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Kolumbien und Sig Sauer

Tote am ersten Tag

Kolumbien und Sig Sauer: Tote am ersten Tag
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In Kolumbien schießt die Polizei auf junge Protestierende und weltweit solidarisieren sich Menschen auf Kundgebungen gegen die Gewalt. Die Stuttgarter Community tut sich dabei schwer. Und erwartet dennoch mit Spannung ein Urteil gegen den deutschen Waffenhersteller Sig Sauer.

Endlich steht die Verbindung. Señora Milena ist am Telefon, sie erzählt mit knappen Sätzen, was am ersten Mai dieses Jahres geschah. Ihr Sohn Santiago habe sich auf den Weg nach Hause gemacht, Ortszeit etwa 20.20 Uhr, die Hände in den Hosentaschen. Sie sei daheim gewesen, in Ibagué. Dann der Anruf ihrer Schwester: Santiago ist im Krankenhaus, sein Zustand sehr schlecht. Milenas Stimme bricht. "Mein Sohn wurde durch eine Kugel getötet, die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun", sagt sie. Santiago Murillo wurde 19 Jahre alt.

Er war ein ambitionierter Sportler – sein Fall ging landesweit durch die Medien. In der Stadt Ibagué, eingebettet in die kolumbianische Andenregion, hatten junge Menschen gegen die Regierung protestiert. Der 19-jährige Sportler war jedoch nicht unter ihnen. Er geriet zufällig zwischen die Frontlinien. Wo sich diese eigentlich befinden, wird in Kolumbien derzeit mit dem Blut zumeist friedlich Protestierender demarkiert.

Enttäuschende Resonanz

Seit dem 21. November 2019 erlebt der südamerikanische Staat die größte Protestwelle seiner Geschichte. Lediglich durch die Pandemie zeitweise unterbrochen, brach sich der Frust der Bevölkerung über ein ganzes Bündel an Problemen Bahn. Korruption, massive Gewalt gegen Umwelt- und SozialaktivistInnen, extreme Ungleichheit – und nicht zuletzt die schwierige wirtschaftliche Situation. Der "Paro nacional", also ein bundesweiter Streik, sollte die Regierung zum Handeln bewegen. Die Reaktion damals: Gewalt. Etwa 170.000 Polizisten schickte die Regierung. Sie sollten die 200.000 (laut Behörden) bis zu einer Million (laut OrganisatorInnen) Protestler in Schach halten. Bereits am ersten Tag gab es drei Tote.

In Stuttgart fällt der kolumbianische Widerstand zahlenmäßig etwas geringer aus. Sechs Aktivistinnen besprechen auf dem Marienplatz die Lage. Die Sonne sticht auf den Boden und in die Gesichter. Die Musik scheint Selbstfindung zu betreiben: Schallwellen mäandern zwischen Chart-Hits, Elektro-Pop und hartem Psy-Trance. Eine überproportionale Zahl an Brusttaschen und vermeintlich modischen Anglerhüten deutet auf ein sehr junges Publikum hin. Doch die Sommerferien-Szenerie trügt. Denn die sechs Frauen sprechen über Menschenrechtsverletzungen, Verschwundene, Gewalt und ökonomische Perspektivlosigkeit in Kolumbien. Eigentlich wäre heute Demo gewesen.

Dania Reyes ist enttäuscht. Sie kramt ihr Handy hervor, zeigt die WhatsApp-Gruppe "Paro Nacional Stuttgart" mit 134 Mitgliedern. Nur acht davon hätten sich zurückgemeldet – darunter einige OrganisatorInnen. "Vielleicht sehen manche keine Notwendigkeit mehr für Protest, sobald sie hier leben. Aber mich macht das traurig", sagt die 27-Jährige. Die Organisatorinnen zogen den Stecker aufgrund der mageren Resonanz.

