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10 Jahre Schwarzer Donnerstag

Schlag in den Magen

10 Jahre Schwarzer Donnerstag: Schlag in den Magen
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Der ehemalige Richter Dieter Reicherter erlebte den Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner am 30. September 2010 hautnah mit. Zehn Jahre später rekapituliert er die juristische Aufarbeitung des Einsatzes ­– und kritisiert, dass objektive Ermittlungen ausblieben und viele Straftaten ungeahndet sind.

Dank an Bundsinnenminister Horst Seehofer. Er hat mir ungewollt mit seiner Äußerung zu rechtsextremen WhatsApp-Gruppen bei der Polizei in einem "Bild am Sonntag"-Interview die passende Überschrift zur juristischen Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten geliefert. Beim Schreiben kommen die Erinnerungen, wie ein braver Staatsbürger und soeben pensionierter Richter, der am 30. September 2010 zufällig in Stuttgart war und sich für den Ablauf eines Polizeieinsatzes interessierte, plötzlich abseits des Geschehens zum Opfer eines Wasserwerferangriffes wurde. Und dies ohne jegliche Vorankündigung und ohne jegliche polizeitaktische Notwendigkeit. Das Gefühl der Ohnmacht angesichts des brutalen rechtswidrigen Vorgehens des Staates gegen seine eigenen Bürger hat mich in den zehn Jahren, in denen ich mich um eine Aufklärung des Geschehens bemühe und für Demokratie und Gerechtigkeit arbeite, nie mehr losgelassen.

Dieter Reicherter, Jahrgang 1947, war bis zum Eintritt in den Ruhestand am 1. September 2010 als Staatsanwalt und Richter tätig, zuletzt als Vorsitzender einer Strafkammer des Landgerichts Stuttgart. Seine Erlebnisse beim Polizeieinsatz am Schwarzen Donnerstag führten ihn in den Widerstand gegen Stuttgart 21. Der in Althütte lebende Reicherter berichtete gemeinsam mit Jürgen Bartle für Kontext im Jahr 2014 kontinuierlich über den Wasserwerferprozess vor dem Stuttgarter Landgericht, woraus das Kontext-Buch "Der Schwarze Donnerstag. Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt." entstand. (red)

Aber ganz vergeblich war die Arbeit nicht. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat am 18. November 2015 ein bahnbrechendes Urteil gefällt. Demzufolge waren der Polizeieinsatz und die dabei getroffenen Maßnahmen rechtswidrig. Der lange Kampf für Recht und Ordnung – um diese Begriffe einmal mit richtiger Zielrichtung zu gebrauchen – hat sich also gelohnt. Zitat aus dem Urteil: "Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie gebietet stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist; derartige Eingriffe sind die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit. (...) Wenn der Staat – vorliegend der Polizeivollzugsdienst – einer Menschenansammlung von vornherein den Schutz des Artikels 8 GG abspricht und gegen sie mit dem Instrumentarium des allgemeinen Polizeirechts vorgeht (...), wird die Versammlungsfreiheit (...) ebenso schwer, wenn nicht gar noch schwerer beeinträchtigt als im Fall eines Versammlungsverbots oder einer Versammlungsauflösung."

Und weiter: "Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 war nicht unfriedlich; eine kollektive Unfriedlichkeit lässt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht feststellen."

Immerhin: Das Land hat das Urteil akzeptiert, Ministerpräsident Kretschmann hat sich als dessen Folge bei den Verletzten entschuldigt, Schmerzensgeldzahlungen an die Schwerverletzten wurden geleistet (Kontext berichtete).

Deutliche Worte fand das Verwaltungsgericht für den Einsatz der folgenschweren Wasserstöße: "Nach Auskunft des beklagten Landes, die durch das Betrachten des vorhandenen Videomaterials bestätigt wird, verfügten die am 30. September 2010 eingesetzten Wasserwerfer über keine Zielvorrichtung. Bei Abgabe der Wasserstöße in die dicht stehende Menschenansammlung war es dementsprechend sehr wahrscheinlich, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden. Nach dem Eindruck, den die Kammer aus dem vorhandenen Material gewonnen hat, wäre es eher Zufall gewesen, wenn bei dem teilweise sehr massiven Einsatz der Wasserwerfer niemand im Gesicht getroffen worden wäre." "Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden, hätten wohl jedenfalls die Wasserstöße zur Vermeidung der Unangemessenheit der Anwendung unmittelbaren Zwangs unterbleiben müssen."

