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Umgang mit Flüchtlingen

"Es darf nie wieder ein Moria geben!"

Umgang mit Flüchtlingen: "Es darf nie wieder ein Moria geben!"
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Die Lindauerin Romy Bornscheuer studiert Medizin und ist Gründerin der Hilfsorganisation "Europeans for Humanity". Mehrfach war sie auf der Insel Lesbos und half bei der medizinischen Versorgung der Menschen im Lager in Moria. Sie hat den Großbrand miterlebt, der das Camp zerstört hat.

In der Brand-Nacht vom 7. auf den 8. September sei sie mit anderen ehrenamtlichen MedzinerInnen zum Camp gefahren, erzählt Romy Bornscheuer. Ein kleines Auto hatten sie mit all dem vollgepackt, was sie brauchten, um Erste Hilfe zu leisten. Dann seien sie von FaschistInnen angegriffen worden, erzählt sie. "Sie sprangen auf unser Auto und bewarfen die Scheiben mit Steinen. Das war wirklich knapp, dass uns die nicht getroffen haben. Sie lagen uns praktisch im Nacken."

Als ihre Fahrerin aus dem Auto gezerrt wurde, flüchtete die kleine Helfer-Gruppe in den Wald und versteckte sich dort. Bornscheuer möchte nicht weiter über den Angriff sprechen, denn: "Uns geht es mit Abstand am besten." Sie sitzt gerade in der Notaufnahme, neben ihr zwei Frauen mit Kindern, die nach ihren Familienangehörigen suchen. "Sie wissen nicht, wie es weitergeht", sagt sie und unterbricht das Gespräch, um einer Flüchtlingsfamilie weiterzuhelfen. Zurück im Interview, das virtuell stattfindet, erklärt sie: "Ich habe schon an der syrischen Grenze gearbeitet. Ich habe schon viel Leid in meinem Leben gesehen, aber das hier ist schlimmer als alles, was irgendwie vorstellbar ist."

Die Menschen, die zuvor dicht gedrängt in Zelten, notdürftig gebauten Hütten und unter Planen gehaust hatten, schlafen nun wortwörtlich auf der Straße. Denn nur die ersten, die vor dem Brand geflüchtet sind, haben es geschafft, Lesbos' Hauptstadt Mitylini zu erreichen. Dann hat die Polizei die Straße blockiert und niemanden mehr durchgelassen. "Es gibt dort keine Toiletten, man schläft zwischen Müll und menschlichem Kot."

Bornscheuer hat bereits 2017 ein Jahr auf der Insel verbracht, um ehrenamtliche Arbeit in der kleinen Klinik vor Ort zu leisten. Im Rückblick auf den Zeitraum, den sie überblicken kann, sagt sie: "Die Situation hat sich dahingehend verändert, dass – obwohl immer noch Menschen ankommen – immer weniger Transfers ans Festland stattfinden und fast alle Asylgesuche abgelehnt werden oder überhaupt die Bitte, einen Asylantrag zu stellen."

Verschärfter Ausnahmezustand

Auch das, wovor sie und andere HelferInnen seit Monaten warnen, sei vor eineinhalb Wochen eingetreten: Corona hat das Camp erreicht. "Die Zahlen sind schnell gestiegen, 35 Fälle sind inzwischen bekannt." Es folgte ein Beschluss der Regierung, das Lager vollständig abzuriegeln; es wurde komplett unter Quarantäne gestellt, eine Mauer sollte gebaut werden. "Das gleicht einem Massenmord", meint die Medizinstudentin. "Die Menschen wurden völlig panisch. Das wurde immer schlimmer in den letzten Tagen. Es war ein absoluter Ausnahmezustand."

Dann sei der Großbrand ausgebrochen, der, wie sie betont, keine Überraschung war. Immer wieder habe es kleinere Feuer gegeben, die mal von Rechtsradikalen gelegt wurden, mal aus Verzweiflung von den Geflüchteten selbst oder sich durch ein Missgeschick entzündeten.

