KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Linke Militanz vor Gericht

Tatort Stuttgart, Nürnberg und Berlin

Linke Militanz vor Gericht: Tatort Stuttgart, Nürnberg und Berlin
|

Datum:

Am Dienstag kam am Landgericht Stuttgart der "Mieze"-Prozess in die Gänge. Es geht um zweimal versuchte Brandstiftung und Nötigung in rund 40 Fällen, mutmaßlich aus dem linksradikalen Umfeld. Wuchs da eine neue RAF heran? Der erste Eindruck ist komplett anders.

Nicole G. wollte nach eigener Aussage für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Doch was brachte sie und ihren seit August 2020 Verlobten Martin E. – wenn sich die Tatvorwürfe der Staatsanwaltschaft bewahrheiten – dazu, dies mit Gewalt tun zu wollen? Wie haben sich die beiden radikalisiert? Das ist noch offen. Auch wenn die beiden in ihren Drohschreiben, die sie mit "Militante Zelle (MIEZE)" und "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ)" unterzeichneten, einen anderen Eindruck vermitteln wollten: Nach derzeitigem Stand sind die beiden Einzeltäter. 

Fünf Wellen Drohbriefe

Was legt ihnen die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zur Last? In fünf Wellen sollen sie von Stuttgart und Berlin aus insgesamt rund 40 Drohbriefe versandt haben – im Höchstfall an 17 EmpfängerInnen gleichzeitig. Die erste Welle ging zum Jahreswechsel 2019/2020 an die umweltpolitischen Sprecher verschiedener Bundestagsfraktionen und an den Präsidenten des Umweltbundesamts, beigefügt war eine Platzpatrone. Die Täter warfen den EmpfängerInnen vor, sie täten nichts gegen "Ausbeutung, Faschismus, Gentrifizierung" und zeigten "Ignoranz gegenüber Klimaproblemen".

Zu den Empfängern der zweiten Welle gehörten das Bundesverfassungsgericht und Bundesinnenminister Horst Seehofer, in ihrem zweiseitigen Schreiben forderten die Täter unter anderem die Abschaffung der Polizei und von Hartz IV sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1500 Euro netto. Beigelegt waren Grillanzünder, Streichhölzer und 50 Milliliter brennbare Flüssigkeit. Den Drohbriefen der dritten Welle, erneut an Politiker versandt, waren Küchenmesser mit einer etwa acht Zentimeter langen Klinge und Fotos von Marionetten beigefügt. Die Politiker seien Lakaien der Wirtschaftslobbyisten, so war im Brief zu lesen. Die Fäden, an denen die Politiker hingen, müssten brennen – oder sie sollten mit dem beiliegenden Messer selbst durchtrennt werden.

Die vierte und größte Welle ging unter anderem an die Innenminister der Länder, diesmal lag eine Neun-Millimeter-Gaspatrone bei. Die fünfte und letzte Welle mit Grillanzündern und Feuerzeug betraf große Verkehrsbetriebe, sie sollten aufhören, Schwarzfahrer zu verfolgen, der ÖPNV sollte kostenlos werden.

Zwei gescheiterte Brandanschläge

Es blieb nicht bei Forderungen und Drohungen: Am Morgen des 2. August 2020 standen an einem unbenutzten Notausgang der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg vier zusammengeklebte Plastikflaschen mit einem Gemisch aus Benzin und Öl, dazu ein Grillanzünder. Doch die Absicht des von Überwachungskameras gefilmten Täterpaares, einen Brand zu legen, misslang: Der Anzünder zerstörte das Klebeband und fiel zu Boden. Ein Gutachten kam zum Ergebnis, der Brandsatz hätte eine 2,50 Meter hohe Flamme erzeugen, das Glas der Türe zerstören und den angrenzenden Flur und das Treppenhaus verrauchen können. Auch ein ebenfalls missglückter Brandanschlag auf die Villa des Wurstfabrikanten Clemens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück wird dem Paar vorgeworfen. Dort kamen die TäterInnen nur bis zur Zufahrt der Villa. In Nürnberg wurden am Tatort DNA-Spuren der Angeklagten gefunden.

Nach Ansicht der Stuttgarter Staatsanwaltschaft sind G. und E., beide Jahrgang 1981, für die Taten verantwortlich. Bevor sich die Zwei nach Berlin abgesetzt hatten, wo sie bei der Räumung eines besetzten Hauses Ende Oktober 2020 vorläufig festgenommen wurden, haben sie als Paar in Stuttgart-Bad Cannstatt gelebt. E. war als stellvertretendes Mitglied für die Piratenpartei im Bezirksbeirat. Die Piratenpartei ist in Stuttgart zusammen mit der Linken, der Tierschutzpartei und dem Bündnis "Stuttgart Ökologisch Sozial" (SÖS) Teil der "FrAKTION" im Stuttgarter Gemeinderat.

Auch wenn E. nur Stellvertreter im Bezirksbeirat war, meldete er sich öffentlichkeitswirksam zu Wort. Aufsehen erregte seine Forderung, die Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart umzubenennen, denn der Namensgeber ist nicht nur ein Opfer der RAF, sondern hat auch eine aktive Nazi-Vergangenheit. E. schlug vor, die Halle stattdessen nach dem Stuttgarter Kommunisten Walter Häbich zu benennen, dieser wurde im Juni 1934 von der SS erschossen. Der Vorschlag zur Umbenennung fand in anderen Parteien sowohl Gegner als auch Befürworter und der Streit dauert noch an.

