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Migration

Verloren in Europa

Migration: Verloren in Europa
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Datum:

Demz kam 2015 aus Gambia nach Europa, um seinen Traum zu verwirklichen: eine Ausbildung bei Daimler. Beinahe hätte er es geschafft. Heute lebt er illegal in Spanien und erntet Orangen.

Orangen. Sie wachsen in den Sonnenregionen Europas, werden geerntet und nach Deutschland transportiert, um haufenweise im Obstregal zu liegen, oft angestrahlt von speziellen Scheinwerfern, die sie noch frischer, noch gesünder aussehen lassen, zwischen all dem Viel-zu-viel einer deutschen Überflussgesellschaft. Unseren Spargel ernten Minderbezahlte, unser Fleisch wird von Ausgebeuteten zerteilt. Und die Orangen? Die hat vielleicht Demz* geerntet.

Ich habe ihn bei einem Schulprojekt von Kontext mit Geflüchteten und MigrantInnen an der Gottlieb-Daimler-Schule in Sindelfingen kennengelernt. Damals war er um die 20, ein ruhiger Typ, klug, immer da, immer pünktlich, einer, der unbedingt lernen wollte, das war das wichtigste.

Einmal saß er auf seinem Platz, das Schreiben über seinen abgelehnten Asylantrag in der Hand. Er sei doch ein gesunder junger Mann, der es schon alleine schaffe, hatte ihm das Bundesamt für Migration mitgeteilt. Demz weinte bitterlich. Er war beschämt und frustriert. Ich solle darüber schreiben, wie sehr einen wie ihn die Angst auffrisst, wie schlimm es ist, nicht schlafen zu können, weil man nicht weiß, ob man in der nächsten Nacht von Polizisten geweckt wird, die einen dahin verfrachten, wo man hergekommen ist. Er will nicht mehr zurück nach Gambia. Der Einsatz, nach Europa zu kommen, wo vermeintlich Milch und Honig fließen, war viel zu hoch.

Dann ist sein Platz in der Klasse leer. "Abgehauen", sagte ein Klassenkamerad. Ein Jahr hätte er noch gebraucht, um für eine Lehrstelle bereit zu sein, erzählte mir seine Lehrerin. Seine Zeugnisse, eine Sammlung von Einsen und Zweien.

Irgendwann finde ich ihn über Facebook und sende ihm den Projekt-Film, an dem er mitgearbeitet hat. Er lebe jetzt in Spanien, schreibt er mir.

16.2.2019, 11 Uhr 59: "Ich bin traurig, weil ich meine Klasse vermisse. Aber ich schlafe besser, weil ich nicht über meine Abschiebung nachdenken muss. Ich werde die Hoffnung nie aufgeben. The sky is the limit."

Demz ist nun Erntehelfer, wie so viele Migranten aus Afrika, die sich in die Illegalität flüchten, weil sie in Deutschland kaum Asyl bekommen. Wir sind lose in Kontakt, senden uns Grüße, anfangs auf Deutsch, später auf Englisch. Er schickt Fotos von Plantagen, von einem Lagerfeuer am Morgen kurz vor Arbeitsbeginn. Manchmal klingt er verzweifelt, schreibt, dass er zurück will nach Deutschland. Einmal streiten wir, weil ich mit urdeutschem Background nicht verstehen kann, warum er freiwillig papierlos in Spanien lebt, entrechtet und abhängig von Obstfarm-Besitzern, anstatt in Gambia zwar nicht reich, dafür aber befreit.

6.11.2019, 1 Uhr 12: "Es tut mir sehr leid, dass ich nicht auf deine Nachricht antworte, aber ich bin sauer auf dich. Ich kann nicht ohne einen Beruf nach Gambia zurückkehren. Ich brauche eine Fähigkeit für meine Zukunft und meine Zukunft ist in Europa. Es tut mir leid, aber das ist mein Traum. Ich werde jetzt versuchen, hier legal zu sein." Sein Traum kommt immer wieder vor in unseren Gesprächen. Der Traum, eine Lehre bei Daimler zu machen. Auf der Berufsschule in Sindelfingen war er zum Greifen nahe. 

