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Corona und die sozialen Folgen

Mehr Ungleichheit war nie

Corona und die sozialen Folgen: Mehr Ungleichheit war nie
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Die sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie werden noch lange nachwirken. Doch nicht das Virus ist unsozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die arme Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie schützt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland nie mehr Ungleichheit als heute. Aufgrund der militärischen Niederlage des NS-Regimes wirkten die Kriegsereignisse zumindest für einige Zeit sozial nivellierend. Sozialisierungs- und Kollektivierungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht verhinderten, dass sich der Reichtum in Ostdeutschland bei Großindustriellen und Großgrundbesitzern konzentrierte. In der "alten" Bundesrepublik setzte sich die Konzentration und Zentralisation des Kapitals hingegen fort, was zusammen mit dem politisch-ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus um die Jahrtausendwende dazu beitrug, dass heute 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen.

Vom rheinischen zum schweinischen Kapitalismus

Der französische Ökonom Michel Albert hat die deutsche Gesellschaft kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR zusammen mit den Niederlanden und der Schweiz sowie den skandinavischen Staaten und Japan als "Rheinischen Kapitalismus" bezeichnet und ihn dem angelsächsischen bzw. US-amerikanischen Wirtschaftsmodell idealtypisch gegenübergestellt. Obwohl das rheinische Modell gerechter und effizienter sei, werde sich das ultraliberale, weniger egalitäre Modell des US-Kapitalismus, bedingt durch die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die neoliberale Globalisierung der Finanzwirtschaft, über die ganze Welt ausbreiten – das prognostizierte Albert damals.

Feuilletonistisch ausgedrückt, hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel vom rheinischen zum schweinischen Kapitalismus stattgefunden. Bei dem Letzteren handelt es sich um ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet. Ein System, das der Profitmaximierung durch eine kleine Gruppe von Multimillionären und Milliardären, die eng mit ExponentInnen des politischen und Regierungssystems verbunden sind, kaum Grenzen setzt.

Dies wurde nie deutlicher als während der Covid-19-Pandemie: Mehr als 1.400 Beschäftigte der größten Fleischfabrik Europas, in der man täglich zehntausende Schweine schlachtet, zerlegt und weiterverarbeitet, wurden im Juni 2020 positiv auf das Coronavirus getestet. Darunter waren besonders viele polnische, rumänische und bulgarische WerkvertragsarbeiterInnen, die unter skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen litten. Alle seinerzeit am Hauptsitz des Fleischkonzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätigen Menschen mussten sich mitsamt ihren Familien in Quarantäne begeben, weil ein Überspringen des Virus auf die Gesamtbevölkerung befürchtet wurde.

Seuchen als sozioökonomische Gleichmacher?

Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen. Dies geschah bei der mittelalterlichen Pest, die in Europa ab 1347 unzählige Menschen dahinraffte, zumindest für eine gewisse Zeit. Während die Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise damals wegen ausbleibender KäuferInnen sanken, stiegen nämlich wegen fehlender Arbeitskräfte die Löhne. Anders verhielt es sich bei den bakteriell ausgelösten Cholera-Pandemien, die Europa im 19. Jahrhundert heimsuchten, weil davon Menschen am stärksten getroffen wurden, deren Arbeitsbedingungen miserabel und deren Wohnverhältnisse unhygienisch waren.

Die von ökonomischen, sozialen und politischen Verwerfungen begleitete Covid-19-Pandemie hat das Phänomen der Ungleichheit, das ein Kardinalproblem der meisten Länder und der Menschheit insgesamt ist, wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht. Trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen den Beteuerungen von politisch Verantwortlichen und Massenmedien, bei der Bundesrepublik handle es sich um eine "klassenlose" Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, kam ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte aus.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien vor einem Virus alle Menschen gleich. Bezüglich der Infektiosität von Coronaviren stimmt dies, im Hinblick auf das Infektionsrisiko allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie alle Menschen, aber keineswegs alle gleichermaßen. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Rheuma oder COPD (Raucherlunge), katastrophale Arbeitsbedingungen etwa in der Fleischindustrie sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhten das Risiko für eine Infektion und für einen schweren Krankheitsverlauf.

