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Verschwörungstheorien

Gegen die Spaltung

Verschwörungstheorien: Gegen die Spaltung
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Sarah Pohl hört sich alles an: hohle Erde, gefakte Mondlandung, Chips in Impfungen. Mit VerschwörungstheoretikerInnen sei es oft wie mit Verliebten, sagt die Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes: Erst ist alles aufregend, aber irgendwann bröckelt der Lack. Eine gute Nachricht zum frohen Fest.

Irgendwann kam der Punkt, an dem sich Yvonne und Jan Winter* unversöhnlich gegenüberstanden. "Wenn du dich impfen lässt, trenne ich mich von dir", sagte Yvonne. Und das ihm – Jan Winter ist Arzt. Nicht nur, dass er die Corona-Impfung medizinisch für absolut geboten hält. Hätte er sich nicht immunisieren lassen, wäre er auch seinen Job los gewesen. Doch seine Frau fürchtete sich vor einer Veränderung seines Erbguts durch den Impfstoff. Auf keinen Fall wolle sie dann noch ein zweites Kind mit ihm haben, verkündete sie. Seine Argumente, wissenschaftlich fundiert und mit seriösen Quellen belegt, erreichten sie nicht. In seiner Verzweiflung wandte sich Jan Winter an ZEBRA, die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg.

"Das Paar war schon auf einem hohen Eskalationslevel angekommen", erinnert sich ZEBRA-Leiterin Sarah Pohl, die die Geschichte erzählt – anonymisiert, versteht sich. Die Beratung bei ZEBRA ist absolut vertraulich. Pohl erwähnt den Fall als Beispiel dafür, was derzeit viele Familien und Freundeskreise kennen: fruchtlose Debatten über mögliche Impfschäden, Verdächtigungen über vermeintliche Drahtzieher hinter der Pandemie, Vorwürfe gegen die Regierung, die das Volk mundtot machen wolle, krude Verschwörungserzählungen. Die Folgen: eskalierender Streit, verhärtete Fronten, Sprachlosigkeit.

Vorwürfe führen nur tiefer in den Kaninchenbau

Wobei – die Diplompädagogin Pohl würde diese Darstellung so nicht gelten lassen. Denn sie enthält eine Schuldzuweisung an die Verschwörungsgläubigen. "Zum Streit gehören immer zwei", sagt Pohl. Eine Binsenweisheit, aber was die Beraterin weiter ausführt, hält durchaus das eine oder andere Aha-Erlebnis bereit. Nicht nur die Erkenntnis, dass man die andere Person sowieso nicht ändern kann und den Schlüssel zur Deeskalation deshalb bei sich selbst suchen muss. Auch die Tatsache, dass das Verhalten derjenigen, die nicht an Verschwörungen glauben, viel dazu beitragen kann, dass die anderen sich immer tiefer eingraben und abkapseln.

Die Beratungsstelle mit Sitz in Freiburg verfolgt einen konsequent neutralen, ergebnisoffenen Ansatz, will heißen: ZEBRA berät nicht gegen Verschwörungstheorien. Denn eine Verschwörungstheorie könne durchaus etwas Gutes haben für den einzelnen Menschen, sagt die Leiterin. Der Glaube daran könne beruhigen, entlasten, stabilisieren – zumindest kurzfristig. Was langfristig geschieht, steht auf einem anderen Blatt: Im Unterschied etwa zu Religionen halten Verschwörungsmythen keine positiven Visionen bereit, nichts, worauf man sich freuen könnte; stattdessen arbeiten sie mit Weltuntergangsszenarien. "Langfristig nehmen Ängste dadurch zu", weiß Pohl und vergleicht die Wirkung mit Valium: Auch das beruhigt zunächst, kann jedoch durch die Nebenwirkungen dauerhaft zu stärkeren Unruhezuständen führen.

