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Me Too beim SWR

Befristete Lügen

Me Too beim SWR: Befristete Lügen
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Vor dem Stuttgarter Arbeitsgericht kämpft eine SWR-Redakteurin um ihre berufliche Existenz. Hintergrund: der von ihr 2008 erhobene Vorwurf sexueller Belästigung durch einen Herrn aus den oberen Etagen und systematische berufliche Benachteiligung.

Der SWR-Intendant Peter Boudgoust am 3. Mai 2019 in der SWR-Radiosendung "Leute" auf die Zuhörerfrage, ob Fälle von sexueller Belästigung von Mitarbeiterinnen durch Vorgesetzte – wie ein Jahr zuvor beim WDR – auch beim SWR denkbar seien: "Derlei Vorkommnisse sind nicht bekannt. Es gibt hier null Toleranz, und es wird hier nichts verborgen, verdeckt oder unter der Tischdecke gehalten."

Eine offensichtliche und öffentlich verbreitete Lüge. Denn Intendant Boudgoust, heute Präsident des Fernsehsenders Arte, hatte schon seit Oktober 2008, anderthalb Jahre nach seiner Amtseinführung in Baden-Baden, mit einem derartigen "Vorfall" zu tun – bis zum Ende seiner Intendantenzeit. Und er half wohl kräftig mit, einen Fall von sexueller Belästigung beim SWR mehr als zehn Jahre "unter der Tischdecke" zu halten. Dieser ist jetzt Ausgangspunkt für ein Arbeitsgerichtsverfahren, das vergangene Woche in Stuttgart einen ersten öffentlichen Verhandlungstag hatte. Die Klägerin, die SWR-Fernsehredakteurin Sandra D., sieht sich in der Folge einer sexuellen Belästigung beruflich degradiert und fordert vom Sender vertragsgemäße Beschäftigung.

Sandra D. vor Gericht: "Ich habe eine sexuelle Belästigung von einem Mitglied der Geschäftsleitung, einem Vorgesetzten, der gegenüber mir weisungsbefugt war, im SWR offiziell gemeldet. Diesen Schritt zu gehen, hat mich sehr viel Kraft und Mut gekostet. Der Umgang mit mir nach der Meldung – und ich sage ganz bewusst nicht des SWR mit mir, da es sich um einige wenige Verantwortliche handelt – hat mich in eine tiefe Krise gestürzt und in Verzweiflung."

Bestraft wird das Opfer, nicht der Täter

Aber schon vor ihrer Meldung begannen die Repressalien. Sandra D. wurde aus ihrer Funktion als stellvertretende Redaktionsleiterin des "Tigerenten-Clubs" entlassen. Dies wohl als Racheakt dafür, dass sie sich der sexuellen Avancen ihres Vorgesetzten, dessen Name vor Gericht nicht genannt wurde, erwehrte. Hatte dieser doch, so Anwältin Meike Kuckuk, ihrer Mandantin angedroht, es werde Konsequenzen haben, sollten die Dinge an die Öffentlichkeit geraten. In den Strudel der Ereignisse wurde auch D.s damaliger Lebensgefährte, der Filmemacher und SWR-Redakteur Joachim L., hineingezogen. Er hatte sich für D. eingesetzt und ist jetzt in einem zweiten Verfahren auch gegen den SWR als Kläger vor Gericht.

D. beschrieb vor Gericht eindrücklich, wie sie die Ereignisse psychisch mitgenommen haben. Aber jetzt wolle sie "aus der Opferrolle heraus". Denn die Folge der sexuellen Belästigung war für sie ein "immenser Druck" aus dem Sender, obwohl sie den Vorfall dem Personalrat wie auch der Beauftragten für Chancengleichheit gemeldet hatte und Gespräche mit der SWR-Leitung geführt wurden. Auch mit Intendant Boudgoust und dem Justiziariat des SWR.

"Ein langer und zermürbender Prozess", so D., begann danach. Anwältin Kuckuk führte die Personalpolitik des SWR – eine Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Spiel – dem Gericht in zwei Beispielen vor. Etwa die 2010 von Boudgoust mitveranlasste Entscheidung, dass Sandra D. als Geschäftsführerin des Stuttgarter Hauses des Dokumentarfilms vorgesehen sei. Man hoffte wohl auf Ruhe an der potenziellen Klagefront. Auch die Klägerin war damals mit der Regelung einverstanden, wie sie vor Gericht betonte, denn sie wollte dem SWR nicht schaden, schließlich habe sie fast ihr gesamtes Berufsleben im Sender verbracht. Sie wolle nur Gerechtigkeit.

SWR trickst Sandra D. aus

Das Angebot, Geschäftsführerin im Haus des Dokumentarfilms auf dem Wege einer Berufung zu werden, währte jedoch nicht lange. Denn plötzlich wurde aus dem üblichen Berufungsverfahren eine Ausschreibung mit Bewerbungsverfahren. Ein einmaliger Vorgang. Und danach war Sandra D. aus dem Rennen. Kein Wunder, hatte in diesem Verfahren doch auch ihr Belästiger ein Wörtchen mitzureden. Die Stelle wurde übrigens nach D.s Ausbootung einer anderen SWR-Mitarbeiterin zugesprochen. Ein durchsichtiges Manöver.

