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Corona

Nüchtern bleiben

Corona: Nüchtern bleiben
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Häme wegen des bayerischen Test-Desasters verbietet sich. Aber erlaubt sein muss in Corona-Zeiten, die Art und Weise zu betrachten, wie Politik gemacht wird. Das Verschweigen von Fehlern spielt Corona-LeugnerInnen in die Hand. Und es erschwert den vernünftigen Blick auf die nächsten Wochen und Monate.

Manfred Lucha ist ein Freund klarer Ansagen. Es sei schlicht "unmöglich, von heute auf morgen Testzentren aus dem Boden zu stampfen", sagt der baden-württembergische Gesundheitsminister mit Blick auf die Nachbarn. Statt Versprechungen ins Schaufenster zu stellen, müsse "einfach mit Augenmaß vorgegangen werden". Dafür gab’s bisher aber wenig Ruhm und Ehre, nicht für PolitikerInnen, nicht im Freundes- und Familienkreis. Allenthalben wird Nachdenken und Abwägen verwechselt mit Zaudern und Zögern.

Immer wieder seit dem Lockdown Mitte März musste sich Baden-Württemberg, speziell Ministerpräsident Winfried Kretschmann, vorwerfen lassen, den Bayern hinterher zu hecheln. Dabei war Besonnenheit schon im März Trumpf, als es sich abzeichnete, dass Horrorprognosen Konjunktur bekommen würden. Allen voran war es der in konservativen deutschen Medien und Teilen der Union so neidvoll geschätzte österreichische Kanzler Sebastian Kurz (ÖPV), der öffentlich vorhersagte, "dass bald jeder von uns einen kennen wird, der an Corona verstorben ist".

Auch derzeit droht nüchternes Einschätzen der Lage mit allen ihren vielfältigen Chancen und Gefahren einiges an Popularität einzubüßen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als Organisation und Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens in der Pandemie. Und besonders mit Blick auf die nächsten Monaten, in denen sich Familien-, Arbeits- und Schulalltag wieder viel mehr als im Sommer in geschlossen Räumen wird abspielen müssen – mit all den bekannten Ansteckungsrisiken. Aber fortwährend von der zweiten Welle zu fabulieren, hilft niemanden wirklich weiter, außer vielleicht den Corona-LeugnerInnen.

Testen, testen, testen, bleibt ein Credo

Die grün-schwarze Landesregierung – von der Kretschmann meint, sie sei zusammengeschweißt worden durch die Krise – will ihren Weg jedenfalls weitergehen. "Nicht die ersten sein", sagt der Gesundheitsminister, "sondern die, die’s richtig machen." Rund 78.000 Tests finden inzwischen pro Woche statt, bei Infizierten und Kontaktpersonen, bei ReiserückkehrerInnen – aktuell wird über Kroatien als zusätzliches Risikogebiet diskutiert – und bei pädagogischem Personal. Nicht mühsam, unstrukturiert und zeitraubend mit der Hand wird erfasst wie anfangs in Bayern, sondern elektronisch, wie es sich gehört in IT-Zeiten. Es gibt auch keine Missverständnisse, absichtlich oder versehentlich, so wie mit jenem positiv getesteten Mann aus dem Landkreis Schwandorf, der meinte, alles sei in Ordnung, wenn er nicht binnen 24 Stunden informiert wird. War es aber nicht, und jetzt sind 120 Gäste einer Geburtstagsparty in Quarantäne.

Testen, testen, testen, bleibt ein Credo. Die Kapazitäten in Baden-Württemberg könnten, wenn alle Labore sieben Tage die Woche arbeiten, hochgefahren werden, verdoppelt auf 150 000. Selbst das wird möglicherweise noch nicht reichen im Herbst. Christian Drosten, der bekannteste unter den inzwischen aus Funk, Fernsehen und Netz hinlänglich bekannten Virologen, gibt deshalb schon mal vorsorglich den Rat, nicht mehr jedem Einzelfall nachzugehen. Er hält den Aufwand bei dieser Strategie mittlerweile für zu hoch. Ginge es nach Drosten, würde mehr Mühe darauf verwandt, allfällige Cluster im Griff zu behalten. Und Mathematiker empfehlen übereinstimmend, Zahlen genauer oder sogar anders als bisher zu analysieren. Genauer zu schauen, wie viele Menschen sich in einer Stadt oder einer Region relativ zur Zahl der Einwohner infiziert haben.

Es gibt noch keinen Grund zur Unruhe

Einfach selbst im Laien-Blick zu behalten ist die Sieben-Tage-Inzidenz, also die wöchentliche Zuwachsrate pro 100.000 Einwohner. Bei 50 neuen Infektionsfällen springt die Ampel auf Rot, und der regionale oder auch nur lokale Lockdown greift. Derzeit liegt Baden-Württemberg bei 6,8 – so viel zum Thema zweite Welle.

Und in Bayern geraten die Macher unter Druck. Andreas Zapf, Präsident des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, und Markus Söder hatten sich gegenseitig die Lorbeerkränze aufgesetzt für "beherztes Vorgehen und harte Entscheidungen", zuerst im Lockdown und dann auf dem Weg durch die Lockerungen. Jetzt ist Zapf selber von einer harten Entscheidung des smarten Regierungschefs betroffen und muss den Hut nehmen – wegen des Test-Desasters. Häme verbietet sich, aber erinnern nicht. Manfred Lucha kann einen seiner allerersten Sätze zum Dauerthema, das die Welt so viele weitere Monate begleiten wird, getrost recyclen: "Es gibt keinen Grund zur Unruhe." Jedenfalls noch nicht.


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5 Kommentare verfügbar

  • Hans im Zahlenglück
    am 24.08.2020
    Antworten
    Dass Kontext sich nach einer verdienstvollen Dekade S21-Kritik so deutlich in den Chor der C-Pandemisten einreiht, erschreckt. Bisher konnte kaum ein kritisches Wort zum falschen Zahlenspiel des RKI gelesen werden, dafür viel Oberschwabenhäme. WTF, als wäre die rationale Denkfähigkeit an Regionen…
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