Reich auf Kosten der Armen

In der pandemischen Ausnahmesituation sind die Reichen noch reicher und die Armen zahlreicher geworden. Zwar brachen die Aktienkurse nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem KleinaktionärInnen, die generell zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Großinvestoren dürften die Gunst der Stunde außerdem für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen genutzt und davon profitiert haben, dass der Kurstrend bald wieder nach oben zeigte. Hedgefonds und Finanzkonglomerate wie BlackRock wetteten mittels Leerverkäufen erfolgreich auf fallende Aktienkurse und verdienten an den Einbußen der KleinanlegerInnen.

Zu den Hauptleidtragenden der Coronakrise gehörten Obdach- und Wohnungslose, aber auch BewohnerInnen von Gemeinschaftsunterkünften wie Geflüchtete, (süd)osteuropäische WerkvertragsarbeiterInnen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken und nichtdeutsche SaisonarbeiterInnen. Außerdem MigrantInnen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, GeringverdienerInnen, KleinstrentnerInnen und TransferleistungsbezieherInnen (EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen).

Die Zerstörung von Lieferketten und Vertriebsstrukturen, der Verlust von Absatzmärkten sowie die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen zur Folge. Einerseits blieben Konkurse, Kurzarbeit sowie Entlassungen (etwa in der Gastronomie, der Touristik und der Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne krisenresistenter Branchen (Lebensmittel-Discounter, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Pharmaindustrie) in der Coronakrise sogar Extraprofite.

Erstellt man eine Liste jener Konzerne, die von der pandemischen Ausnahmesituation profitiert haben, reicht sie von A wie Amazon bis Z wie Zalando. Auch wer ein Autokino betrieb oder einen Baumarkt besaß, der nicht geschlossen werden musste, verzeichnete einen Gewinnsprung. Vergleichbares gilt für mittelständische Unternehmer, die Schutzmasken, Swimmingpools, Strandkörbe, Trampolins oder Plexiglas herstellen ließen.

Viele kleine EinzelhändlerInnen haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen ihre Existenzgrundlage verloren. Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Bankrotten geführt hat, kauften vermutlich mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, um Haushaltsgeld zu sparen, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord, Aldi Süd und Lidl, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sein dürften. Schon vorher wurde das Privatvermögen von Dieter Schwarz, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland, mit 41,5 Milliarden Euro (Stand: September 2019) veranschlagt.

Infolge der Coronakrise sind auch mehr Girokonten von prekär Beschäftigten, Soloselbstständigen, KurzarbeiterInnen und KleinstunternehmerInnen ins Minus gerutscht, weshalb gerade die finanzschwächsten KontoinhaberInnen hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten. Dadurch wurden jene Personen, denen die Banken oder Anteile daran gehören, noch reicher.

Krise und Zukunft der Gleichheit

Weder hat Sars-CoV-2 die Kluft zwischen Arm und Reich verursacht, noch war das Coronavirus für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich, auf die es traf. Covid-19 ließ die bestehenden Interessengegensätze nur deutlicher hervortreten, während sie der Lockdown und die staatlichen Rettungspakete zuspitzten. Nicht das Coronavirus ist unsozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die arme Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie schützt.

Während am Ausbau der digitalen Infrastruktur nach den positiven Erfahrungen vieler Unternehmen mit Homeoffice, Online-Workshops und Videokonferenzen im Lockdown verstärkt gearbeitet werden dürfte, ist die Lobby für den Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sowie die Erweiterung der öffentlichen Dienstleistungen im Pflegebereich und im Gesundheitswesen weniger einflussreich. Nötig wäre eine grundlegende Veränderung des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, damit die Menschheit existenzielle Herausforderungen wie den Klimawandel bestehen kann.

Wenn die Coronakrise eines gelehrt hat, dann jedenfalls, dass die Produktions-, Konsum- und Lebensweise eines "schweinischen Kapitalismus" weder nachhaltig noch geeignet ist, die durch den Ausstoß von Treibhausgasen drohende Katastrophe zu verhindern.


Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher. Von 1998 bis 2016 lehrte er Politikwissenschaft an der Uni Köln. Heute (Mittwoch, 9. September 2020) erscheint sein Buch "Ungleichheit in der Klassengesellschaft" (183 Seiten, 14,90 Euro) im PapyRossa-Verlag.


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 09.09.2020
    Antworten
    Unter passend zum Thema: Ausgabe 452 Politik "Die revolutionäre Tradition fehlt" _ Olaf Scholz verschwommen durch ein Guckloch betrachtet, der sich seit 13:00 Uhr live im Bundestag den Fragen der Abgeordneten stellt:
    Cum-Ex-Geschäfte und Fall Wirecard sind Thema
    https://www.zdf.de/nachrichten/vide…
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