ein ukranischer Matrose hat offenbar versucht, die Yacht seines russischen Milliardär-Chefs zu versenken, heißt es. Ein Mann von Spiegel-TV sagt auf die Frage nach der Situation an der polnischen Grenze aufgeregt: "Die Männer sind entschlossen, die Frauen und Kinder haben Angst." Oha, Backlash. Nur Männer werden im Krieg zu Helden, Frauen werden zu Opfern.

In Stuttgart, am Stauffenberg-Platz, steht die alte linke Friedensbewegung mit gebrochenem Herzen. Friedensfahnen wehen, bunte und die blaue mit der weißen Taube drauf. Henning Zierock hat dazu aufgerufen, ein Urgestein der Friedensbewegung in Deutschland. Er war in Kolumbien unterwegs, in Palästina, Israel, im ersten und zweiten Golfkrieg, in Afghanistan, beim Papst erst vor Kurzem, oft vor dem Africom und dem Eucom in Stuttgart, weil die Amis dort ihre Drohnenkriege koordinieren. Zierock hat vor einigen Tagen schon eine Menschenkette in Berlin auf die Beine zu stellen versucht, von der russischen zur amerikanischen Botschaft, dann kam aber Sturm statt Menschen. Heute sind viele da, 400 vielleicht, es ist wie ein Familientreffen jener, die sich immer auf Seiten Russlands verortet haben anstatt auf der des Westens. Eine Bewegung, die mit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine erstarrt ist in der Erkenntnis, sich all die Jahre getäuscht zu haben.

Zierock sagt, er habe das Gefühl, man wolle sie gerade abräumen. "Alle hier wurden überrascht und enttäuscht, dass es möglich ist, dass der Präsident von Russland einen Krieg beginnt." Im Krieg, sagt er, seien alle Menschen Verlierer, da gebe es nur Leid und Blut. "Wir brauchen Abrüstung und keine neue Kriegsbewegung!" Dieter Reicherter, Richter a.D., kommt ans Mikrofon, sichtlich erschüttert, und zitiert John Lennon: "Imagine all the people livin' life in peace."

Roaming in der Ukraine ist jetzt gratis, sagt die Telekom. UkrainerInnen dürfen kostenlos mit der Deutschen Bahn von Polen herfahren. Der Scherz, der einem auf den Lippen liegt, erstarrt angesichts der Tragweite all dessen. Und angesichts der Hilfsbereitschaft aller Orten. Freiburg hat jetzt Kinder aufgenommen aus einem Waisenhaus in Kiew. Das ist in jeder Hinsicht kaum zu toppen.

"Bild" verbreitet falsche Bilder

"Bild"-Krawallreporter Paul Ronzheimer ist auch schon in der Ukraine und verbreitet Bilder, die nicht aus der Ukraine stammen. Es gibt offene Briefe von russischen WissenschaftlerInnen, von russischen Intellektuellen, die gegen diesen Krieg aufbegehren. Tausende gehen in Russland auf die Straße, viele von ihnen werden verhaftet.

In Polen stehen unzählige Hilfsbereite, die Flüchtende willkommen heißen und aufnehmen, eine überwältigende Geste an Menschlichkeit in einem Land, das sich in Bezug auf Geflüchtete bisher nicht hervorgetan hat. "Die 180-Grad-Wende in der Flüchtlingspolitik von Polen und anderen Ländern ist überfällig und bitter notwendig. Aber eins muss klar sein: Bomben machen keinen Unterschied, was Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe betrifft, und genauso wenig darf an den Grenzen ein solcher Unterschied gemacht werden", schickt Pro Asyl in denn Äther. Auf Twitter häufen sich Berichte, an den Grenzen würden Menschen aus afrikanischen Ländern, die in der Ukraine studierten und jetzt auch flüchten wollen, abgewiesen. Vielleicht doch nicht ganz 180 Grad.

Im Fernsehen wird diskutiert, dass Putin wohl nicht mit so viel Widerstand gerechnet hat. Dass die Ukrainer sich so großartig verteidigen. Der ukrainisch Präsident sei jetzt der "Verteidiger der freien Welt", schreibt der "Spiegel". "Europa steht zusammen", hört man aus allen Richtungen. Selbst die Schweiz macht jetzt bei Sanktionen mit.

