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Wilhelm-Raabe-Straße

Wohnen bleibt Luxus

Wilhelm-Raabe-Straße: Wohnen bleibt Luxus
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Die Hausbesetzung in der Stuttgarter Wilhelm-Raabe-Straße hat viel Zuspruch erhalten. Nun steht der Kostenbescheid für die Räumung an: 11.200 Euro sind fällig. Indessen entpuppt sich das städtische Zweckentfremdungsverbot, das Leerstand vermeiden soll, als nutzloses Feigenblatt.

Der gierige Immobilienspekulant, eine Subspezies des gemeinen Geldmenschen, sieht im zur Miete lebenden Hausbewohner entweder eine auspressbare Einnahmequelle oder aber, sofern er dem profitablen Weiterverkauf in die Quere kommen könnte, ein aus dem Weg zu räumendes Ärgernis. Dabei mag es sich um ein plumpes und investorenfeindliches Klischee handeln – aber selten hat es so viel Wahrheitsgehalt wie im Fall der Stuttgarter Wilhelm-Raabe-Straße 4 und ihrer potenten Eigentümerfamilie. Und noch ein substanziertes Klischee: Die staatliche Ordnung, deren oberstes Grundgesetz der Schutz von Kapitalinteressen ist, wird, wo Zielkonflikte vorliegen, die vermögende Seite bevorzugen. Aber der Reihe nach.

Ausgabe 472, 15.4.2020

Eine Mauer statt Nachbarn

Von Moritz Osswald

Mit der Besetzung zweier Wohnungen wollten AktivistInnen vor knapp zwei Jahren gegen Mietenwahnsinn protestieren. Seitdem ist Leerstand angesagt in der Wilhelm-Raabe-Straße 4 – ohne Konsequenzen für Eigentümer, die eigentlich zum Vermieten verpflichtet sind.

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Um den begehrten Wohnraum in der Landeshauptstadt nicht noch zusätzlich zu verknappen, hat Stuttgart 2016 ein Zweckentfremdungsverbot gegen das spekulative Leerstehenlassen bewohnbarer Häuser erlassen. Zusammen mit einer "Trendwende" bei der Wohnraumpolitik, die sich der Gemeinderat einbildet, gestaltet sich die Zwischenbilanz zum Jahresende 2020 wie folgt: Stuttgart hat weniger bezahlbaren städtischen Wohnraum als je zuvor, die Mieten sind inzwischen die teuersten der Republik und das Zweckentfremdungsverbot existiert zwar, zur Anwendung kommt es de facto aber nicht.

Weil die Not für mittlere und kleinere Einkommen schon seit geraumer Zeit erdrückend geworden ist, haben sich zwei Familien Ende April 2018 entschieden, in perfekt bewohnbaren, aber langzeitleerstehenden Wohnungen der Wilhelm-Raabe-Straße 4 einzuziehen. Hausbesetzungen sind eine Straftat, betonte die Stadtverwaltung. Dennoch gab es viele Sympathien für die Aktion, die sogar ein Immobilenmakler als überfällig bezeichnet hat. Die Stadträte Hannes Rockenbauch, Luigi Pantisano und Tom Adler haben vorbeigeschaut – und wurden in der Zwischenzeit wegen Hausfriedensbruch zu Geldstrafen verurteilt.

Mit der Hausbesetzung war es nach einem Monat vorbei, dann wurde zwangsgeräumt. Jetzt liegt der Kostenbescheid vor: 11.200 Euro werden den HausbesetzerInnen berechnet und damit das Geld auch unter etwaigen Eventualitäten eingetrieben werden kann, sind auch die zwei beteiligten Kinder – zum Zeitpunkt des Tatgeschehens sieben und zwei Jahre alt – für die Summe haftbar gemacht worden. Das ist die Quittung, falls jemand es wagt, bei der juristisch abgesicherten Verwertung eines menschlichen Grundbedürfnisses notgedrungen die Grenzen des Gesetzes zu überschreiten.

Um gesamtgesellschaftlich einen Interessenausgleich vorzugaukeln, gibt es das Zweckentfremdungsverbot, das bösen Spekulanten Strafgelder bis zu 50.000 Euro androht, falls sie ihre Immobilien ohne triftigen Grund länger als sechs Monate leer stehen lassen. Der Haken dabei: Diese Summe wurde in der Praxis noch nie verhängt und auch niedrigere Beträge im drei- bis maximal vierstelligen Bereich werden nur in absoluten Ausnahmefällen fällig. Bei der Wilhelm-Raabe-Straße wurde mal geprüft, ob ein Bußgeld angebracht wäre. Aber das ist es offenbar nicht.

Dabei stehen die Wohnungen, die schon lange vor der Besetzung leer standen, heute immer noch leer. Und nicht nur das: Nach einem aufreibenden Rechtsstreit ist eine weitere Familie ausgezogen, sodass sich der Leerstand im Haus auf vier von fünf Wohnungen gesteigert hat, und fraglich ist, wie lange die letzten BewohnerInnen noch bleiben. Das Zweckentfremdungsverbot, sagt die Stadt, konkretisiere "die schon im Grundgesetz enthaltene Verpflichtung, sein Wohnungseigentum auch zum Wohl der Allgemeinheit, in diesem Fall zur Linderung der Wohnungsnot, einzusetzen." Aber es lässt sich kurzerhand ausbooten, indem man erzählt, ein leerstehendes Haus würde seit Jahren saniert. Der Trick funktioniert sogar, wenn dabei keinerlei Fortschritte ersichtlich werden.

"Wohnen darf kein Luxus sein", sagt Stuttgarts neuer Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), der ein Oberbürgermeister für alle Stuttgarterinnen und Stuttgarter sein will. Das ist genauso ernst zu nehmen wie jene Trendwende, von der im Gemeinderat trotz permanent steigender Miete die Rede ist.


Für die Familien, die durch ihre prekäre Lage zur Hausbesetzung gedrängt wurden, kommt der fünfstellige Kostenbescheid einer Katastrophe gleich. Um die Lasten solidarisch zu verteilen, gibt es ein Spendenkonto: Rote Hilfe e.V. Stuttgart, Stichwort: Wilhelm-Raabe-Str., IBAN: DE66 4306 0967 4007 2383 13, BIC: GENODEM1GLS.


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1 Kommentar verfügbar

  • C.Marcus
    am 03.01.2021
    Antworten
    Wohnungspolitik - neben den globalen Katastrophen und Skandalen (Klima, Naturzerstörung, Demontage demokratischer Strukturen , Ausbeutung und bewaffnete Politik der Mächtigen weltweit, etc.) - ist ein immer noch viel zu wenig beachteter Skandal auf lokaler und Bundesebene. Tragische, treffende,…
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