Wer sich dagegen in Kolumbien an den Protesten gegen die Regierung beteiligt, lebt gefährlich. "Mein Cousin Cristian kann ein Lied davon singen", sagt Dania Reyes. Ein paar Versuche per Telefon, vergebliches Tuten – dann nimmt er ab. Cristian Torres zeichnet die Geschehnisse nach. 16. Mai dieses Jahres, ein friedliches Zusammenkommen, Musik, gute Laune. Eine Mini-Demo in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, knapp 200 Menschen sind anwesend – auch Kinder und Senioren. Unbekannte versuchen, eine Statue anzuzünden. Die Stimmung kippt. Sein Cousin, mit dem er unterwegs war, meinte noch: Bald könnte es ungemütlich werden, wir sollten uns losmachen. Innerhalb von zehn Minuten, erzählt Torres, waren Einheiten der ESMAD vor Ort.

Die sogenannte "Escuadrón Móvil Antidisturbios" ist eine gefürchtete Sonderheit der Polizei. Sie bekommt viele ihrer Waffen aus den USA geliefert – was die Menschenrechtsorganisation Amnesty International scharf kritisiert. Sie fingen an, führt er weiter aus, Demonstranten zu attackieren. Schüsse seien zu hören gewesen. Er und sein Cousin versuchten zu fliehen. Beide verlieren sich in der Verwirrung und dem Chaos der Nacht. Schließlich holt die Polizei Torres ein. Er erzählt, wie die ESMAD-Einheiten mehrfach hart und gezielt zuschlugen, obwohl er keinen Widerstand leistete. Auch in den Genitalbereich. "Sie werden ausgebildet, Menschen so zu verprügeln, dass keine Spuren am Körper bleiben", behauptet er. "Sie sagten immer wieder zu mir: ‚Wir werden dich töten. Wir werden dich verschwinden lassen.‘" Später hätten sie ihn gehen lassen, sein Telefon aber eingesackt.

Friedliche Demonstranten als "Terroristen"

Mini-Möhrchen mit pikantem Hummus und dunkle Trauben zieren das Buffet der Aktivistinnen in Stuttgart. Dazu wird Weizenbier serviert. Sie planen bereits die nächste Aktion. Vielleicht etwas mit Essen? Empanadas? Oder: Botschaften mit Sprühkreide auf den Boden malen. "Zum Beispiel #SOSKolumbien", schlägt Nataly González vor. Sie ist seit November 2019 Teil der Stuttgarter Soli-Gruppe. Sie erinnert sich: Zur allerersten Demo auf den Schlossplatz kamen über 200 Leute.

Was die Breaking News angeht, schüttelt González nur den Kopf. Der Helikopter des kolumbianischen Präsidenten Iván Duque wurde vergangenen Freitag im Grenzgebiet zu Venezuela beschossen. Die Regierung spricht von einem Attentat. "Nebelkerzen", kommentiert die Aktivistin knapp. Alle hier eint die Abneigung und ein immenses Misstrauen gegen die Duque-Regierung. Der kolumbianische Präsident Iván Duque steht in der Tradition seines Vorgängers Álvaro Uribe: rechtsgerichtet und mit einer Vorliebe für militärische Lösungen. Die Proteste, die Unzufriedenheit der Bevölkerung – die Regierung argumentiert mit dem gängigen Narrativ, es handle sich um "Terroristen", welche Staat und Ordnung untergaben wollen.

Auf die Straße trieb die Menschen auch eine angekündigte Steuerreform, die mittlerweile wieder gekippt wurde. Duques neoliberaler Ansatz hatte zum Ziel, die Mehrwertsteuer zu erhöhen sowie mit einer höheren Steuerlast für geringe und mittlere Einkommen das durch die Pandemie entstandene Defizit im Staatshaushalt auszugleichen. Man fürchtete die Abstufung des Staates durch Ratingagenturen.

Keine Gefahr im Verzug

Insgesamt 75 Ermordete zählt die Organisation Indepaz aus Bogotá aktuell im Zusammenhang mit den Protesten des "Volksaufstandes", wie er gelegentlich auch genannt wird. Der getötete Santiago Murillo ist Nummer 13 auf der Liste. Für Milena Meneses, die ihren Sohn durch die Willkür eines autoritären Staates verloren hat, bleibt zumindest ein Trostpflaster: Ermittlungen wurden schnell aufgenommen. Das ist in Kolumbien keine Selbstverständlichkeit. Doch die Beweislast ist erdrückend. Fix besorgte sich die Staatsanwaltschaft die Überwachungsvideos der Nachbarschaft, die den Vorfall zeigen.

