KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Psychische Krankheiten

Traurig, böse, verrückt

Psychische Krankheiten: Traurig, böse, verrückt
|

 Fotos: Senta van Fredericana 

|

Datum:

Eine Fotografin aus Göppingen startet ein Fotoprojekt über psychische Erkrankungen – und ist überrascht, wie viele Betroffene vor die Kamera wollen.

"Du bist doch erfolgreich!", "Du bist doch schön!", "Du führst doch eine glückliche Beziehung!"

Auf den ersten Blick sind das Sätze, die man gern über sich gesagt haben möchte und gerne hört. Wäre da nicht der Kontext, in dem diese Sätze fallen. Senta van Fredericana* ist freiberufliche Fotografin und in einer glücklichen Beziehung mit einer Frau, die schon viele Jahre eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt.  2019 haben die beiden schließlich geheiratet. Sie wohnen in einem kleinen Vorort von Göppingen.

Senta kennt die Sätze in dieser oder ähnlicher Form nur zu gut. Sie fallen immer dann, wenn sie ihre psychischen Erkrankungen, allen voran ihre Depression, zur Sprache bringt. Was mitschwingt oder auch mal direkt ausgesprochen wird, ist ein: "Ach komm, so schlecht kann es dir gar nicht gehen!" gern gefolgt von einem "Stell dich nicht so an!"

In den letzten zehn Jahren habe sie auch selbst gedacht, sie habe ihre Erkrankungen gut im Griff: "Und dann haben sie mich wieder eingeholt." Nicht nur deshalb sei es ihr nun wichtig, das öffentliche Bild, das über psychische Erkrankungen und vor allem über die Erkrankten selbst vorherrsche, zu korrigieren.

Die 36-Jährige ist motiviert durch die zahlreichen Rückmeldungen, die sie bekommen hat, seit sie die Idee, ein Fotoprojekt für mentale Gesundheit, in den sozialen Medien veröffentlicht hat. "Ich war fast erschlagen davon, wie viele Reaktionen da kamen, wie groß die Resonanz war, wie viele mitmachen und sich mit ihrem Gesicht in die Öffentlichkeit stellen wollen." Das habe ihr nicht nur gezeigt, wie wichtig die Thematik sei, sondern sei auch ein "krasser Vertrauensbeweis" an sie gewesen, die viele der ProjektteilnehmerInnen vorher gar nicht persönlich gekannt hätten. "Der erste Satz war dabei ganz oft: Wie schön, dass ich nicht alleine bin." Auch für sie selbst sei das die hauptsächliche Erfahrung gewesen, die das Projekt ausmache: das nicht allein sein, eine Art Gemeinschaft finden, bestehend aus Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und einem wirklich zuhören, wenn man etwas auf dem Herzen habe.

Ein Projekt, um der Unsichtbarkeit zu entrinnen

Generell in der Gesellschaft sei das selten. Neben den bereits geschilderten Reaktionen gäbe es auch häufig einen, irgendwie vielleicht auch gutgemeinten, Aufmunterungsversuch: "Ach, das kenne ich auch. Das wird schon wieder!" Auch diese Reaktionen verhinderten oft ein tatsächliches Zuhören oder ein Eingehen auf das Gesagte, lenkten sie doch den Fokus weg von dem, der gerade seine Situation schildere, hin zur Ich-Perspektive des eigentlichen Zuhörers. Sie zögert kurz, entschuldigt sich vorab für die Ausdrucksweise, die folge und schildert dann: "Solange du keinen Selbstmordversuch hinter dir hast, wirst du nicht ernstgenommen."

Ihr Projekt baut auf den Worten derer auf, die darin porträtiert werden. Die Frage "Wie geht’s dir?" bildet den Ausgangspunkt. Nicht nur einmal habe sie da Sätze gelesen wie: "Ich fühle mich unsichtbar" oder auch, drastischer formuliert: "Ich denke, wenn ich von heute auf morgen weg wäre, würde das gar niemandem auffallen." Das Projekt helfe den Menschen dabei, sich zu zeigen, der Unsichtbarkeit zu entrinnen.

Vor dem Fototermin gibt es einen inhaltlichen Teil, der in einer Ausstellung später auszugsweise gezeigt werden soll: Senta bittet die TeilnehmerInnen einen Text zu schreiben und zwar darüber, wie sie sich aktuell fühlen: "Ich lasse sie vorab aufschreiben, wie es ihnen geht."  Würde es ihr jemand erzählen, während sie fotografiert, "hätte ich einen Nervenzusammenbruch", befürchtet sie. 

Gleichzeitig erlebt sie das Projekt auch als enorme Bereicherung: "Es ist schön zu wissen, dass ich nicht das einzige Alien bin." Das "Alien", das ist ihr Satz, wie sie sich am besten beschreiben kann, erklärt sie und lächelt. "Ich sage immer, ich bin ein Alien, das zurückgelassen wurde und Heimweh hat." Und damit ist sie auch schon wieder mittendrin im Thema des Projekts und bei der Botschaft, die sie vermitteln möchte.

Den Werthereffekt aushebeln

"Nur weil jemand Schizophrenie oder Borderline hat oder depressiv ist, heißt das nicht, dass er kein eigenständiges Leben führen oder erfolgreich sein kann", betont sie. Ihr Projekt solle sichtbar machen, was eine psychische Erkrankung wirklich bedeute, dass die Menschen schön und erfolgreich sein könnten und eben auch in einer glücklichen Beziehung leben.

"Ich möchte den Werthereffekt aushebeln", erklärt sie und nimmt Goethes Werk "Leiden des jungen Werther" in die Hand, das ganz unscheinbar schon während des Gesprächs auf dem Couchtisch gelegen hat. Den Werthereffekt kennen Medienschaffende gut: Um ihn nicht zu erzeugen, herrscht eine stillschweigende Übereinkunft, über Selbstmorde nicht zu häufig zu berichten und sie medial so selten wie möglich darzustellen.

