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Gewalt gegen Frauen

Tatort überall

Gewalt gegen Frauen: Tatort überall
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Es geht um Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, um physische, sexuelle und psychische Gewalt in Ehen oder Partnerschaften: Jede vierte Frau in Baden-Württemberg hat damit einschlägige Erfahrungen. An Gegenstrategien fehlt es nicht, am Geld allerdings schon.

Der Zustand ist immer noch beschämend. Das Frauen- und Kinderschutzhaus der Diakonie in Heidenheim hat 17 Plätze und durfte im vergangenen Jahr auf einen Landeszuschuss zu "investiven Maßnahmen" von 639 Euro bauen. In Bruchsal gab es bei 23 Plätzen 996 Euro, in Sigmaringen und Schorndorf/Backnang gar nichts. Zugegeben, die vier der insgesamt 43 Einrichtungen liegen am Ende der Förderstatistik. Aber dass überhaupt derart kümmerliche Beträge beantragt, bewilligt und überwiesen werden, muss stutzig machen.

Immerhin mindestens fünfstellige Summen fließen in Prävention und Nachsorge. In Offenburg, wo für die ganze Ortenau 40 Plätze für geschlagene Kinder und Frauen zur Verfügung stehen, waren es knapp 85.000 Euro in zwölf Monaten, in Stuttgart sind es für 72 Plätze rund 130.000. Diese Unterfinanzierung muss endlich beendet werden, sagt Ruth Syren, die Leiterin des Mannheimer Frauenhauses. Und sie sagt es, wie alle ihre Kolleginnen, längst nicht zum ersten Mal.

Denn wie ein roter Faden zieht sich der Kampf um eine zumindest einigermaßen auskömmliche Finanzierung durch die Geschichte der Hilfsangebote, seit bürgerliche Gemeinderatsmehrheiten in Baden-Württemberg Anfang der Achtziger Jahre – spät genug – mühsam akzeptierten, dass häusliche Gewalt keine Privatsache ist. 1996, ausgerechnet nach vier Jahren Großer Koalition im Land, legte der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Erhebung vor, wonach kein anderes Bundesland bei diesem Thema ähnlich knausert wie Baden-Württemberg: pro Kopf zehn Pfennig im Jahr. Sogar in Bayern waren es 15.

Viele schutzbedürftige Frauen fallen durchs Raster

Da war der "Internationale Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen", der sich diesen Woche jährt, schon 15 Jahre alt. Die Betonung lag und liegt auf der Beseitigung. Schon die Einführung des Tages 1981 hatte einen Vorlauf von fast 20 Jahren. In der Dominikanischen Republik waren drei Schwestern von Militärangehörigen ermordet worden. 1999 wurde der 25. November von den Vereinten Nationen offiziell anerkannt. Immer und immer wieder Jahr für Jahr dasselbe Engagement, aber eben auch dieselben Rituale, bis in die jüngste Vergangenheit.

2016 nutzte die damalige SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier das Gedenken, um wieder einmal für eine dauerhafte Absicherung der Frauenhausfinanzierung zu plädieren: "Viele schutzbedürftige Frauen fallen durchs Raster und müssen sich weiter gefährlichen Situationen aussetzen", vor allem, weil die Kostenübernahme am Bezug von Hartz IV der betroffenen Frauen hängt. Sie forderte damals, das Land müsste alljährlich statt 600.000 Euro fünf Millionen ausgeben, um schmerzliche Versorgungslücken zu schließen. Beispielsweise die, dass es bis heute noch immer Kreise ohne jedes Angebot gibt.

Der Bund zahlt inzwischen 3,7 Millionen Euro jährlich bis 2023, aus dem Programm "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" – es könnte übrigens auch Programm gegen gewalttätige Männer heißen, tut es aber nicht. Dazu kamen 2020 vom Land noch einmal 3,7 Millionen Euro. Aus dem Vor-Corona-Jahr 2019 stammen die aktuellen Zahlen. Danach wurden mehr als zehntausend Frauen im Land Opfer häuslicher Gewalt, die Dunkelziffer liegt nach Expertenschätzungen allerdings um ein Vielfaches höher. "Mir persönlich", so Innenminister Thomas Strobl (CDU) im Herbst 2020, "ist es ein großes Anliegen, dass immer mehr Betroffene Hilfe annehmen und die Spirale des Leidens aufbrechen". In ihrem Landtagswahlprogramm hatte die CDU sogar versprochen, "Gewaltschutzhäuser und Beratungsstellen flächendeckend durch eine nachhaltige Finanzierung sicherzustellen".

Die Gewalt wird in der Familie weitergetragen

Anspruch und Wirklichkeit. Wie groß die Kluft ist, die da klafft, weil es zu wenig Plätze gibt, weiß Ruth Syren nur zu gut. Unter anderem deshalb, weil der Leerstand, der für Notfälle vorgehalten werden müsste, durch die Maschen des Finanzierungssystems fällt. Vor allem aber, weil die Spirale des Leidens über eine Generation hinweg oft gerade nicht aufgebrochen wird, sondern Gewalt sich vererbt. Kürzlich stand eine junge Frau vor ihr mit dem Satz: "Ich kenne Sie, ich war schon mit meiner Mutter hier."

