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Insekten

Der Langzeitbeobachter

Insekten: Der Langzeitbeobachter
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Für Wulf Gatter hängt alles miteinander zusammen: Er ist Förster und beobachtet Vögel und Insekten. Seine Studie von der Schwäbischen Alb zeigt die alarmierenden Ausmaße des Insektensterbens. Wie das Glück des Zufalls der Wissenschaft auf die Sprünge half.

Ein Treffen mit Wulf Gatter ist stark wetterabhängig. Liegt Nebel über der Schwäbischen Alb, kann der Förster, Vogel- und Insektenkundler die Topologie dieser Landschaft nicht richtig zeigen. Doch wir haben Glück. Gatter, 77 Jahre alt, stapft mit ordentlichem Tempo voraus. Im Dezember hat er Zeit, die Zugvögel sind im Süden und die Insekten fliegen auch nicht.

Seine Forschungsstation liegt am Rand des Randecker Maars, eines ehemaligen Vulkanschlots am Albtrauf. Das Randecker Maar bildet hier eine Kerbe im Anstieg der Alb und genau diese weniger steile Stelle ist etwas ganz Besonderes: Sie erleichtert Vögeln und Insekten ihren Zug, denn auf ihrem Weg in den Süden müssen sie die Alb überqueren und steigen hier wie in einem Trichter gebündelt in die Höhe. Gatter und seine Mitstreiter begannen die Tiere in den 1960er-Jahren zu studieren. Ungewollt dokumentierten sie dabei auch die Abnahme der Insekten und publizierten Ende Oktober eine Studie dazu. Und die hat es in sich: Selbst bei der artenreichen Gruppe der Schwebfliegen weist sie einen Rückgang der Tiere um bis zu 97 Prozent nach. Ähnliches beobachteten die Forscher für Schlupfwespen und Waffenfliegen. Mit einer Beobachtungsdauer von 50 Jahren ist sie die europaweit längste Untersuchung zum Thema wandernder Insekten. Ein Juwel für die wissenschaftliche Community. Dabei hat bei ihrer Entstehung der Zufall eine entscheidende Rolle gespielt.

Als Wulf Gatter zehn Jahre alt war, kam ein berühmter Vogelfilmer nach Kirchheim, um seinen Film über Vögel an der Nordsee zu zeigen. Alle Schüler seien hin gepilgert, um Hugo Wolter zu lauschen, erinnert sich Gatter. Er hat dessen Imitation mit dem rollenden "r" und dem tiefen Brustton immer noch drauf. "Dadurch bin ich zum Vogelkundler geworden", sagt der Forstökologe und erzählt, er habe die Forschungsstation 1969 nicht gegründet, er habe sie vielmehr "gefunden".

Zu dieser Zeit wurden in ganz Europa solche Stationen gegründet. Das Buch "Silent Spring" war 1962 erschienen, in ihm beschreibt die Biologin Rachel Carson das Sterben der Vögel Nordamerikas. "Die auch in Europa festgestellten Rückgänge in den Zahlen der Vögel wollte man nun festhalten", sagt Gatter. "Und wir haben hier dieses 400 Meter hohe Gebirge und den Einschnitt, durch den Zugvögel ziehen. Das verändert sich seit der Zeit der Rentierjäger, die hier einst siedelten, nicht."

"Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der einen Buchfinkenschwarm auf einen Kilometer Entfernung erkennt und dazu noch sagt, 'das sind 97 Buchfinken und drei Bergfinken'", erzählt Markus Rösler. Der Ornithologe und naturschutzpolitische Sprecher der Grünen hat in den 1970er- und 1980er-Jahren auf der Forschungsstation Randecker Maar mitgearbeitet. "Das war schon sportlich und oft nichts für Weicheier, da viele Stunden in teils eisiger Kälte und bei Wind in Bundeswehrschlafsäcken im Freien mit Trinkflasche samt Tee mit Schuss auszuharren.“ Einziger Komfort war ein nahegelegener Bauwagen. Der steht heute noch da. Während man sich dort aufwärmte, konnte es sein, dass der Ruf "Wespenbussard!" von der Beobachtungsstation schallte. "Dann kam man aus der Hütte gerast, um Wulf Gatter mit einer Stoppuhr vorzufinden". Einen Bussard gab es keinen, dafür aber einen lächelnden Gatter, der nur mal sehen wollte, wie schnell seine Helfer so sind. "Der sagte dann: '6,7 Sekunden, gar nicht mal schlecht'", erinnert sich Rösler lachend. Abertausende Organisations- und Beobachtungsstunden wurden hier von bezahlten Profis und von Ehrenamtlichen geleistet. Die Forschungsstation ist als private Einrichtung durch Spenden finanziert.

