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Klimakrise

Alles normal, die Katastrophe kommt

Klimakrise: Alles normal, die Katastrophe kommt
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Die seriöse Wissenschaft warnt mit immer dramatischeren Befunden vor den Folgen der Erderhitzung. Trotzdem geht alles seinen gewohnten Gang. Der Psychologe Christoph Burger erläutert, warum wir die Welt und unser Gehirn neu erfinden müssen.

Da hört man in den Medien: Das gerade zu Ende gehende Jahr 2020 soll die letzte Chance sein, einen Ökokollaps zu vermeiden. Ernsthaft? Wieso ausgerechnet jetzt? In den vergangenen dreißig Jahren gab es doch gar nichts, was wirklich herausstach. Zumindest im erdgeschichtlichen Sinn. Die Historie plätscherte eher so dahin. Der Autobestand wuchs etwas an, Urlaubsreisen per Flugzeug wurden üblicher. Einige Länder haben ihren Konsumrückstand aufgeholt. Dafür glänzten wir mit Umweltpolitik, Energiesparlampen, Windrädern und Photovoltaik. Das einzig Dramatische scheint zu sein, dass Umweltaktivist:innen wie Fridays for future plötzlich so einen Aufruhr veranstalten. Unangebrachter Alarmismus von überspannten Jugendlichen. Oder?

Das Weltwirtschaftsforum Davos, nicht unbedingt für Öko-Hysterie bekannt, fragte für seinen jüngsten Bericht über 750 Expert:innen und Entscheider:innen nach den großen globalen Risiken. Das Ergebnis: Das Eskalieren der Klimakrise ist nicht nur am wahrscheinlichsten. Es wäre auch am schlimmsten. Gravierender als ein globaler Krieg mit Atomwaffen. Warum so plötzlich? Wie kann unser ganz normales Leben schlagartig so fatal sein?

In der Psychologie wurden Menschen mit folgender Aufgabe konfrontiert: Die Seerosen in einem Teich verdoppeln ihre Fläche jeden Tag. Wenn der See nach 48 Tagen komplett mit Seerosen bedeckt ist, wie lange hat es gedauert, bis er zur Hälfte bedeckt war? Viele schätzen: 24 Tage – und zeigen damit, wie schwer es unserem Gehirn fällt, Exponentialfunktionen zu verstehen. Richtig ist die Antwort: 47 Tage. Vielleicht kennen Sie die Lösung schon oder kommen von selbst drauf. Aber können Sie sich die Bedeutung auch vorstellen? Wie der Teich lange 47 Tage braucht, um halb zuzuwachsen – und wie er dann plötzlich, an einem einzigen Tag, vollständig zuwuchert?

So ähnlich verhält es sich mit dem Klima. Tatsächlich sah die Situation der Welt vor dreißig Jahren noch einigermaßen erträglich aus. Obwohl wir schon seit dem 18. Jahrhundert in bedenklichem Ausmaß Kohle, Öl und Erdgas verfeuern. Es ist ein bisschen wie beim Seerosenteich. Wir können die Treibhausgase, welche wir vom Beginn der Industrialisierung an bis heute emittierten, in zwei Hälften teilen. Es brauchte über 200 Jahre für die eine Hälfte. Und nur 30 Jahre für die zweite! Und jedes Weiter-so bedeutet einen weiteren, gewaltigen Schritt in die Katastrophe. Schwer vorstellbar das Ganze. Zumal diese CO2-Biester noch nicht einmal mit bloßem Auge zu sehen sind.

Tatsachen sind im Gehirn nur elektrische Impulse

Wo wir mit unverständlicher Physik konfrontiert werden, brauchen wir einen Ausweg. Diesen Job erledigen wir auf typisch menschliche Weise. Wir investieren geistige Energie, um uns weiterhin wohl zu fühlen. Um es alltagssprachlich zu sagen: Man versucht, sich zu beruhigen. Eine befreundete Historikerin erklärte mir beispielsweise, dass bisher keiner der vorhergesagten Weltuntergänge stattgefunden hat. Ein Freund, gerade psychisch angefressen, beklagte sich über die Aufforderung dieser Greta-Göre, wir sollten in Panik geraten. Andere verweisen darauf, dass das eigentliche Problem das Bevölkerungswachstum sei. Dabei liegt der Unterschied im persönlichen CO2-Fußabdruck zwischen industrialisierten Nationen und den Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum beim Faktor hundert. Nehmen wir die Reichen in den reichen Ländern als Vergleich, kommen wir schnell auf den Faktor tausend. So viele Kinder bekommt keine Familie der Welt.

