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Stuttgart 21

Sommer des Protests

Stuttgart 21: Sommer des Protests
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Bauzaun, Blockaden und Baggerbisse: Wir schreiben das Jahr 2010, der Protest gegen Stuttgart 21 erlebt seinen Höhepunkt. Zehntausende gehen auf die Straße, die Stadt wird zur Hochburg einer kreativen Gegenwehr, die manche Politiker ins Schwitzen bringt.

"In Stuttgart geschieht Ungeheuerliches", sagt Claus Kleber irgendwann Anfang August 2010, und wie der Anchorman des ZDF-Heute-Journals reiben sich damals viele in der Republik die Augen angesichts dessen, was da passiert in Stuttgart. Der Protest gegen Stuttgart 21 hat, so scheint es, die Stadt übernommen.

Zum Ungeheuerlichen im Sinne Klebers gehört sicher auch die bunte Schar, die sich am 30. Juli 2010 vor dem Nordflügel des Bonatzbaus einfindet und auf den Boden setzt. Die Initiative Parkschützer hat zum ersten Mal Alarm ausgelöst, per SMS haben ihn die Projektgegner bekommen, und innerhalb kürzester Zeit kommen 1.500 Menschen, um mit einer Blockade zu verhindern, dass ein Bauzaun aufgestellt wird.

Die Polizei trifft dabei unter anderem auf blockierende Landtagsabgeordnete und Gemeinderäte, darunter viele Grüne: etwa Brigitte Lösch, Landtagsabgeordnete und ein Jahr später Landtagsvizepräsidentin. Werner Wölfle, Gemeinderat und Landtagsabgeordneter, ein Jahr später Bürgermeister für Verwaltung und Krankenhäuser. Aus dem Gemeinderat außerdem noch Hannes Rockenbauch (SÖS), den die "Bild"-Zeitung "Randalestadtrat" nennt wegen seiner Beteiligung an der Nordflügelbesetzung vier Tage zuvor, Clarissa Seitz und Jochen Stopper (beide Grüne). Neben Letzterem sitzt Verdi-Geschäftsführer Bernd Riexinger, der erst zwei Jahre später, als er Parteivorsitzender der Linken wird, bundesweit bekannt werden soll.

Die Bauzaun-Aufstellung können die Blockierer nicht verhindern. Sie zeigen aber, dass mit einem reibungslosen Durchziehen des Projekts nicht zu rechnen ist. Und umgehend eignen sich die BürgerInnen den Zaun an, machen ihn zum Spiegel eines kreativen Protests: Sie pinnen Zornesäußerungen, Karikaturen, Collagen, selbstverfasste Spottverse und andere Kleinkunstwerke oder kopierte Zeitungsartikel an ihn, bald ist er übersäht mit Tausenden Objekten – und eine veritable Touristenattraktion. Den Inbegriff von Joseph Beuys' "Idee einer sozialen Plastik" nennt der Stuttgarter Kunsthistoriker Ulrich Weitz den Bauzaun, der Idee, "dass jeder Mensch durch kreatives Handeln zum Wohl der Allgemeinheit beitragen kann".

Punks und Perlenkettenwitwen

Seit November 2009, seit den ersten Montagsdemos, ist der Protest gegen das Projekt stetig angeschwollen, doch im Juli 2010 macht er einen Sprung, weil nun angekündigt wird, dass der Nordflügel bald abgerissen werden soll. Zu einem "Protestival" im Schlossgarten kommen am brütend heißen 10. Juli rund 10.000 Menschen, am 17. Juli wird die "Mahnwache" vor dem Nordflügel aufgestellt, am 26. Juli besetzt eine Gruppe von AktivistInnen, darunter Rockenbauch, den leerstehenden Bahnhofsflügel. Es ist die "erste Aktion des zivilen Ungehorsams gegen das Großprojekt", so die Soziologin Julia von Staden, die über den Protest gegen S 21 promoviert hat. Und am 28. Juli initiieren der Schauspieler Walter Sittler und Volker Lösch, Regisseur am Staatstheater, eine neue Institution des Protests: den "Schwabenstreich" (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Abends wird es fortan laut im Kessel.