Strafverfolgung blieb hinter dem rechtlich Möglichen

Dennoch hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart trotz einer gegenteiligen Entscheidung des Oberlandesgerichts nur Fälle als Körperverletzung verfolgt, wenn Menschen am Kopf getroffen und dort verletzt worden waren. Alle anderen polizeilichen Maßnahmen hielt sie für rechtmäßig. Dementsprechend das dürftige Ergebnis ihrer Ermittlungen: Gegen den Führer der Wasserwerferstaffel (wegen sieben Verletzten) und den Kommandanten des Wasserwerfers 1 (wegen fünf Verletzten) wurde jeweils eine siebenmonatige Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt. Der Kommandant des Wasserwerfers 2 erhielt wegen dreier verletzter Personen eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Und dies nicht etwa, weil sie die Kopfverletzungen durch Wasserstöße zumindest billigend in Kauf genommen hätten, sondern vielmehr nur wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt. Vergleichbar einem Autofahrer, der infolge Unachtsamkeit einen Unfall mit Personenschaden verursacht.

Bleibt noch die Verurteilung des damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, der als Polizeiführer für den Einsatz verantwortlich gewesen war. Obwohl dieser zum Zeitpunkt der rechtswidrigen massiven Wasserstöße zusammen mit dem die Ermittlungen leitenden Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler vor Ort gewesen war, erfolgte zunächst eine Verfahrenseinstellung durch Häußlers Untergebene mit der falschen Begründung, Stumpf habe von den Wasserstößen nichts gewusst und habe seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt. Erst die Angaben der Angeklagten im Wasserwerferprozess, über die Kontext mit einem Foto von Stumpf und Häußler auf dem sogenannten Feldherrnhügel berichtete, führten zur Aufnahme von Ermittlungen und Stumpfs Verurteilung zu einer Geldstrafe von ebenfalls 120 Tagessätzen wegen fahrlässiger Körperverletzung (vier Verletzte).

Im Prozess des Landgerichts Stuttgart gegen zwei Einsatzabschnittsleiter wegen der Wasserwerfereinsätze wurde das Verfahren wegen geringer Schuld gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt (Kontext berichtete). Eine gleichartige Einstellung erfolgte auch in einem Verfahren gegen einen weiteren Angehörigen der Wasserwerferstaffel.

Obwohl entgegen allen Dienstvorschriften in vielen Fällen Pfefferspray und Schlagstöcke ohne Notwendigkeit eingesetzt worden waren, hielt die Staatsanwaltschaft diese Verstöße nicht für verfolgungswürdig. Erfolg hatten nur zwei Anzeigen: Diejenige eines Rechtsanwalts, der nach einem Termin am Amtsgericht friedlich durch den Schlossgarten gegangen war und ohne jeglichen Anlass von einem Polizisten niedergeknüppelt worden war. Und schließlich die Anzeige von Polizeibeamten gegen ihren eigenen Kollegen. Dieser hatte eine ältere Frau ohne jegliche Rechtfertigung mit Pfefferspray angegriffen und verletzt.

Somit blieb schon nach den amtlichen Zahlen die Verletzung von weit über 100, nach Angaben der Protestbewegung sogar von circa 400 Menschen strafrechtlich ungesühnt. Sie wurde von der Staatsanwaltschaft als rechtmäßig angesehen oder aber die Täter konnten nicht ermittelt werden. Die notwendige Konsequenz, nämlich Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte, hat die Politik im Land entgegen dem grün-roten Koalitionsvertrag von 2011 bis heute nicht gezogen.