Beliebt ist auch immer wieder das Argument: Was bringt es, wenn wir beginnen? Wir sind nur ein kleiner Teil der Welt! Dabei lässt sich umgekehrt fragen: Wie wollen wir anderen, ärmeren Nationen, die bisher wenig CO2 emittiert haben, erklären, dass ausgerechnet sie den Umbau starten sollen? Trotzdem werden solche Gegenargumente seit Jahrzehnten aufgewärmt.

Sie dienen nur einem einzigen Zweck. Wir stellen unser aus der Balance geratenes psychisch-körperliches Gleichgewicht wieder her. Wir können die Guten und Schlauen bleiben und unser Gesicht wahren. Und dabei auch noch unser altes Leben behalten.

Statt unsere Auffassung der Realität anzupassen, machen wir es lieber umgekehrt: Wir pressen die Realität in unser altes Bild. Diese vertraute Vorstellung, die sich schon lange bewährt hat. Natürlich könnten wir auch diese Brille anpassen, mit der wir alles filtern und einsortieren. Jede Tatsache könnte der Auslöser dafür sein. Jedes gute Gespräch. Jeder Anflug von Klimaangst oder -wut. Aber das ist ein mühsames Geschäft. Sehr viel einfacher läuft alles, wenn wir unsere Selbst- und Weltbilder, unsere Normen und Werte beibehalten und die Dinge so drehen, dass sie sich dort einfügen. Tatsachen sind in unserem Gehirn nur elektrische Impulse. Kein Problem, sie zu ändern. Wir bestärken uns gegenseitig darin: Die Nachbarn fahren SUV und fliegen in Urlaub? Dann tun wir das auch. Ist doch normal.

Daimler und Porsche müssen schrumpfen

So stellen wir sicher, dass die Welt für uns in Ordnung ist und bleibt. Doch so leicht und erfolgreich wir die Nachrichten in unserem Kopf optimieren können, die äußere Realität beinflusst das nicht die Spur. Die Klimakrise schreitet voran, unabhängig davon, ob wir an sie glauben möchten, und sie tut das dramatisch, auch wenn es uns nicht behagt. Zu den Erkenntnissen der Wissenschaft gehört, dass eine Erde, die sich im Mittel um mehr als 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau erhitzt, schwer zu managen sein wird. Häufigere Dürren, Hitzewellen, Starkregen, Stürme, Überflutungen, viele Millionen Menschen auf der Flucht – das alles wird die Folge sein.

Fridays for Future hat beim Wuppertal-Institut eine Studie in Auftrag gegeben, wie wir die 1,5 Grad-Marke doch noch einhalten können. Dazu müssen wir bis 2035 CO2-neutral sein. Neben vielen anderen grundlegenden Maßnahmen würde das für die Automobilwirtschaft bedeuten: Bis 2035 müssen die aktuell 47 Millionen konventioneller Pkw durch 28 Millionen mit alternativen Antrieben, vor allem Elektroautos, ersetzt werden.

Was bedeutet das für Daimler und Porsche? Da die Lebensdauer der Pkw bei über zehn Jahren liegt, müssen die letzten Verbrenner spätestens 2025 vom Band laufen. Die Vorentwicklung neuer Verbrenner muss sofort gestoppt werden, denn sie ist sinnlos. Die Konzerne müssen sofort den Plan für einen Radikalumbau mit Schrumpfung ausarbeiten. Das gesamte Marketing, Vertrieb und Werbung für Verbrenner kann zurückgefahren werden. Die Lobbyisten der Konzerne, die jahrzehntelang aktiv waren, um die CO2-Normen aufzuweichen, brauchen andere Aufgaben. Entsprechende Folgen hat dies für alle Zulieferer – ob sie nun Vergaser, Auspuff oder Bremse beisteuern.

Ist das alles wahrlich unvorstellbar? Mag sein, aber es ist nunmal so. Es handelt sich dabei nicht um verrückte Ideen, sondern um ein vernünftig gebotenes Minimalprogramm. Nach Jahrzehnten der Untätigkeit ist realistische Politik inzwischen sehr, sehr unbequem.

