Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland nie mehr Ungleichheit als heute. Aufgrund der militärischen Niederlage des NS-Regimes wirkten die Kriegsereignisse zumindest für einige Zeit sozial nivellierend. Sozialisierungs- und Kollektivierungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht verhinderten, dass sich der Reichtum in Ostdeutschland bei Großindustriellen und Großgrundbesitzern konzentrierte. In der "alten" Bundesrepublik setzte sich die Konzentration und Zentralisation des Kapitals hingegen fort, was zusammen mit dem politisch-ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus um die Jahrtausendwende dazu beitrug, dass heute 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen.
Vom rheinischen zum schweinischen Kapitalismus
Der französische Ökonom Michel Albert hat die deutsche Gesellschaft kurz nach der Vereinigung von BRD und DDR zusammen mit den Niederlanden und der Schweiz sowie den skandinavischen Staaten und Japan als "Rheinischen Kapitalismus" bezeichnet und ihn dem angelsächsischen bzw. US-amerikanischen Wirtschaftsmodell idealtypisch gegenübergestellt. Obwohl das rheinische Modell gerechter und effizienter sei, werde sich das ultraliberale, weniger egalitäre Modell des US-Kapitalismus, bedingt durch die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die neoliberale Globalisierung der Finanzwirtschaft, über die ganze Welt ausbreiten – das prognostizierte Albert damals.
Feuilletonistisch ausgedrückt, hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel vom rheinischen zum schweinischen Kapitalismus stattgefunden. Bei dem Letzteren handelt es sich um ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet. Ein System, das der Profitmaximierung durch eine kleine Gruppe von Multimillionären und Milliardären, die eng mit ExponentInnen des politischen und Regierungssystems verbunden sind, kaum Grenzen setzt.
Dies wurde nie deutlicher als während der Covid-19-Pandemie: Mehr als 1.400 Beschäftigte der größten Fleischfabrik Europas, in der man täglich zehntausende Schweine schlachtet, zerlegt und weiterverarbeitet, wurden im Juni 2020 positiv auf das Coronavirus getestet. Darunter waren besonders viele polnische, rumänische und bulgarische WerkvertragsarbeiterInnen, die unter skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen litten. Alle seinerzeit am Hauptsitz des Fleischkonzerns Tönnies in Rheda-Wiedenbrück tätigen Menschen mussten sich mitsamt ihren Familien in Quarantäne begeben, weil ein Überspringen des Virus auf die Gesamtbevölkerung befürchtet wurde.
Seuchen als sozioökonomische Gleichmacher?
Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen. Dies geschah bei der mittelalterlichen Pest, die in Europa ab 1347 unzählige Menschen dahinraffte, zumindest für eine gewisse Zeit. Während die Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise damals wegen ausbleibender KäuferInnen sanken, stiegen nämlich wegen fehlender Arbeitskräfte die Löhne. Anders verhielt es sich bei den bakteriell ausgelösten Cholera-Pandemien, die Europa im 19. Jahrhundert heimsuchten, weil davon Menschen am stärksten getroffen wurden, deren Arbeitsbedingungen miserabel und deren Wohnverhältnisse unhygienisch waren.
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Jue.So Jürgen Sojka
am 09.09.2020Cum-Ex-Geschäfte und Fall Wirecard sind Thema
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