Eine zweite bezeichnende Episode, so Rechtsanwältin Kuckuk vor Gericht, war der Abschluss einer Ergänzungsvereinbarung vom November 2012 zum ursprünglichen Arbeitsvertrag, in der Sandra D. eine Stelle als Redaktionsleiterin zugesagt wurde. Das Wichtige an dieser Vereinbarung ist deren Präambel, in der ausgeführt wird, dass damit das Thema sexuelle Belästigung ad acta gelegt werde. Doch auch hier vollzog der SWR eine Kehrtwendung: Wieder hielt der Sender seine vertraglichen Zusagen nicht ein. Seit 2012 bis heute wird D. nicht vertragsgemäß beschäftigt. Als sie nach dem Verlust ihres Arbeitsbereichs 2019 – unter der Regie des neuen Intendanten Kai Gniffke – auch noch finanziell zurückgestuft wurde, sah sie keine andere Chance mehr, als gegen den Sender zu klagen. Ihr Resümee vor Gericht: "Ich war dem SWR immer verbunden, aber nach alldem hatte ich den Glauben an das Gute verloren."

Dem Vertreter des SWR, Rechtsanwalt Gerd Feuerstein aus Baden-Baden, war die ganze Geschichte der sexuellen Belästigung sichtlich zuwider und unglaubhaft: "Sie haben dem Sender nie gesagt, um was es bei der sexuellen Belästigung konkret ging." Eine verwegene These, hat doch Sandra D. vor Gericht ausgeführt, es gäbe genügend Zeugen dafür, dass die Senderleitung, das heißt auch der Intendant, "sehr konkret" über die Geschehnisse informiert wurde.

Richterin mahnt Einigung an

Feuerstein bemängelte, dass der Vorfall nie strafrechtlich angezeigt wurde – der angeschuldigte leitende Mitarbeiter sei eh schon pensioniert. Ein Raunen ging durch die Zuschauer im Gerichtssaal, als der SWR-Anwalt dann ziemlich missgelaunt "den untergeschobenen Benachteiligungsvorwurf" bestritt, das sei alles "reine Fiktion": "Beim SWR wird niemand benachteiligt, der sich beschwert." Da verdrehte die Richterin die Augen. Ansonsten hatte Feuersteins hastig formulierter Vortrag nicht gerade Überzeugungskraft.

Die Prozesstaktik des SWR scheint klar: Das Thema sexuelle Belästigung spielt für den Arbeitgeber in diesem Verfahren keine Rolle. Ausschlaggebend sind die arbeitsrechtlich relevanten Fakten wie die vorliegenden Verträge – insbesondere in ihrer zeitlichen Ausgestaltung: unbefristet in den Grundverträgen und befristet in den Zusatzverträgen, so die Ausführungen Feuersteins. Damit und mit der Umgestaltung der TV-Programmstruktur begründet der Sender die Degradierung von Sandra D. – versehen mit der Aussage, dass die Stelle einer Redaktionsleiterin durchaus noch im Bereich des Möglichen sei. Wie das genau aussehen soll, darüber gab es allerdings keine Informationen.

Die Klägerseite sieht das naturgemäß anders und beharrt vor allem auf der Vorgeschichte der gesamten Entwicklung des Arbeitsverhältnisses, auf der Unbefristetheit der Arbeitsverträge und auf deren Gültigkeit. Die Richterin ließ erkennen, dass sie, wohl auf der Basis der vorliegenden Schriftsätze, durchaus gewillt ist, die Argumente der Klägerin ernst zu nehmen. Sie appellierte an beide Parteien, sich gütlich zu einigen. Rechtsanwalt Feuerstein will für den SWR "nichts ausschließen", zeigte sich aber "sehr skeptisch". Die Klägerseite hat einem Güteverfahren zugestimmt.

Da könnte noch mehr kommen

Das harte Auftreten des SWR-Vertreters lässt kaum glauben, dass ein schnelles und einvernehmliches Ende bevorsteht. Sowohl bei Sandra D. als auch in der Sache Joachim L., der schon im Güteverfahren ist, kann vermutet werden, dass sich der SWR hier zweier lästiger Mitarbeiter entledigen will. Während der Verhandlung gab es immer wieder Andeutungen, es könnten im künftigen Verlauf der beiden Verfahren noch Dinge öffentlich werden, die dem SWR und seiner Glaubwürdigkeit Schaden zufügen.

Was auf den Sender noch alles zukommen könnte, hat gerade beispielhaft der SWR-Personalratsvorstand Stephan Newerla mittels einer Richtigstellung in der "Stuttgarter Zeitung" vom 2. Oktober vorgeführt. Er moniert, dass in einem Artikel in der StZ vom 30. September der Eindruck entstehen konnte, der Personalrat des SWR sei in der Angelegenheit von Sandra D. nicht tätig geworden. Im Gegenteil, so Newerla: "Die damalige Beauftragte für Chancengleichheit und die damalige Vorsitzende des Personalrats haben unverzüglich reagiert und umgehend Gespräche mit dem Intendanten, dem Justiziar und Verantwortlichen in der Personalabteilung des SWR geführt. Die Notlage der Redakteurin wurde allen verantwortlichen Stellen eindringlich geschildert. Dass sich die Behandlung der Angelegenheit über Jahre hinzog, hat nicht der Personalrat zu verantworten."

Das ist die endgültige Blamage für Ex-Intendant Boudgoust und seine Mitstreiter mit ihrem Versuch, einen Fall sexueller Belästigung "unter die Tischdecke zu kehren", ihn als nicht geschehen abzuheften. Manchmal sind eben die Lügen der Chefs in ihrer Wirkung und Dauer kürzer befristet als die Arbeitsverträge ihrer Untergebenen.


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5 Kommentare verfügbar

  • Pb
    am 07.07.2021
    Antworten
    Der fall ist sehr dubios und der artikel, wie gewohnt, sehr schlecht.
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