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Tschüss 2020

Tschüss 2020
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Danke Corona! Donald Trump wurde nicht nochmal zum Präsidenten gewählt. Das ist eines der wirklich positiven Dinge, die diesem seltsamen Jahr 2020 abzugewinnen sind. Ansonsten haben wir viel dazu gelernt, nicht nur über die Kästchen im Computer.

Es war ein kontaktloses, körperloses Jahr, das beruflich viele in ihren eigenen digitalen Kästchen verbracht haben, eingerichtet auf den zumutbarsten Hintergrund. Oft mit Doppelkinn ob der Bildschirmeinstellung, manchmal steif gefroren irgendwo im Nirvana deutscher Internetverbindungen, von denen kaum jemand ahnte, wie flächendeckend mau die sein können.

Es war das Jahr der Recherchen auf Abstand, wenn überhaupt real, eines des Lernens und sich neu Kennenlernens. Das Jahr einer Zersplitterung der Gesellschaft, nicht mehr nur vertikal in politische Haltungen, sondern noch dazu horizontal quer durch alle Milieus in Virusgläubige und Virusleugner. Eines, das eigentlich alle Sicherheiten ins Wanken brachte, mit denen man bisher gelebt hat. Wer hätte im Januar geglaubt, dass Cent-Artikel wie Schutzmasken oder Klopapier in unserem so satten Deutschland einmal ausgehen könnten?

Wer hätte sich vorstellen können, dass eine ganze Branche wie die Kultur plötzlich verschwindet? Wie kreativ und wie vielseitig Baden-Württembergs KünstlerInnen und Künstler sind, haben auch wir erst mit unserer "Vorhang-auf"-Aktion gelernt, die jeden Tag Stimmkünstlerinnen, Musiker und Dichter vorstellte, die plötzlich keine physische Bühne mehr hatten.

Die meistgelesenen Texte 2020 in Kontext sind symptomatisch für dieses seltsame Jahr: Dietrich Krauß' "Wir können alles außer impfen" und Winfried Wolfs "Die Argumente der Coronaleugner". Letzterer geschrieben auch aus dem Unglauben heraus, wie sich geschätzte Menschen und Wegbegleiter in der Corona-Frage, in der es eben weniger um Meinungen und Gefühle denn um Wissen geht, von einem selbst entfernen. Der erste Text von Krauß bekommt nun ganz neue Relevanz, wo Impfzentren schon jetzt mit Aufständen vor den Türen rechnen. 

Dieses Jahr hat Grenzen aufgezeigt, persönliche, Grenzen der Welt und der Gesellschaft, selten ist Demokratie so sichtbar geworden, im Guten und Schlechten, wie 2020. Und es gab eine breite Welle der Solidarität. Im Großen und Kleinen wie bei Fati Abu, der Pflegerin und Aufstockerin, über die wir vergangene Woche berichtet haben und der ein Computer fehlt, mit dem ihre Kinder am Schulunterricht teilnehmen können. Mittlerweile haben sich bei uns viele Menschen gemeldet, die da Abhilfe schaffen wollen. Das ist schön!

Eines der meistgebrauchten Worte im Redaktionspostfach muss dieses Jahr wohl "Abgesagt" gewesen sein. "Abgesagt" gab es im Jahr 2020 natürlich auch bei uns: unsere Mitgliederversammlung beispielsweise, aber auch unsere Veranstaltung "Aufrecht gegen Rechts" im Theaterhaus, mit Georg Restle von "Monitor" und "Panorama"-Moderatorin Anja Reschke. Geplant war die Diskussion im Vorfeld unseres Prozesses gegen Marcel Grauf, den AfD-Landtagsabgeordnete als Mitarbeiter beschäftigt haben und der uns in den Ruin klagen möchte. Im kommenden Februar soll die Verhandlung nun stattfindet und der Prozess ins Hauptsacheverfahren gehen.