Die Beseitigung der Gewalt, die der Internationale Tag anstrebt, ist eine rechtlich unverbindliche Wortwahl, die Unterzeichnung der Istanbul-Konvention hingegen von ganz anderer Qualität. 2014 in Kraft getreten, ist sie seit bald vier Jahren geltendes Recht in Deutschland. "Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen zur Förderung und zum Schutz des Rechts jeder Person, insbesondere von Frauen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich frei von Gewalt zu leben", heißt es in Artikel vier. Und Artikel fünf ist nicht weniger deutlich: "Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen gesetzgeberischen und sonstigen Maßnahmen, um ihrer Sorgfaltspflicht zur Verhütung, Untersuchung und Bestrafung von in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Gewalttaten, die von Personen, die nicht im Auftrag des Staates handeln, begangen wurden, und zur Bereitstellung von Entschädigung für solche Gewalttaten nachzukommen."

Frauenhäuser: Wissenslücken in der Politik

Immer wieder müsse genau das eingefordert werden, sagt Anja Reinalter, die Vorsitzende des Landesfrauenrats (LFR), die seit wenigen Wochen für die Grünen im Bundestag sitzt. An kreativen Mitstreiterinnen ist kein Mangel, auch nicht an kreativen Aktionen, allen voran das Hissen von Fahnen, und das seit zwei Jahrzehnten. 2021 gegen weibliche Genitalverstümmelung, gegen häusliche und sexualisierte Gewalt, gegen Gewalt im Namen der Ehre, gegen Frauenhandel und Prostitution, für Gleichberechtigung und Integration und die internationale Zusammenarbeit für Frauenrechte. "Wir müssen endlich die Augen öffnen", schrieben die Fachfrauen von Terres des Femmes vor einem Jahr, "denn wie kann es sein, dass das eigene Zuhause immer noch der gefährlichste Ort für viele Frauen ist?"

Grün-Rot hatte Baden-Württemberg – nicht als Vorreiter unter den Bundesländern, aber immerhin – einen "Landesaktionsplan gegen Gewalt an Frauen" (LAP) gegeben. Inzwischen hat das Stuttgarter Institut für angewandte Sozialwissenschaften eine Bedarfsanalyse erarbeitet. Der Aufgaben-Katalog ist lang, die Unterversorgung betrifft, wiewohl inzwischen ein Netz von 163 Fachberatungsstellen aufgebaut ist, weiterhin viele Bereiche. Immerhin wird dem LAP bescheinigt, Mängelanzeigen als solche akzeptiert und in den Katalog notwendiger Maßnahmen aufgenommen sind. Und die zur Verfügung stehenden Mittel steigen: 2020 flossen 1,7 Millionen Euro allein in den Landesaktionsplan, im laufenden Jahr sind es 2,3 und 2022, der Haushalt wird gerade beraten, sollen es mindestens genauso viel sein. Was auch für die Summe gilt, die insgesamt in die – siehe oben – Beseitigung fließt: Die ist mit 11,2 Millionen Euro endlich achtstellig und hat sich damit seit 2017 tatsächlich verfünffacht.

Ruth Syren hofft nicht nur auf eine Verstetigung, sondern vor allem darauf, dass die Mittel und notwendige Steigerungsraten gesetzlich fest verankern werden. Endlich, denn es gibt noch eine beschämende Erkenntnis. Auch nach mehr als 40 Jahren Arbeit in Frauen- und Kinderschutzhäuser ist das Wissen über Engagement und Notwendigkeiten viel zu gering. Gerade unter politischen Entscheidern.

Schockierende Beispiele

Sie sind couragiert, ideenreich und selbst betroffen. Sie kämpfen mit Kreide gegen An- und Übergriffe, gegen verbale und körperliche Gewalt. Und sie erfahren nicht immer den Zuspruch, den sie verdienen – ganz im Gegenteil. Franziska Peil ist Aktivistin gegen Catcalling. Der Begriff steht für Anzüglichkeiten vor allem im öffentlichen Raum, etwa verbale sexuelle Belästigung. Die Frauen dokumentieren das Geschehene sofort mit Kreide an Ort und Stelle auf dem Gehweg, dem Platz oder der Straße. "Wir wollen mit schockierenden Beispielen aufrütteln", sagt Peil, "und klarmachen, unter welchen Bedingungen wir leben, auf dem Nachhauseweg, in der Bahn, letztlich überall." Für Peil ist die Benachteiligung eines Geschlechts "auch Ausdruck der Wirtschaftsform, in der wir leben, deshalb müssen wir am System schrauben".

Erstmals hat sich das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen wissenschaftlich mit Catcalling und den Auswirkungen einschlägiger Erfahrungen befasst. Über die Hälfte der Befragten gab an, ängstlicher geworden zu sein, sich seit den Erlebnissen an bestimmten Orten unsicher zu fühlen, besonders wenn sie nachts allein unterwegs sind. 40 Prozent meiden bestimmte Orte oder Routen, acht Prozent haben sogar ihren Kleidungsstil geändert. "Viele Teilnehmende fühlen sich gekränkt, bloßgestellt und zum Objekt herabgewürdigt, manche schämen sich seit den Belästigungserfahrungen ihres Körpers. Depressionen, Schlafstörungen, Müdigkeit oder Antriebsarmut können die Folgen sein", schreibt die Autorin Laura-Romina Goede. Ein entscheidendes Ergebnis der Studie sei, "dass die Sensibilisierung für das Thema in der Öffentlichkeit erhöht werden muss, insbesondere an Orten und Plätzen, an denen Catcalling vermehrt auftritt". Und noch ein Ergebnis liegt auf dem Tisch: 84 Prozent der fast 4.000 online Befragten sind dafür, gegen die Täter Geldbußen oder -strafen zu verhängen.  (jhw)


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