Neben Montagsdemos gibt es nun regelmäßig Samstags- und Freitagsdemos, die rasant wachsen – am 20. August sind es bereits 30.000 Teilnehmer. Es zeigt sich dabei eine gesellschaftlich erstaunlich breitgefächerte Bewegung, Menschen aller Altersstufen und aller Schichten sind vertreten – darunter ein großer Anteil der bürgerlichen Mitte, selbst ehemalige CDU-Wähler. Spötter sprechen schon von "Perlenkettenwitwen vom Killesberg", die um den Wert ihrer Immobilie bangen; das Bemerkenswerte ist aber, dass die Rentnerin und der Punk einträchtig nebeneinanderstehen und ins Gespräch kommen. Die Demos werden zu Informationsveranstaltungen über das Projekt, das Wort der "Volkshochschule unter freiem Himmel" fällt oft, und im Sommer 2010 scheint es, als wisse jeder in Stuttgart, was Anhydrit oder ein Integraler Taktfahrplan ist.

Wirkungsvoller als jede Imagekampagne

Hat das gigantomanische Projekt, die Art, wie es durchgezogen werden soll, also doch einen Nutzen? "Der beste Effekt von Stuttgart 21 ist, dass die Bürger auf die Straße gehen und sich politisch beteiligen, fürs Gemeinwohl engagieren. Das ist das, was die Stadt plötzlich interessant macht, denn dadurch wird es viel städtischer, als es vorher war", findet der international renommierte Stuttgarter Architekt Tobias Wallisser, der das Projekt ansonsten für überkommen und städtebaulich unsinnig hält.

Interessant findet die Stuttgarter Protestkultur auf jeden Fall die Presse, besonders die nicht aus Stuttgart kommende. Eher unbeholfen wirken dabei, siehe Claus Kleber, oft die Analyseversuche, warum der Schwabe als solcher und an sich auf einmal nicht mehr dieser solche ist, den man so schön im Klischeeschränkchen im Hinterkopf verstaut hatte. Doch Faszination für dieses "neue" Stuttgart schwingt oft mit, mehr, als jede Imagekampagne der letzten Jahre je hat bewirken können. In der Protestbewegung sind Künstler aller Couleur, Literaten, Kabarettisten, Musiker, es gibt Events, Lesungen vor dem Nordflügel, ein Protestbaden im Leuze.

Nimmt die überregionale Presse auch erst im August richtig Notiz von den renitenten Stuttgartern, so benennt sie nun – im Gegensatz zu den Lokalmedien – auch immer mehr Risiken und Fehlplanungen, die die Argumente der Stuttgart-21-Gegner bestätigen. Im "Stern" etwa warnt Frei Otto, einstiger Co-Architekt des Projekts, vor den gewaltigen geologischen Risiken der geplanten Tunnelbauten. Neue Gutachten und Erkenntnisse zu Kosten und Risiken tauchen auf, die in Wahrheit oft uralte sind, aber eben bis dahin ignorierte: Der bestehende "Engpass" ist gar keiner, der künftige Bahnhof aber ein Nadelöhr, die drohende Abkopplung vom Hochgeschwindigkeitsnetz grober Unfug, das Gestein tückisch, die Mineralquellen gefährdet. Reaktionen? Keine, außer stereotypen Dementis der Politiker in Stadt und Land, denen die sonst gemäßigte "Süddeutsche Zeitung" "Autismus" vorwirft.

Tag X: Nichts geht mehr

Der Beginn des Nordflügelabrisses am 25. August befeuert den Protest weiter: Es ist für die S-21-Gegner der "Tag X", als unter starkem Polizeischutz der erste Baggerbiss erfolgt. Zehntausende blockieren Kreuzungen und Straßen, kein Auto fährt mehr im Zentrum der Autostadt.