Grundproblem: Ermittelnde waren am Einsatz beteiligt

Wie hätten der Polizeieinsatz besser aufgeklärt und Straftaten geahndet werden können? Sicher nicht mit der vorhandenen Struktur. Voraussetzung wären objektive Ermittlungen durch eine nicht in den Einsatz eingebundene Staatsanwaltschaft und unbefangene Polizeibeamte aus einem anderen Bundesland, vielleicht einer Sonderkommission eines Landeskriminalamts, gewesen.

Stattdessen ermittelte eine weisungsgebundene und demzufolge vielfältigen Beeinflussungen ausgesetzte Staatsanwaltschaft. Die Folgen zeigen sich bei der Aufklärung des Polizeieinsatzes sehr deutlich. Oberstaatsanwalt Häußler war als der Leiter der sogenannten Politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft Stuttgart bei dem Einsatz zugegen. Wenn er, obwohl damit selbst Zeuge geworden, dennoch die Ermittlungen leitete, so wird es bedenklich. Zumal er sich relativ früh in einem Zeitungsinterview festgelegt hatte, im Wesentlichen sei alles rechtmäßig gewesen. Er setzte diese Überzeugung in der Bearbeitung eigener Fälle um bis hin zu der Behauptung, auch die Verletzung von Kindern (unter anderem hatte er selbst den Fall eines verletzten 13-jährigen Mädchens eingestellt) sei rechtmäßig gewesen. Auf seinen erstaunlichen Verfolgungseifer, soweit es sich hingegen um Vorwürfe gegen Angehörige der Protestbewegung handelte, will ich hier nicht eingehen.

Als Leiter der Ermittlungen gab Häußler Anweisungen an die Polizei. Er, der mit Stumpf das Geschehen im Schlossgarten beobachtet hatte, beauftragte kurz nach dem Einsatz ausgerechnet diesen, die Ermittlungen bezüglich etwaiger Straftaten der polizeilichen Einsatzkräfte zu führen, also im Endeffekt gegen sich selbst zu ermitteln. Kein Wunder, dass Stumpfs Untergebene kaum Straftaten ihrer Kollegen entdeckten.

Häußler handelte nicht alleine

Sichtbar gemacht werden muss aber das System, welches hinter Häußler stand. Denn er handelte nicht allein. Er hatte Untergebene, die seine Linie umsetzten. So etwa die Staatsanwältin, die ein Verfahren gegen Häußler, also ihren Vorgesetzten, einstellte. Und er hatte Vorgesetzte bis hin zum Leiter der Staatsanwaltschaft Stuttgart, zum Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Stuttgart und schließlich dem Justizminister. Sie alle ließen ihn gewähren.

Leider führte das Ausbleiben objektiver Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft bei vielen Menschen zu einer Staats-und Justizverdrossenheit. Soweit Vorwürfe die Gerichte betreffen, ist dies jedoch oft sachlich unberechtigt. Denn es gilt der Grundsatz: Wo kein Kläger, da kein Richter. Wenn also die Staatsanwaltschaft Straftaten nicht aufklärt und nicht beim Gericht zur Anklage bringt, kann ein Richter niemanden verurteilen. Und das gilt für das Geschehen im Schlossgarten in hohem Maße. Als Beispiel mag die Verfahrenseinstellung gegen einen Polizeibeamten, Spitzname Prügelglatze, dienen, der im Schlossgarten durch hohe Aggressivität aufgefallen war (ein Video dazu unten bzw. hier). Der Staatsanwaltschaft reichte die Behauptung, er habe angenommen, demnächst angegriffen zu werden und sich vorbeugend wehren zu müssen.

Noch immer gibt es massive Hinweise, dass beim Einsatz zu Mitteln gegriffen wurde, die einem Rechtsstaat verboten sind. Im Interesse einer funktionierenden Demokratie wäre es auch heute noch dringend nötig, einen Blick hinter die aufgetürmte Mauer des Schweigens und der Lügen werfen zu können. Die Hoffnung, dass Menschen, die dabei behilflich sein können, dies genauso sehen und die Aufklärung unterstützen, habe ich noch nicht aufgegeben.


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1 Kommentar verfügbar

  • herkenrath
    am 02.10.2020
    Antworten
    Leider gibt es nur sehr sehr wenige Reicherts.
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