Auf der gesellschaftlichen Ebene haben Verschwörungstheorien ein enormes Spaltpotential, derzeit allerorten zu beobachten. Sie tragen zu Politikverdrossenheit und Demokratiemisstrauen bei und fördern Gewaltbereitschaft, wie etwa die "Mitte-Studien" der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) regelmäßig belegen. Aber, betont Sarah Pohl: "Man erreicht nichts, wenn man Verschwörungstheorien zu bekämpfen versucht." Das Tauziehen darum, wer recht hat, führe nicht zur Entspannung – im Gegenteil. In der Regel helfe es nicht, mit Fakten gegenzuhalten. In der Beratung geht es deshalb nicht darum, jemanden umzustimmen. Glaubens- und Meinungsfreiheit hätten absoluten Vorrang, stellt Pohl klar. "Verstehen, nicht verurteilen" lautet die Devise. Warum glauben die Menschen, was sie glauben? Welchen Nutzen ziehen sie daraus? Welche Bedürfnisse werden dadurch befriedigt? "Wer sich verstanden fühlt, ist weniger laut", so Pohls Erfahrung.

Klare Kante bei Beleidigung oder gar Volksverhetzung

Es kommt natürlich auch vor, dass die BeraterInnen von ZEBRA umschalten müssen von Verständnis auf klare Kante: "Wir positionieren uns, wenn andere Grundrechte in Gefahr sind, etwa das Kindeswohl, oder wenn es um Beleidigung oder gar Volksverhetzung geht", stellt Pohl klar. In letzter Zeit komme das immer häufiger vor.

Beim Ehepaar Winter war der neutrale Ansatz Voraussetzung dafür, dass Jan Winters Frau nach einiger Zeit mit zur Beratungsstelle kam – ein eher seltener Glücksfall. "Für sie war es wichtig zu wissen, dass ihr von uns nicht der Kopf gewaschen wird", weiß Pohl. Grundsätzlich werde niemandem etwas aufgedrängt, nicht mal ein Faktencheck zu den abstrusesten Verschwörungsgeschichten. Also ging es im Gespräch mit Frau Winter nicht um Argumente fürs Impfen – sondern um die angeknackste Beziehung zu ihrem Mann. Und da zeigte sich Erstaunliches, erzählt Pohl: "Die beiden hatten in 15 Jahren noch nie gestritten, es gab keinerlei Konfliktkultur." Stattdessen habe Jan Winter grundsätzlich gemacht, was seine Frau wollte. Doch nun, in der Impffrage, ging das plötzlich nicht mehr.

In mehreren Sitzungen arbeitete Sarah Pohl mit dem Ehepaar daran, eine Beziehung auf Augenhöhe zu etablieren. So vereinbarten beide, einander gleichberechtigt zuzuhören. Während sie ihn zuvor ausschließlich mit ihren Überzeugungen überschüttet hatte, gewährte sie ihm nun die gleiche Redezeit für seine Anliegen. Das führte mit der Zeit dazu, dass die Verschwörungstheorien in den Hintergrund traten. Als das geschafft war, vermittelte Sarah Pohl das Paar weiter an eine Eheberatungsstelle.

ZEBRA wurde im Februar 2020 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Land als Geldgeber die Verschwörungsthematik gar nicht auf dem Schirm. Die Stelle sollte, wie es der Name sagt, zu Weltanschauungsfragen beraten. Aufklären über Religionen, Sekten, Schamanen, Angebote des Esoterikmarkts, Okkultismus. "Wir dachten uns, wir nehmen mal die Verschwörungstheorien mit auf, weil es dazu kein Angebot gab", erinnert sich Sarah Pohl und muss lachen. Denn dann kam – Corona. Im Jahr 2021 bezogen sich mehr als die Hälfte der insgesamt 600 Anfragen auf Verschwörungsmythen. Und es sind inzwischen so viele, dass Pohl und ihre drei Kollegen und Kolleginnen – zusammen teilen sie sich gut anderthalb Personalstellen – kaum hinterherkommen.