Der Bericht des Krankenhauses, der auch Kontext vorliegt, bestätigt den Tod durch ein abgefeuertes Projektil. Ein ballistisches Gutachten der Kugel belastet den Täter zudem. Der Hörfunksender "RCN Noticias" berichtet, dass der verantwortliche Polizist Jorge Mario Molano Bedoya nun ins Gefängnis muss. Der zuständige Richter führte aus, dass der getötete Santiago Murillo keine Verbindungen zu den Protesten aufwies. Gefahr habe nicht bestanden, er sei einfach unterwegs gewesen – mit den Händen in den Hosentaschen.

Menschenrechtsverletzungen mit Waffen made in Germany

Zur Erinnerung: Im September 2014 attackierten Polizeieinheiten im mexikanischen Ayotzinapa etwa 100 unbewaffnete linke Studenten. 43 von ihnen verschwanden. Die Ereignisse lösten ein Kollektivtrauma aus, das Proteste bis heute nach sich zog. Damals besaß die Exekutive vor Ort 37 Heckler & Koch-Gewehre (Typ G36), von denen in der Nacht des Massakers mindestens drei abgefeuert wurden.

Der deutsche Waffenfabrikant Sig Sauer versuchte es zumindest mit Kreativität. Das Kunststück gelang folgendermaßen: Die US-Tochterfirma von Sig Sauer importierte Pistolen aus Deutschland. Es wurde einfach behauptet, die USA seien das Endbestimmungsland. 47.000 Handfeuerwaffen schaffte Sig Sauer in die Staaten, 38.000 davon wurden dann rechtswidrig nach Kolumbien geliefert. Recherchen der Organisation "terre des hommes" wiesen nach, dass besagte deutsche Waffen zum Teil auch kriminellen Gruppierungen in die Hände fielen. Ebenfalls dokumentiert sind Fälle, "in denen Sig Sauer-Pistolen von den kolumbianischen Streitkräften bei der Ermordung von Kindern benutzt worden sind", wie es in einer 2020 erschienen Studie von terre des hommes heißt.

Wer hätte das ahnen können?

11,1 Millionen Euro soll das Unternehmen nach Angaben des Landgerichts Kiel damit verdient haben. Diese Summe soll mittels einer sogenannten Gewinnabschöpfung, beantragt durch die Staatsanwaltschaft, wieder eingezogen werden. Drei Ex-Manager bekamen im April 2019 Bewährungs- und Geldstrafen in unterschiedlicher Höhe. Mitte 2020 kündigte Sig Sauer an, sich aus Deutschland zurückziehen zu wollen. Die Produktion soll in die USA verlegt werden. Laut NDR bekam der Waffenhersteller noch im selben Monat am Standort Eckernförde Besuch von Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll.

Dass deutsche Pistolen gegen die Demonstranten eingesetzt werden, ist wahrscheinlich – Polizei- und Militäreinheiten wurden mit Sig Sauer-Waffen ausgestattet. Zweifelsfrei belegbar ist dies jedoch nicht. Gegen die Gewinnabschöpfung legte das Unternehmen Revision ein. Morgen (1. Juli) entscheidet der Bundesgerichtshof in Karlsruhe.

Update: Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe gab der Gewinnabschöpfung statt und verpflichtete den Waffenhersteller zur Zahlung von über 11 Millionen Euro. Anwalt Holger Rothbauer der "Aktion Aufschrei" kommentierte und begrüßte die Entscheidung des Gerichts: „Dies ist die höchste Summe, die je von einem Kleinwaffenhersteller eingezogen worden ist! Der Bundesgerichtshof hat damit bestätigt, dass illegaler Waffenhandel die Verantwortlichen teuer zu stehen kommt." 2014 hatte eine Strafanzeige des Bündnisses  den Prozess angestoßen.

(mos)


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