Dieses Jahr geht zwar zu Ende, es wird seinen Schatten aber weit hineinwerfen ins neue. Und man kann nur hoffen, dass all die Problemfelder unserer Gesellschaft, die wie mit Textmarker unterlegt so deutlich herausgestochen sind, bearbeitet werden und nicht unter den Teppich gekehrt. 2020 hat Türen aufgestoßen für eine neu zu denkende Zukunft, für eine neue Politik, menschenfreundlich, ökologisch, tierfreundlich, solidarisch. Ob ein Virus wirklich kathartisch sein kann und der Mensch sich als lernfähig erweist, wird sich zeigen, nicht zuletzt im Wahljahr 2021 mit der baden-württembergischen Landtagswahl im März und der Bundestagswahl im Herbst. Möge es besser laufen als in Stuttgart, denn das Corona-Jahr hat die Landeshauptstadt zurückgeworfen in alte Zeiten der CDU-Herrschaft, mit Frank Nopper, dem Schultes von Backnang, der zu Weihnachten stolz seinen neuen VfB-Trainingsanzug auf Facebook postete und für die kommenden acht Jahre zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Aber auch hier gilt: Zuversichtlich bleiben, bei allem, was da dräuen mag von Wohnen bis Klima.

Aber dieses Corona-Jahr hatte auch großartige Facetten: Die Black-Lives-Matter-Bewegung sei da genannt. Ein Teil der Deutschen hat sich in ungeahnter Tiefe mit Polizeigewalt und rassistischen Strukturen befasst. Es ist endgültig klar geworden, dass Massentierhaltung – egal wie man es dreht und wendet – dringend abgeschafft gehört, dass Großkonzerne nehmen, aber selten geben, dass Reiche auch in Pandemien immer reicher und reicher werden, und Arme immer ärmer und ärmer und dass es so auf keinen Fall weitergehen kann. Wir haben gesehen, wie schön der Himalaya ist, wenn er nicht im Smog versinkt, und dass man auch ohne Milaneo und Breuninger wunderbar leben kann. Hinter dieses Wissen, so müsste man meinen, kann doch keiner mehr zurück. Also warten wir ab, frohen Mutes sozusagen. Und nicht zuletzt sei erwähnt, auch weil es uns eine persönliche Freude war: Stuttgart hat einen echten Lenk bekommen.

Auch für uns in der Kontext-Redaktion gab es schöne Momente: Wir haben mit Gesa von Leesen eine tolle Kollegin dazugewonnen und mit dem Stadtflaneur Joe Bauer einen bissigen Kolumnisten. Der Filmemacher Goggo Gensch war zu Besuch bei uns in der Redaktion für seinen Dokumentarfilm "Stuttgart, ich hänge an dir", der im SWR gezeigt wurde. Wir haben uns mit anderen Redaktionen zusammengeschlossen und einen Verein gegründet, der sich einsetzt für gemeinnützigen Journalismus, damit nicht immer nur die großen Verlage gepampert werden, die immer weiter in der Pressekonzentration versinken.

Und es gab sogar richtig was zu feiern: Unsere 500ste Ausgabe. 500 Wochen Kontext, 500 Mal Kontext in der taz. Im kommenden Jahr werden wir zehn Jahre alt. Aber damit wir nicht schon wieder etwas absagen müssen, haben wir die Geburtstagsfeier lieber gleich aufs Elfjährige verlegt. Und feiern im Jahr 2022. Und dennoch: Kontext wird zehn! Also: Hallo 2021!


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1 Kommentar verfügbar

  • Dr. Diethelm Gscheidle
    am 30.12.2020
    Antworten
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ich habe mich sehr über dieses "Korona-Jahr" gefreut, da die Gesellschaft hier deutlich redlicher wurde! Es ist daher völlig klar, dass uns Corona von Gott gesandt wurde, um uns endlich auf den Pfad der Tugend und Redlichkeit zurückzuführen! Auch unser redlicher…
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