Corona trifft Spanien hart, strikte Ausgangssperre. Es gibt keine Jobs für Erntehelfer, Demz und seine Kollegen leben sieben Wochen in einer kleinen Wohnung. Er habe seine ganze Freude verloren, schreibt er, weil er dauernd Nachrichten schaue. Als die Ausgangssperre vorbei ist, geht er lange spazieren. "Die Welt sieht plötzlich ganz anders aus. In den Parks ist das Gras ganz hoch gewachsen. Ich bin froh, dass es vorbei ist."

Dann erzählt er mir seine Geschichte, über Wochen, in dutzenden Nachrichten.

Die Reise

"Anna, this is a sad story. I sometimes see it as how we watch other movies. This will forever remain in my memory. It was a crazy journey."

Demz kommt aus dem kleinsten Land in Afrika. Aufgewachsen unter Diktator Jammeh, losgezogen 2015 mit einem Buch, einer Hose und einem Hemd in der Tasche und seinem Traum im Herzen. "Ich hatte nicht viel dabei, weil ich wusste, ich werde auf dem Weg alles verlieren", schreibt er.

"Es war eine verrückte Reise. Manchmal wundere ich mich, wie ich da lebend rausgekommen bin. Ich bin mit einem Freund losgegangen. Von Gambia nach Kaolack im Senegal, von dort sind wir mit dem Bus nach Mali gefahren. Es war ein schlimmer Tag. Ich habe mich gefreut und war gleichzeitig sehr traurig, weil ich nicht wusste, ob ich jemals zurückkomme. In meinem Kopf war alles durcheinander. Und es war wahnsinnig heiß in diesem Bus.

Gewalt

Ich habe sehr viel Brutalität erlebt auf dem Weg. Vor allem an den Checkpoints. Die Migranten waren ein lukratives Geschäft. Im Senegal haben sie das erst spät erkannt, aber in Burkina Faso und Niger gab es viele Checkpoints. Leute, die den Übergang nicht zahlen konnten, haben sie verprügelt oder in eine Zelle gesteckt.

Im Bus war es schrecklich. So viele Menschen mit unterschiedlichem Background. Es war überfüllt und jeder wollte irgendwie bequemer sitzen. Da wurde versucht zu klauen, man wurde beleidigt, es kam zu Angriffen. Es war unglaublich weit und unser Bus in schlechtem Zustand. Zweimal hatten wir eine Panne, einmal in der brennenden Sonne in der Wüste. Ich dachte, ich sterbe.

In Burkina Faso saß ich selbst in einer Zelle. Manchmal haben sie jemanden rausgeholt, der nicht zahlen konnte, haben ihn aus Spaß verprügelt und laufen lassen. In Zoula, auch in Burkina Faso, sind wir 23 Tage in einem Haus festgehalten worden, ich habe 23 Tage die Sonne nicht gesehen. Ein Schmuggler hatte uns in ein Versteck gelockt und ist nur gekommen, um Leute zu holen, die auf seiner Rinderfarm arbeiten mussten.

Wüste

Vor der Wüste hatte ich Angst, weil ich wusste, dass sich manche verirren und sterben. Du weißt nicht, wo du bist. Keine Bäume, keine Häuser, du hast keine Ahnung, wo es lang geht oder was als nächstes passiert. Das weiß nur der Fahrer.

Man kann lange aushalten ohne Essen, aber wir hatten zu wenig Wasser dabei. Manche hatten nur Milchpulver und Garri. Garri ist ein Gericht aus Nigeria, man isst es mit Milch und Zucker, nicht als Pulver. Je müder und durstiger wir waren, desto schlimmer wurde es. Nachts haben wir ohne Decken auf kalten Felsen geschlafen. Und die ganze Zeit ist dein Gesicht voller Sand. Sowas will ich nie wieder erleben.