Als dann am 27. August 50.000 Menschen auf der Straße sind, den Landtag umzingeln und die Bannmeile stürmen, scheint sich etwas zu tun. Bahnchef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) sind für Gespräche, eifrig wird sondiert. Aber ein Baustopp als Zeichen guten Willens? Das geht dann doch zu weit. Das Aktionsbündnis gegen S 21 sagt ab.

Je kleiner die Nordflügelruine wird, umso größer werden die Demos. Am 10. September sind es nach Veranstalterangaben 69.000 Demonstranten, und sie bilden eine Menschenkette zwischen den Parteizentralen der CDU am Rotebühlplatz und der SPD am Wilhelmsplatz. SPD-Landeschef Nils Schmid verspricht vor den Demonstranten, sich für einen Baustopp und einen Volksentscheid einzusetzen. Keine inhaltliche Neujustierung, eher der Versuch, auf miese Umfragewerte zu reagieren und Druck aus dem brodelnden Parteikessel abzulassen – denn an der Basis rumort es schon lange. Als Ziel des Volksentscheids nennt Schmid: "Die Akzeptanz für Stuttgart 21 noch verstärken." Die Umsetzung erscheint wenig aussichtsreich – der "Stern" spricht vom "großen Bluff der SPD".

OB flüchtet, MP nimmt Fehdehandschuh auf

Während der Nordflügel schrumpft, fragen sich viele: Ist nun der Park bald dran? Ein Robin-Wood-Baumhaus wird Anfang September nachts von einem SEK geräumt, bei der Aktion schlägt ein Beamter einer Frau ins Gesicht, die Eskalation bleibt dennoch aus. Ein paar Tage später, am 12. September, wird der Schlosspark zur Konzertkulisse, professionelle Orchestermusiker spielen Antonín Dvoráks Symphonie "Aus der Neuen Welt". Am Ende scheint die Hälfte der Zuschauer Tränen in den Augen zu haben – wegen Dvoráks Harmonien, und wegen der leisen Ahnung, dass dies ein Abschiedskonzert sein könnte.

Tags darauf weist der "Spiegel" in einem langen Artikel ("Rennbahn in Randlage") nach, dass das Projekt schon zu Beginn als unwirtschaftlich galt und der erhoffte Nutzen eine Chimäre sei. Am Abend ziehen nach der Montagsdemo etliche Demonstranten zur Staatsgalerie, in der sich Oberbürgermeister Wolfgang Schuster gerade befindet. Der OB flüchtet unter Polizeischutz durch einen Hinterausgang.

Der letzte Rest des Nordflügels fällt in der Nacht zum 17. September. An diesem Tag tritt Wolfgang Drexler (SPD) als S-21-Projektsprecher zurück – natürlich nicht deshalb, weil der Abriss wenig mit dem von ihm angekündigten "behutsamen Rückbau" zu tun hatte, sondern weil, wie Drexler sagt, er keinen Konflikt mit seiner Partei wolle, die einen Volksentscheid fordere.

In der CDU wird man nervös. Bundeskanzlerin Merkel erklärt am 14. September im Bundestag die kommende Landtagswahl zur "Volksabstimmung über Stuttgart 21". Mappus verkündet am 19. September: "Mir ist der Fehdehandschuh hingeworfen worden, ich nehme ihn auf", ein paar Tage später klagt er gegenüber dem "Focus" über "Berufsdemonstranten".

Im Park übernachten derweil immer mehr Menschen. Nachdem ein erstes Zeltdorf geräumt worden ist, kommen schnell neue Camper. Allmählich wird es kalt im Park und nass – bislang nur durch den Regen. Der Sommer ist vorbei.


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9 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 08.08.2020
    Antworten
    Hat Oliver Stenzel da nicht ein tolles Bild mit Aussage erwählt? – Werner Wölfle, Hannes Rockenbauch und Bernd Riexinger sind im Bild festgehalten. Sitzend, also die STAATSMACHT über sich, im Rücken der Genannten stehend, damit jedoch _nicht_ deren Rücken stärkend! [1]

    Protuberanzen sich noch…
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