Von Wanderern: Vögel und Insekten

Geboren ist Gatter 1943 in Offenbach, er wuchs zwei Jahre lang in Prag auf, bevor seine Familie nach Kirchheim am Fuß der Alb kam. Genauso früh wie das Vogelbeobachten begann sein Interesse an Insekten. Gatter erzählt von zwei Erlebnissen aus seiner Kindheit. Ein Lehrer habe ihn, da war er elf, mit auf eine Exkursion genommen, da Maikäfer großflächig vom Flugzeug aus bekämpft worden seien, weil sie als Plage erachtet wurden. Bereits am Waldrand war der Weg knöcheltief und der Waldboden dahinter zentimeterdick mit sterbenden Käfern bedeckt. Wochen später hat er am selben Ort viele tote Hirschkäfer gefunden und die Köpfe der größten an die Wand über seinem Kinderbett gepinnt. Erst Jahrzehnte später, ohne nochmals einen Hirschkäfer gesehen zu haben, brachte er beides miteinander in Verbindung: "Die Pestizide mit denen man im Mai die Maikäfer vergiftete, die waren ja noch da und im Juni tötet das Gift dann die Hirschkäfer." Heute fragt er jüngere Menschen immer, wie viele Maikäfer sie in ihrem Leben bereits gesehen haben und zieht aus den Antworten seine Schlüsse. "Auf die Idee, dass Insekten auf breiter Front so abnehmen würden, wären wir gar nicht gekommen", sagt er. Für ihn war es einfach eine weitere Herausforderung, beim Vogelbeobachten auch Insekten mit zu erfassen.

"Auslöser war, dass wir unterhalb der nahen Burg Teck in den 1960er-Jahren ein Naturschauspiel erlebten." Hunderttausende von Schwebfliegen bewegten sich im Gegenlicht der Nachmittagssonne Richtung Südwesten. Dass es sich dabei um ein widerkehrendes Phänomen handelt, mit dem Vogelzug vergleichbar, hatte man zu dieser Zeit noch nicht verstanden. Auf der Forschungsstation war ein Biologe nur für die Zählung der Insekten zuständig.

Über die Jahre nahm die Zahl der Insekten so sehr ab, dass es auf der Forschungsstation kaum mehr etwas zu zählen gab. "Nach zwei Jahrzehnten war klar, dass sich etwas dramatisch verändert hatte. Was wir brauchten, waren exakte Zahlen und darum haben wir vor sechs Jahren wieder angefangen, nochmal genauso exakt zu messen wie in den 1970ern und 1980ern. Und hatten die Belege für den extremen Rückgang."

Die Befunde seiner Studie sind besonders brisant, weil es sich um wandernde Insekten handelt. Die örtlichen Beobachtungen erlauben Rückschlüsse auf einen größeren Ausschnitt der Insektenwelt. Damit unterscheidet sich Gatters Untersuchung von der Krefelder Studie aus dem Jahr 2017. Sie wies erstmals nach, dass die Biomasse an Insekten insgesamt abnimmt. Seitdem sprechen Wissenschaftler nicht mehr von Insektenrückgang, sondern vom Insektensterben.

"Wir wissen schon etwas länger, dass die Zahl der Arten zurück geht und dass Populationen weniger werden", erklärt Johannes Steidle. "Aber dass in der Summe die Biomasse an Insekten so stark zurückgeht, das wissen wir erst seit der Krefelder Studie." Steidle ist Professor am Institut für Biologie der Uni Hohenheim, wo er am Fachgebiet Chemische Ökologie zu Insekten forscht. Besonders spannend findet er, dass nun auch Daten zu parasitären Wespen vorliegen. Viele Insekten sind Pflanzenfresser, sie werden von Fleischfressern wie Vögeln und eben parasitischen Wespen in Schach gehalten. Gatters Datensatz sei der erste, der zeigt, dass auch diese Parasitoide stark zurückgehen. "Das kann gravierende Folgen für Ökosysteme haben."