Zurück in Lindau erreichen Romy Bornscheuer regelmäßig Handyvideos und Nachrichten von der griechischen Insel. "Die Klinik, in der ich geholfen habe, war in Moria, direkt am Eingang. Diese Klinik und die Klinik der Ärzte ohne Grenzen sind fast das einzige, das noch steht", sagt sie. "Das ist ein reines Wunder." Behandeln könne man dort allerdings zur Zeit niemanden. Einerseits seien die teuren Instrumente in Sicherheit gebracht worden, andererseits würden die NGOs, die die Klinik sonst gemeinsam führten, derzeit nicht in den Bereich des abgebrannten Lagers gelassen. "Es ist schwierig, Zugang zu der 'restricted area' zu bekommen."

Vor allem sorgt sich Bornscheuer um die Menschen, die nun auf der Straße leben. Auf die Frage, ob die Polizei diese denn wenigstens vor faschistischen Angriffen schütze, antwortet sie: "Jetzt gerade, während wir sprechen, jagen FaschistInnen Geflüchtete und Leute von der Antifa durch die Stadt. Nein, die werden nicht beschützt. Und es gibt Videos, wie die Polizei stattdessen Leute von der Antifa verhaftet."

Kinder sind verschwunden

Das Schlafen auf den Straßen sei nicht sicher, denn zur Gefahr von Angriffen komme die Kälte und der starke Wind. "Es ist glücklicherweise noch nicht so kalt, dass man nachts erfrieren könnte", sagt sie. Auch Corona stelle weiterhin eine Gefahr dar. Die 35 infizierten Menschen, die eigentlich in Isolation waren, konnten noch nicht alle identifiziert werden: "Das heißt, dass sich das Virus noch schneller verbreitet, als es das sowieso schon getan hat." Allerdings stelle Corona ihrer persönlichen Einschätzung nach nicht die größte Gefahr dar. Sie betont: "Kinder sind generell besonders gefährdet." Laut der gemeinnützigen Organisation "Advocates Abroad" gelten seit dem Brand mindestens 20 unbegleitete Minderjährige als vermisst.

Auch Wunden müssten behandelt werden, Stichwunden und Schlagwunden etwa. Und auch das Feuer habe zu Verletzungen geführt. "Die offizielle Zahl der Toten ist Null, die offizielle Zahlen der Verletzten ist Null", weiß sie. Das bilde allerdings nicht die Realität ab. "Tote habe ich keine gesehen: Es kann also sein, dass diese Zahl stimmt. Verletzte gibt es allerdings. Einige habe ich persönlich gesehen. Die Zahl ist hoch."

Während das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen mit Hilfe des Militärs wieder eine Zeltstadt für die aktuell gänzlich obdachlosen geflüchteten Menschen aufbaut, findet Bornscheuer dafür deutliche Worte: "Es darf nie wieder ein Moria geben. Die Menschen müssen sofort evakuiert werden. Das ist die einzige Lösung, die irgendwie menschlich ist." Sie fährt fort: "Sie dürfen auch nicht einfach in Athen am Victoria Square abgesetzt werden. Sie müssen an einen sicheren Ort gebracht werden, ein anständiges Asylverfahren bekommen. Diese ständigen Menschenrechtsverletzungen müssen aufhören."

Sie stockt kurz. Ihre Stimme zittert leicht, als sie sagt: "Das Einzige, was wir gerade tun können, damit wir nicht vollständig zusammenbrechen: Versuchen, das Ganze als Chance zu sehen, dass die Menschen da irgendwie rauskommen." Leider sei dies sehr unwahrscheinlich, wenn man sich die politische Stimmung in Europa ansehe, die sich auch in der medialen Berichterstattung abzeichne. Sie spricht wieder lauter: "Aber wir werden alles dafür tun, dass die Menschen hierherkommen."