Auf so einer Reise passieren viele schlimme Dinge. Aber überall, in Verstecken oder an Haltestationen, habe ich nette Menschen getroffen. Welche, die jeden zum Lachen gebracht haben. Das hat mir immer gezeigt: es werden leichtere Zeiten kommen. Geduld ist das wichtigste auf so einer Reise. Geduld hat mir meine Mutter beigebracht. Sie sagt, mit harter Arbeit und Geduld wirst du deine Träume erreichen. Geduldig zu sein hat großen Einfluss auf ein Leben.

Libyen

Libyen war die Hölle. Ein völlig wahnsinniges Land! Ich hatte das Gefühl, dort besitzt jeder eine Waffe. Es gab jede Art von Misshandlung, die man sich vorstellen kann. In Sabha sind wir gekidnappt worden. Wir saßen in einem Haus fest mit einem Zaun drumherum. Am zweiten Tag ist einer von uns über das Dach nach draußen geklettert, hat die Tür aufgebrochen und wir sind abgehauen. Manche wurden geschnappt, ich habe es mit sechs anderen geschafft.

Von dort waren es noch ein paar Tage bis Tripolis. Ein Boot zu bekommen war stressig, es war großes Gedränge, weil keiner zurückgelassen werden wollte. Uns wollten sie auch nicht mitnehmen, dabei waren wir nur ein paar Leute. Wir sind dann ins Meer gelaufen und kamen doch noch mit. Es waren unglaublich viele Boote auf dem Wasser.

Am 30. Mai 2015 bin ich gerettet worden. Ich war die 24. Person, die das deutsche Rettungsschiff betreten hat. Ich bin den Deutschen unendlich dankbar. Sie haben so viele Leben gerettet an diesem Tag.

Europa

Als ich in Europa ankam, war ich glücklich. Aber nach einer Woche wusste ich, dass es schwer werden würde. In Sardinien wurden wir verschiedenen Lagern zugeteilt. Meines war schlimm runtergekommen, in einer Halle lagen Matratzen auf dem Boden. Es gab weder Toiletten noch Duschen. Sie haben uns dann draußen ein ungeschütztes Bad gebaut. Ich war eine Woche dort, ohne Schuhe, bis ich welche in Größe 45 bekommen habe, die waren viel zu groß. Das war lustig.

Nach einem Monat sind wir verlegt worden. Das Haus war besser, aber überfüllt. Es gab eine Menge Stress. Dennoch: Ich hatte in Libyen so große Angst, in Italien konnte ich ohne Angst einschlafen. Ein Jahr habe ich auf Sardinien gelebt und versucht, eine Schule zu besuchen. Keine Chance. Also habe ich beschlossen, Italien zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Das war im Sommer 2016.

Ich dachte, nach all dem, was ich erlebt hatte, würden die Dinge für mich irgendwie besser laufen. Aber plötzlich ist alles zusammengebrochen. Es war eine riesige Enttäuschung. Ich war neun Monate in Flüchtlingslagern. In Heidelberg im Patrick Henry Village, in Mannheim, in Freiburg. Das Lager in Freiburg war übel, dafür waren die Leute herzlich und die Stadt sehr schön. Dann bin ich nach Sindelfingen gekommen. Sindelfingen war gut, ich hatte eine gute Zeit.

Der Tag, an dem ich Deutschland verlassen habe, war sehr traurig. Ich bin gleich nach der Schule los, mit dem Zug nach Karlsruhe, nach Paris, nach Bordeaux, bis in eine Stadt am Meer zu einer Verwandten. In Frankreich war ich vier Monate, aber da gab es keine Zukunft für mich. Mit dem Flix Bus bin ich dann nach Barcelona gefahren, ich weiß noch, es war abends um 21 Uhr 45. Die Reise war anstrengend, weil ich ohne Dokumente unterwegs war, und hätte mich die Polizei erwischt, hätten sie mich aufgehalten.