Die Situation nehmen alle als bedrohlich wahr

Im Kleinen, auf der individuellen Ebene, zeigt sich hier, was die Gesellschaft als Ganzes derzeit erlebt: eine zunehmende Spaltung in zwei Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und immer weniger miteinander zu tun haben oder haben wollen. In einer Studie fand die Konrad-Adenauer-Stiftung unlängst heraus, wie weit die Polarisierung fortgeschritten ist: Demnach wollen 62 Prozent der Befragten nichts mit AfD-Wählern zu tun haben, 13 Prozent nichts mit Grünen-Wählern. Auch jenseits der parteipolitischen Präferenzen gibt es starke Abwehrreflexe: So lehnen 20 Prozent der befragten Personen den Kontakt zu Klimaschutz-Aktivisten ab, 16 Prozent den zu SUV-Fahrern; und sechs Prozent wollen am liebsten nichts mit Katholiken zu tun haben.

Das Thema jedoch, das zu den offensichtlichsten Verwerfungen führt, ist eindeutig die Impffrage. Dabei hat die Zahl der Impfgegner und Verschwörungsgläubigen seit der Pandemie laut der jüngsten FES-Mitte-Studie, erschienen im Juni 2021, gar nicht zugenommen. Sie werden nur lauter, vehementer, zunehmend gewaltbereit. "Das Thema ist im Alltag viel präsenter", beobachtet auch Sarah Pohl: "Ob sich früher jemand gegen die Masern-Impfung aussprach, war nicht so relevant." Auch wenn Leute glaubten, dass die Erde eine Scheibe sei (oder wahlweise hohl), Nine Eleven eine Inszenierung der CIA (oder des Mossad), oder dass es niemals eine Mondlandung gegeben habe – dann waren das eben "ein paar Spinner mit schrulligen Ideen". Große Auswirkungen hatte das nicht. Heute zerbrechen Freundschaften und Ehen an solchen Themen. Weil sich zur Corona-Impfung jeder und jede positionieren muss. "Und weil die Situation von beiden Seiten als existentiell bedrohlich erlebt wird", erklärt Pohl: Beide empfinden großen Zeitdruck und haben das Bedürfnis, die andere Seite zu missionieren – für oder gegen die Impfung –, um Schaden abzuwenden. "In der Pandemie sind Verschwörungstheoretiker zu Verschwörungspraktikern geworden", formuliert es Pohl. So gibt es Eltern, die ihre Kinder seit Monaten nicht in die Schule schicken; andere setzen auf eine Ansteckung und die damit einhergehende Immunität. Eine Freiburger Kieferorthopädin weigerte sich unlängst, einen geimpften Jungen zu behandeln, aus Sorge, der Impfstoff könne ihr schaden. Und in Senzig bei Berlin hat ein Vater seine ganze Familie ausgelöscht, wobei möglicherweise ein gefälschtes Impfzertifikat eine Rolle gespielt hat.

Warum aber werden Freunde oder Angehörige zu Verschwörungsgläubigen? Die Sozialpsychologin Pia Lamberty, die sich seit vielen Jahren damit befasst, nennt unterschiedliche Gründe: Vielfach handelt es sich um Menschen in existentiellen Krisen – Trennungen, Jobverlust, Krankheit oder auch gesellschaftliche Krisen wie die Pandemie. Die Verschwörungstheorie, derzufolge alles mit allem zusammenhängt und es immer Schuldige gibt, entlastet von der eigenen Verantwortung. Die Theorie erklärt undurchschaubare Zusammenhänge scheinbar einfach und gibt dadurch ein Gefühl der Kontrolle und Sicherheit zurück. Zugleich kann der Glaube an die eigene Erweckung ein angeschlagenes Selbstbewusstsein aufpolieren nach dem Motto: "Ich habe erkannt, was gespielt wird, ihr anderen seid dumme Schlafschafe". Die neue Zugehörigkeit zu einer verschworenen Gemeinschaft kann darüber hinaus einem Gefühl der Einsamkeit entgegenwirken. Bei Menschen, die grundsätzlich hinter allem Verschwörungen wittern, sprechen Psychologen von einer regelrechten Verschwörungsmentalität. Etwa jede fünfte Person in Deutschland neigt laut FES-Mitte-Studie dazu.