Senta jedenfalls möchte diesen Effekt umkehren und stattdessen einen Papagenoeffekt erzeugen. Sie möchte aufzeigen, dass man auch mit einer psychischen Erkrankung leben kann. Es gebe eben Phasen, sagt sie, "die richtig scheiße sind, aber eben auch Phasen, da geht es wieder. Und die Leute können trotzdem erfolgreich sein und ein gutes Leben führen mit ihrer psychischen Erkrankung." Sie lächelt, dreht sich zu ihrer Frau, die gerade hereingekommen ist und sich neben sie gesetzt hat und ergänzt: "Oder eben auch eine glückliche Beziehung führen." In ihrem Projekt möchte sie Menschen zeigen, die damit leben und das schaffen.

Eine ihrer Protagonistinnen habe ihr erzählt, berichtet sie, dass ihr Mann den Text gelesen habe, den sie für das Projekt verfasst habe. "So fühlst du dich also", soll er daraufhin gesagt haben. Senta lächelt wieder und sagt: "Und genau diesen Aha-Effekt möchte ich bei mehr Menschen erreichen."

Und noch etwas sei ihr wichtig. Um es auszudrücken, zitiert sie erneut eine ihrer Protagonistinnen, die gesagt habe: "Wenn ich nur ein kleines Mädchen davon abhalten kann, so in eine Essstörung abzurutschen, wie ich das getan habe, dann hat es sich schon gelohnt." Für sie selbst sei es zwar nicht das Thema Essstörung, aber auch für sie sei es genug, wenn sie nur einer einzigen Person das Gefühl vermitteln könnte, nicht alleine zu sein.

Jetzt melden sich auch Männer

Besonders gefreut habe sie sich, dass sich immer mehr Männer melden. "Die fallen noch viel weiter hinten runter als Frauen, die psychisch erkrankt sind", meint sie. Die meisten Selbstmorde, von denen sie persönlich wisse, würden von Männern verübt. Umso wichtiger sei es ihr, Männer ins Projekt einzubinden. Einer von ihnen habe etwa erklärt: "Es ist schwierig, eine Männerfreundschaft zu finden, in der man auch weinen darf." Auch beruflich sei es schwierig. Viele Männer thematisierten ihre psychische Erkrankung nicht; aus Angst, dann ihren Job zu verlieren: "Und wenn sie es dann nicht mehr aushalten, springen sie von einer Brücke oder vor einen Zug."

Wegen der bisherigen Rückmeldungen und der Dringlichkeit der Thematik soll es nicht bei einem reinen Fotoprojekt bleiben. Zum einen soll das Fotoprojekt irgendwann zu einer Kampagne werden, die auf den Werbeflächen zu sehen ist, auf denen derzeit von einer deutschen Stiftung zu lesen steht, dass Depressionen heilbar seien, wenn man sich nur früh genug in Behandlung begebe. Was Hoffnung stiften soll, verursacht letztlich Schuldgefühle auf Seiten der psychisch Kranken.

Doch auch damit nicht genug. Das Projekt soll weiter greifen. "Ich möchte die Menschen zusammenbringen", erklärt Senta. Zunächst mag sie dafür mit der derzeit entstehenden Ausstellung jeweils einen Abend in einer deutschen Großstadt verbringen und dort Leute zusammenbringen. Und dann hat sie noch eine Idee: "Ich möchte einen Verein oder eine Stiftung gründen, die Beratungsstellen eröffnen." Diese Beratungsstellen sollten einfach zugänglich sein, Orte, an denen man AnsprechpartnerInnen finde, egal, wie jung oder alt man sei, von denen man einfach ernstgenommen werde. "Ich möchte eine Anlaufstelle, einen Ort", sagt sie, "an dem ich auch einfach dasitzen und weinen kann und dann wieder gehen und nie wiederkommen."

"So etwas gibt es viel zu wenig", meint sie. Wenn sie ihr eigenes Beispiel heranzieht, fällt ihr in ihrem Umkreis eine einzige angebliche Anlaufstelle ein, mit der sie allerdings keine guten Erfahrungen gemacht hat. Wenn sie dort einen Satz sage, der sich psychologisch "falsch" anhöre, werde sie sofort in die Psychiatrie eingewiesen. Zudem sei es schwierig, außerhalb von Einrichtungen Therapeuten zu finden, die von der Krankenkasse übernommen werden. Für privat bezahlte Therapie reicht beispielsweise Sentas Einkommen nicht aus.

Doch bevor sie an ihrem größeren Traum arbeitet, steht zunächst das Fotoprojekt selbst im Vordergrund. Dafür können sich derzeit noch TeilnehmerInnen melden, sie sucht aber auch UnterstützerInnen, damit das Projekt mehr Reichweite bekommt. Über einen Gofundme-Link sammelt sie außerdem Spenden, um ihre Kosten zu decken. Anders als bei ihren bisherigen Projekten setzt sie bei diesem nicht auf den Verkauf der Ausstellungsbilder: "Wer möchte sich schon eine Depression oder Schizophrenie an die Wand hängen?" Sie lacht und meint, mit ihren bisherigen, eher erotischen Arbeiten sei das einfacher gewesen.

*Senta van Fredericana ist ein Pseudonym, das die Fotografin zu ihrem Schutz gewählt hat. Zu erreichen ist sie über Instagram@vanfredericana oder  per E-Mail an info--nospam@vanfredericana.com


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:



Ausgabe 681 / Sechs Jahre Leerstand / Uwe Bachmann / vor 16 Stunden 46 Minuten
Da hilft nur Enteignung



Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!