Migration

Wenn du nach Europa kommst, wirst du dauernd gefragt, warum du hergekommen bist. Du bist nicht willkommen hier. Wenn Menschen aus der EU nach Afrika kommen, ist es ganz anders. Dabei sind die Europäer selber viel migriert, als es für sie nicht so gut gelaufen ist, sie haben das nur vergessen. Die Europäer sind früher auch mit Schiffen übers Meer nach Afrika gefahren, die selbe Strecke, die wir heute nehmen. Und hier nennen sie uns dann Illegale oder Wirtschaftsflüchtlinge. Ich finde, jeder Mensch hat das Recht auf Migration. Ich habe in Gambia von White Supremacy gehört, aber erst hier erfahren, was das wirklich bedeutet. 400 Jahre lang waren wir Sklaven, und heute sind wir es in zivilisierter Form noch immer. Die Welt ist voll mit Ungerechtigkeit, Hass und Gewalt gegen schwarze Menschen. Das ist traurig und schmerzhaft.

In meinem ersten Jahr in Spanien war es sehr schwer für mich, alles schien wie Survival of the fittest. Wenn du nicht so stark bist, ist es hart zu überleben, ich konnte nicht mehr lachen. Nach und nach habe ich dann begriffen, wie die Dinge hier laufen und ich habe verstanden, dass ich nicht der einzige bin, der kämpft. Ich habe mich bei einer Firma registriert, die Integrations-Kurse anbietet. Dann kam Covid-19 und die Schulen waren zu.

Im Moment arbeite ich als Erntehelfer auf Orangen-Plantagen. 120 Euro zahle ich im Monat für meine Unterkunft, wenn es keine Jobs gibt, mache ich Schulden. Ich hoffe auf einen Arbeitsvertrag. Manche Farmer wollen, dass du viele Jahre für sie arbeitest, bevor du einen bekommst. Mit einem Arbeitsvertrag kannst du eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Ich hoffe, dass Gott mir helfen wird.

Illegalität

Ohne Papiere zu leben macht dich krank, es frisst deine Träume und es verändert deine Persönlichkeit, obwohl du das nicht willst. Es tut weh, weil du merkst, dass du kein Teil der Gesellschaft bist. Oft kommst du nur auf illegalen Wegen durch. Manche dealen, andere prostituieren sich.

Ich komme aus einem der ärmsten Länder der Welt. Bei uns fehlt es einfach an allem. Hier ist es viel besser, deshalb ist es so schwer zurückzugehen. Ich kann unmöglich zurück nach Gambia, auf keinen Fall, ich wäre für immer der Loser, der es nicht geschafft hat. Es ist wirklich sehr schlimm, wenn man abgeschoben wird. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich in Spanien bleibe und darauf hoffe, irgendwann anerkannt zu werden. Ich will keine Angst mehr haben. Ich möchte frei sein."

Und so endet Demz lange Reise erstmal in Spanien, wo er Orangen erntet. Orangen, die nach Deutschland exportiert werden, um hier haufenweise in den Regalen der Supermärkte zu liegen. Rund und gesund. Zwischen all unserem Überfluss. Und eigentlich wollte Demz nur eine Lehrstelle bei Daimler.


* Der richtige Name ist der Redaktion bekannt, wir haben ihn hier zur Sicherheit geändert.


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3 Kommentare verfügbar

  • Susanne Jallow
    am 17.07.2021
    Antworten
    Es göbe sehr viel weniger dieser traurigen Geschichten, wenn die Staaten der EU großzügig Ausbildungsvisa vergeben würden.
    Es göbe auch weniger dieser traurigen Geschichten, wenn die jungen Reisenden denen glauben würden, die ihnen erzählen, dass sie nicht einfach zu Arbeit und Ausbildung kommen,…
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