Zwei Jahre in Disney World

Nicole G. hatte als Jugendliche beim Rückblick auf die Zeit des Nationalsozialismus etwas ganz Spezielles inspiriert: Sie las Berichte, wie in dieser Zeit die Zeugen Jehovas, damals "Bibelforscher" genannt, verfolgt und in Konzentrationslager gebracht wurden. Auch diese Gruppe gehörten damals zu den Verfolgten. Nicole G. wuchs als Kind und Jugendliche in dieser Glaubensgemeinschaft auf, erlebte sie als autoritäres System. Im Jahr 1995 stieg sie aus.

Ausführlich ließen sich die Richter den bisherigen Lebens- und Berufsweg der beiden Angeklagten schildern. G. berichtete von einem alkoholsüchtigen Vater, der die Mutter schlug, von zwei Scheidungen ihrer Mutter. Vier Berufsausbildungen hat sie angefangen und nie zu Ende gebracht, ihre Anstellungen waren meist nur kurz, seit 2014 ist sie zu 40 Prozent als schwerbehindert anerkannt. "Es hat in meinem Leben nie etwas richtig geklappt, aber ich gebe nicht auf", sagte sie dem Gericht. Als sie merkte, dass sie nicht mehr für sich selbst garantieren kann, lies sie sich freiwillig in die Psychiatrie einweisen.

Immer wieder nahm G. psychiatrische Hilfe in Anspruch. Sie schaffte es aber auch, zweimal ein Jahr lang in Disney World in Florida zu arbeiten: "Ich bin noch heute stolz drauf." Vom Gericht nach ihren Zukunftsplänen gefragt, sagte sie, sie wolle ihren Verlobten heiraten – sie beschrieb ihn als "die Liebe meines Lebens" – und mit ihm nach Heidelberg ziehen. Dort habe sie eine Stelle als Sprechstundenhilfe in Aussicht. Dass sie immer wieder neu aufgestanden ist, erkannte das Gericht ausdrücklich an.

Nur wenige Zuhörer

Als sein Vater, der wegen der Arbeit selten da war, beruflich nach Asien ging, kam Martin E. auf eine internationale Schule in Hongkong – ohne ein Wort Englisch zu können. Nach viereinhalb Jahren zog er dann in einen deutschen 5000-Einwohner-Ort. Mit 19 Jahren hatte er einen epileptischen Anfall, die Probleme dauern bis heute an. Nach seiner Ausbildung zum Bürokaufmann arbeitete er in der Schadensregulierung einer Versicherung. Berichte über Kinderarmut in Deutschland und die Berliner Arche packten ihn: "Ich wollte was tun." Er machte eine zusätzliche Ausbildung zum Jugend- und Heilerzieher. Auch sein weiterer beruflicher Weg verlief sehr unstetig. Nun würde er gerne in den sozialen Bereich zurück, etwa in die Betreuung von Menschen mit Behinderungen oder die Inklusionspädagogik.

Das alles ist keine Rechtfertigung für Gewalt – aber es klingt nicht nach zwei abgebrühten Radikalen in professionell strukturierten Organisationen.

Zur Verhandlung waren nur wenige Zuhörer gekommen, darunter ein paar Bekannte der Angeklagten. Einer davon musste gleich wieder gehen, weil er eventuell später als Zeuge aussagen soll. "Tut mir leid, das Gesetz ist so", sagte der sehr rücksichtsvoll und verbindlich agierende Vorsitzende Richter. Am Anfang waren zwei Pressefotografen trotz der Corona-Plexiglasscheiben um Fotos der beiden Angeklagten bemüht, ein paar weitere schreibende Presseleute im Saal. Sie waren am Nachmittag, als die Verhandlung fortgesetzt wurde, alle weg, auch der am Vormittag lange schlafende Kollege.

Sie wolle "kämpfen für eine bessere Gesellschaft", schrieb Nicole G. im Juni 2020. So ein Kampf kann politisch und friedlich geschehen: Sie wurde zur 2. Landesvorsitzenden der ödp gewählt, einer wertkonservativen, ökologisch orientierten Kleinpartei. Seit diese von der Anklage erfuhr, lässt sie die beiden Parteimitgliedschaften ruhen – auch E. ist ödp-Mitglied. Falls sich die Vorwürfe bestätigen, kündigte Bundeschef Christian Rechholz den sofortigen Ausschluss der beiden an.

Warum entschlossen sich die beiden Beschuldigten – sofern sich die Anklage bewahrheitet –, ihren "Widerstand" und "Kampf" mit Gewalt zu führen? Das werden die weiteren Verhandlungstage hoffentlich erhellen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


4 Kommentare verfügbar

  • Tanja Tasche
    am 01.05.2021
    Antworten
    Erstaunlich:

    "Zu den Empfängern der zweiten Welle gehörten das Bundesverfassungsgericht und Bundesinnenminister Horst Seehofer, in ihrem zweiseitigen Schreiben forderten die Täter unter anderem die Abschaffung der Polizei und von Hartz IV sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1500 Euro…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!