Wer momentan in den Sozialen Medien zu Diplomatie aufruft, die mit Sicherheit gerade auf höchster Stufe dreht, wird oft beschimpft. Der Ruf nach Waffen ist unüberhörbar. Was seit Jahren heiß diskutiert wird, die Aufstockung des Etats für das Zwei-Prozent-Ziel der Nato, mehr Geld für die Bundeswehr, scheint innerhalb von Tagen beschlossene Sache. Putin sei jetzt Arbeitgeber des Monats für die Bundeswehr, sagt er nun wieder: Nato-General a.D. Domröse bei "Hart aber fair". Die Studio-Wand hinter ihm wird mit Bildern von Gewehren bespielt. Viel zu spät, lernt man, habe Deutschland sich entschieden, Waffen an die Ukraine zu liefern. Die Warnsirenen in Kiew kann man über Webcams hören.

"Ich komm nicht drüber weg", twittert plötzlich eine von der Linken. "1 Milliarde Pflegebonus. Nach 2 Jahren Pandemie und 1,5 Jahren Diskussion. 100 Mrd. für die Bundeswehr. Über Nacht." Die Antworten: "Beschämend und peinlich, auf diese Weise als 'dummer Mensch' aufzufallen." Oder: "Was hat das mit Pflege zu tun. Es geht um den Bestand und die Art zu leben unseres ganzen Volkes." Oder: "Sie sind eine intellektuelle Zumutung. Ihre Partei darf niemals in Verantwortung für unsere Nation kommen."

Ein Grüner verneigt sich vor den tapferen Soldaten

Sonntag. Kundgebung organisiert von CDU, Grünen, SPD und FDP. Alle sind betroffen. Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) erzählt davon, dass man ja jetzt wisse, wie wichtig Sicherheit sei, wie wichtig also, sich jetzt auch für die Polizei und die Bundeswehr einzusetzen. Ein Punk läuft mit einem sehr lauten Radio durch die 3.000 Menschen, die da auf dem Schlossplatz stehen. Konrad Walter von den Grünen kommt ans Mikro: "Ich verneige mich vor den tapferen Soldaten, die sich der russischen Armee so tapfer entgegenstellen!" Ein Kinderkarrussel dreht sich am Rand der Demo, Kinder auf Schwänen, auf lustigen Hunden, bei absurd lustiger Musik. "Friedenskerzen entzünden reicht nicht mehr, wir brauchen jetzt Taten, bevor es zu spät ist!", ruft Walter. Am Rande steht Luigi Pantisano von der Stuttgarter Linken. Die waren nicht eingeladen, ein paar Worte zu sagen. Jetzt sagt er: "Frieden zu fordern, wenn Frieden herrscht, ist einfach. Aber für Frieden einzustehen, wenn Krieg herrscht, ist schwierig."

In den USA gibt es bereits Anti-Russen-Merchandise. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow will russische Soldaten mit Geldgeschenken zum Desertieren bewegen. Bezahlt werden die offenbar von amerikanischen Tech-Firmen. "Jeder, der sich weigert, ein Besatzer zu sein, bringt den Frieden näher. Für diejenigen, die den Weg des Besatzers wählen, wird es keine Gnade geben!" Auf Twitter schreibt eine: "Alle Russen die Krieg führen, sollten in meinen Augen alle öffentlich zur Schau gestellt werden ... Sie töten Menschen ohne Grund, sie haben keine Würde und einfach auch keine Rechte." Wenn im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, folgt die Menschlichkeit als zweites.

In jeder Stadt wurde und wird demonstriert. Weltweit. In Berlin sind 100.000 Menschen für Frieden auf der Straße, in Köln sogar 250.000. Sie haben weiße Tauben aufsteigen lassen. Am Abend sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, im Fernsehen: Friedensbewegt sei man dann, wenn man so gut bewaffnet sei, dass man andere abschrecken könne. Und nicht, wenn man ein paar Friedenstauben steigen lässt. Auch anderes steigt. Die Aktie des Waffenbauers Rheinmetall hat heute schon wieder zugelegt.

Georg Restle von der ARD-Sendung "Monitor" schreibt: "Zur Solidarität mit der Ukraine gibt es keine Alternative. Und doch fröstelt es mich, wenn ich sehe, wie geschlossen da applaudiert wird, wenn in diesem Land so massiv aufgerüstet wird." Kluge Worte.

 

In einer früheren Fassung des Textes haben wir geschrieben, dass Marina Weisband Bundestagsabgeordnete der Grünen ist. Das trifft nicht zu. Wir haben den Fehler korrigiert.


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8 Kommentare verfügbar

  • invinoveritas
    am 04.03.2022
    Antworten
    Was sich in der Ukraine abspielt und in jedem Fall auf Jahre und Jahrzehnte hinaus Hass und Konfrontation verursachen wird, ist eine ungeheure Tragödie. Dafür verantwortlich ist in allererster Linie ein antidemokratischer Reaktionär, den seine fixe Idee von der Wiederherstellung des alten großen…
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