Steidle kann auch erklären, warum die ganze Welt vom Insektensterben spricht und sich trotzdem alle auf eine klägliche Handvoll Studien beziehen: Insektenschwärme unterliegen von Jahr zu Jahr starken Populationsschwankungen. Einzelne Jahre lassen keine Aussagen über die Anzahl der Tiere zu. Um das Sterben nachzuweisen, braucht es lange Beobachtungszeiträume. "Vor 100 oder 50 Jahren hat aber keiner daran gedacht, die Abnahme von Insekten zu untersuchen", erklärt Steidle. Es ist kein Zufall, dass die beiden wichtigsten Studien zum Ausmaß des Artensterbens, die Studie des Krefelder Entomologischen Vereins und die von Wulf Gatter, von Ergebnissen berichten, nach denen sie gar nicht gefragt haben. Doch die Daten seien stichfest, sagt Steidle.

Gehören zusammen: Insekten und Landwirtschaft

Gatter unterbricht beim Spaziergang durchs Randecker Maar immer wieder, weil er etwas zeigen muss: Anhand von Bäumen, Hecken und Steinen kann er Zusammenhänge zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und Pflanzen- und Tierwelt erklären. Er kennt diese Landschaft seit 50 Jahren und beobachtet ihre Veränderung genau: Von der Flurbereinigung bis zum Verschwinden der Kleinbauern. "Das hat automatisch die Landschaft verändert – und damit auch die Tier- und Pflanzenwelt." Die industrielle Landwirtschaft will er nicht kommentieren. Er weiß, dass seine Arbeit auch eine politische Bedeutung hat, aber diese Deutung überlässt er anderen.

Der grüne Umweltminister von Baden-Württemberg, Franz Untersteller, sah sich angesichts der Studie bestätigt. Er verwies in einer Pressemitteilung auf das im November 2017 beschlossene Sonderprogramm zur Stärkung der biologischen Vielfalt und die im Sommer 2020 verabschiedete Gesetzesänderung zur Stärkung des Artenschutzes. Darin ist unter anderem die Verringerung von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln um 40 bis 50 Prozent bis 2030 vorgesehen. Um das zu erreichen, werden der Landwirtschaft keine Vorschriften gemacht, sondern Anreize gesetzt. Ob das funktioniert, soll in den Jahren 2023 und 2027 evaluiert werden, so das Landwirtschaftsministerium.

"Mit dem Ziel einer landesweiten Pestizidreduktion um 40 bis 50 Prozent bis 2030 sind wir spitze", sagt der Grüne Markus Rösler. Jetzt müsse es an die Umsetzung gehen. Rösler fordert, dass zum Insektenschutz und gegen das Artensterben insbesondere Äcker, Wein- und Plantagenobstbau im Land angegangen werden müssen.  Professor Steidle lobt das Gesetz zu mehr Artenschutz, weil es über die Beschränkung von Pestiziden hinausgeht. "Wir müssen einen Schritt davor ansetzen: Insekten brauchen Lebensräume, um sich entwickeln zu können. Diese Orte zum Leben gibt es nicht mehr." Der Großteil der Insekten sei heikel und fresse nur bestimmte Pflanzenarten, erklärt er. Also müssen Strukturen geschaffen werden, von denen Insekten leben können: feuchte Erde, Mäuerchen und kleinere Äcker, die an ihren Rändern automatisch zu mehr Strukturvielfalt führen. Das sei in der Gesetzesnovelle bedacht: "Es wird geregelt, dass zehn Prozent der Agrarlandschaft als Lebensraum vorgesehen werden soll. Das ist ganz wichtig". In Baden-Württemberg hätten das die wichtigsten Stellen erkannt – auch das Landwirtschaftsministerium. Auf Bundesebene sehe er das nicht.

Dort soll in dieser Woche ein neues Insektenschutzgesetz beschlossen werden. Der nun vorgelegte Entwurf des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wird von Umweltverbänden kritisiert: Verbote suche man vergebens. Vielmehr sollen Pestizide auf ein "notwendiges Maß" beschränkt werden.

Vor fünf Jahren, am 12. Dezember 2015, wurde das Pariser Klimaabkommen verabschiedet. Seitdem fordern Biodiversitätsforscher ein ähnliches Abkommen für den Artenschutz. Wulf Gatter jedenfalls hat noch zwei Kubikmeter Ordner voller Vogel- und Schmetterlingsdaten. Die müssen dringend ausgewertet werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • Jürgen Feistel
    am 21.12.2020
    Antworten
    "Dort soll in dieser Woche ein neues Insektenschutzgesetz beschlossen werden."

    Eine Einschränkung oder gar Verbot von Windrädern wäre auch hilfreich.
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