Persönliche Egoismen genießen Priorität

Woran es uns vielleicht am meisten mangelt, sind Pläne, die auch die persönlichen Egoismen von allen bedienen, die der Umbau trifft. So stockte der Windkraftausbau lange, weil Anwohner:innen dagegen kämpften. Wieso sollten sie persönliche Nachteile erleiden, nur weil die Gesellschaft Windräder braucht? Das ist schwer einzusehen. Die einfachste Lösung: Sie werden finanziell beteiligt. Dann haben sie auch einen persönlichen Nutzen, was vollkommen logisch ist, denn sie nehmen ja auch einen persönlichen Nachteil in Kauf. So kann es gelingen, für den dringend benötigten Windkraftzubau mehr Akzeptanz zu erreichen.

Wie kann man die Egoismen, das heißt zum Beispiel den berechtigten Wunsch nach einer gesicherten beruflichen Zukunft, von Beschäftigten der Automobilindustrie bedienen? Wie können Politiker:innen wiedergewählt werden, die einen solchen Umbau fordern und gestalten wollen? Wenn wir auf diese Fragen keine Antworten finden, können wir sicher sein, dass alles so bleibt, wie es ist. Politiker:innen, die Menschen der Automobilwirtschaft nicht mit einer Perspektive versorgen können, würden mit pariskonformen Forderungen ihren politischen Suizid begehen. Davor werden sie sich hüten. Warum? Weil die Fakten seit Jahrzehnten bekannt sind und nichts geschah. Trotzdem eine zukunftsfähige Politik damals viel günstiger zu haben war als heute. Und weil keine der im Bundestag sitzenden Parteien eine pariskonforme Politik vertritt, obwohl sie das Thema häufig im Munde führen.

Die Union wird uns noch lange begleiten

Die physikalischen Grundgesetze lassen sich von unseren Verdrängungskünsten leider nicht beeindrucken. Das gilt auch für das beliebte Sündenbock- mit Wünschdirwas-Spiel. Manche Umweltaktivisti sagen: Wir müssen drastischer werden! Doch selbst dann werden politische Akteure wie die CDU/CSU nicht schlagartig verschwinden. Wir müssen sehen, wo wir vor allem deshalb auf andere zeigen, weil es unserer eigenen Psychohygiene dient. Menschen wollen ihr Gesicht wahren. Und wenn die Union – und das gilt für alle Parteien – keine Möglichkeit sieht, eine zukunftsfähige Politik zu machen und zugleich wiedergewählt zu werden, wird alles bleiben, wie es ist. Schwierig.

Ein möglicher Ansatz wäre: Alle Parteien, die den menschengemachten Klimawandel anerkennen, verständigen sich auf eine pariskonforme Politik. Damit entfiele die parteipolitische Profilierung. Und die in der Tat drohende Abwanderung von Wähler:innen zu den komplett die Wissenschaft verleugnenden Parteien würde begrenzt. Die Bevölkerung wäre eher bereit mitzumachen. Sie bekäme endlich das Chaos aus dem Kopf, das derzeit herrscht, weil Klimawissenschaft und politisches Handeln überhaupt nicht zusammenpassen.

Das wäre ein völlig neuer, gemeinsamer Weg. Dabei ist die härteste Aufgabe für uns alle die dabei erforderliche Selbstkritik, der Mumm, sich den bisherigen Irrweg einzugestehen. Unternehmer:innen müssen auf Profite verzichten und andere Produkte herstellen. Politiker:innen der Konservativen müssen in Bezug auf das Klima grüner als die Grünen werden. Wir können gesünder leben, aber müssen auf SUV-Egotrips verzichten. Das bedeutet eine Rosskur für unsere Egos, für unsere Selbst- und Weltkonzepte. Aber auch das Entdecken von Glückshormonen an anderen Stellen. Haben wir die Wende einmal vollzogen, werden wir uns im Rückblick wundern, warum wir nicht viel früher zu dieser Politik, diesem Wirtschaften, diesem Leben gefunden haben. Wir werden eine neue Welt erschaffen: im eigenen Kopf und in der Realität. Der günstigste Zeitpunkt dafür ist: jetzt!


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2 Kommentare verfügbar

  • Stefan Urbat
    am 28.10.2020
    Antworten
    Das ist genau das Problem: eine Gemengelage, in der nur eine kleine Minderheit sich konsequent verhält - und das angesichts eines Erdsystems, das nur mit einer Verzögerung von ein bis zwei Jahrzehnten auf Verhaltensänderungen von uns reagiert, eine Zeitspanne, die die meisten Menschen perspektivisch…
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