Kein Wunder, dass Sarah Pohl und ihr Team alle Hände voll zu tun haben. Zumal der Weg heraus aus dem Verschwörungsglauben viel länger dauert als der hinein: "Rein geht es durch eine Art Erleuchtungsmoment, aber raus geht es nur schrittweise. Niemand ändert seine Meinung von heute auf morgen." Die gute Nachricht für diejenigen, die es schaffen: Sie lernen, dass sie selbst etwas verändern können. Wer hingegen an geheime Mächte glaubt, ist ihnen auch ausgeliefert.

Wenn Eltern plötzlich krudes Zeug glauben

Damit Menschen gar nicht erst zu Verschwörungsgläubigen werden, ist ZEBRA auch präventiv unterwegs. Die Berater und Beraterinnen sind vor allem mit Workshops an Schulen aktiv. Aber auch ältere Menschen versuchen sie zu erreichen, etwa mit Angeboten zu Medienkompetenz. "An uns wenden sich nämlich sehr viele um die Vierzigjährige, deren Eltern plötzlich merkwürdige Geschichten glauben, die sie aus unseriösen Medien haben", berichtet Pohl.

Gibt es allgemeine Ratschläge zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen, Frau Pohl? "Nicht anfeinden", sagt die Beraterin, nicht in die Schublade stecken. Stattdessen rät Pohl, sich wertschätzend zu äußern – beispielsweise darüber, dass die andere Person ein kritischer Geist sei oder dass sie über ihre Gedanken offen spreche. Erstmal interessiert nachfragen, anstatt direkt zu urteilen. Versuchen, die Gefühle hinter dem Verschwörungsglauben zu verstehen. Den gemeinsamen Nenner suchen. Das Thema nicht alle Gespräche dominieren lassen. Gelassen bleiben, auch mal einen Scherz machen. Und: Geduld haben! Denn es sei mit den Verschwörungsgläubigen wie mit Verliebten: Wer sich in eine Verschwörungstheorie verliebe, so Pohl, sehe daran erstmal alles rosig. Nach etwa sechs Monaten beginnt der Lack zu bröckeln, erste Zweifel keimen. Allerdings nicht, wenn die Umwelt die Verschwörungsgeschichten verteufelt. Denn dann, so Pohl, setze der "Romeo-und-Julia-Effekt" ein: Je heftiger die Eltern des tragischen Liebenspaares die Liaison ablehnten, desto stärker wurde sie. Das Ende war verheerend.

Nicht bei Jan und Yvonne Winter übrigens: Er hat sich impfen lassen. Sie hat sich nicht von ihm getrennt.


* Namen geändert


Info:

ZEBRA Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg, Gartenstraße 15, 79098 Freiburg, www.zebra-bw.de, Telefon 0761 48898296


Lesetipps:

Sarah Pohl, Isabella Dichtel: Alles Spinner oder was? Wie Sie mit Verschwörungsgläubigen gelassener umgehen. Göttingen 2021

Pia Lamberty, Katharina Nocun: True Facts. Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft. Berlin 2021


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6 Kommentare verfügbar

  • Karl P. Schlor
    am 23.12.2021
    Antworten
    Reitschuster ein Verschwörungstheoretiker? Das darf er sein, zumal sich einige Theorien schon als Wirklichkeit entpuppt haben, diese Eigenschaft ist also kein Ausschlußgrund von der BPK.
    Natürlich ist es verlogen, ihm mit seiner Impressum-Adresse den Lebens- bzw. Arbeitsmittelpunkt Berlin und die…
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