Lindau will helfen, Friedrichshafen nicht

In Bornscheuers Heimatstadt Lindau wird ihre Initiative begrüßt. Der Gemeinderat hat erst kürzlich sein Versprechen erneuert, zusätzlich geflüchtete Menschen zum Soll über den Verteilungsschlüssel aufzunehmen. Der ursprüngliche Beschluss zur zusätzlichen Aufnahme von Kindern und Jugendlichen wurde nicht nur bekräftigt, sondern erweitert: Die Gemeinde hat die Altersgrenze fallen gelassen und sichert nun auch die Aufnahme von Erwachsenen zu.

Der Pressesprecher der Stadt, Jürgen Widmer, sagt: "Dieser Beschluss wurde ausdrücklich mit der Unterstützung unserer Oberbürgermeisterin getroffen. Es war auch kein spontaner Beschluss aus einer Betroffenheitssituation heraus. Er war wohlüberlegt." Das für die Koordination von aufgenommenen Flüchtlingen zuständige Landratsamt habe von Anfang an sehr weitsichtig gehandelt und die Menschen dezentral untergebracht: "Das hat sich bewährt."

Vom bayrischen Lindau geht es 30 Kilometer weiter am Bodensee entlang ins baden-württembergische Friedrichshafen. Hier hat der Gemeinderat den Antrag der Grünen abgelehnt, die Gemeinde als "sicheren Hafen" auszuweisen. Zwar hatte Friedrichshafen zuvor schon über die Quote hinaus zusätzlich Geflüchtete aufgenommen, das Bekenntnis zur Seebrücke wurde jedoch mit einer starken Mehrheit abgelehnt. So geschehen im Frühjahr 2019. Inzwischen gibt es einen neu zusammengesetzten Gemeinderat. Die SPD-Fraktion, der sich der einzige Stadtrat der Linken angeschlossen hat, bekräftigt ihre Entscheidung von damals auch angesichts der aktuell weiter zugespitzten Lage auf Lesbos und bezeichnet den Beitritt zur Seebrücke als "reine Symbolpolitik". Selbst der linke Stadtrat, der sich eigentlich zur Seebrücke bekennt und die Initiative auf Demonstrationen schon als Redner unterstützt hat, schließt sich dieser Einschätzung an.

Die Grünen, die den Antrag damals gestellt haben, sind ihrer damaligen Einstellung – pro Seebrücke – treu geblieben. "Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Katastrophe in Moria macht es uns sehr betroffen, dass sich die Mehrheit des Gemeinderates damals dagegen ausgesprochen hat. Einige der Seebrücke-Forderungen sind ja in Friedrichshafen schon gute und gängige Praxis, die mit vielen hauptamtlichen Kräften und ehrenamtlich Engagierten umgesetzt wurde." Die Fraktion erklärt, dass sie sich nicht über Bundespolitik hinwegsetzen könne, betont aber auch, dass nun lokales Handeln gefragt sei, solange die EU sich nicht einigen könne: "Es brennt im wahrsten Sinne des Wortes."

In Stuttgart appellierte Oberbürgermeister Fritz Kuhn am 9. September an Bundesinnenminister Horst Seehofer: "Nach allem was wir über die Brände und die Situation der Flüchtlinge wissen, herrscht auf Lesbos höchste Not. Ich fordere daher den Bundesinnenminister auf, den Menschen schnell und unmittelbar zu helfen. Viele deutsche Städte haben sich im Rahmen der Initiative ‚Seebrücke’ bereiterklärt, Flüchtlingen wie denen auf Lesbos einen sicheren Hafen zu bieten und sie aufzunehmen. Auch Stuttgart wird sich daran beteiligen, wenn der Bund angesichts der verheerenden Lage auf Lesbos Flüchtlinge von der Insel rettet und nach Deutschland holt."

Auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann fand schnell klare Worte und bekannte sich gegenüber der Presse und in den sozialen Medien zur sofortiger Aufnahme von geflüchteten Menschen aus Moria: "Es ist für mich keine Frage, dass Deutschland helfen muss."

Inzwischen hat die Bundesregierung die Aufnahme von 1.500 Menschen beschlossen. Insgesamt sind 12.000 Menschen betroffen, darunter etwa 4.000 Kinder.


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