Spaziert man die Karlshöhe herunter, etwa auf der Willy-Reichert-Staffel, spaziert man auch die nach Höhen gestaffelte soziale Situation in Stuttgart im Schnelldurchlauf entlang. Zwischen palastartigen Villen in der Humboldtstraße können sich Betuchte in der Klinik auf der Karlshöhe ihr Antlitz chirurgisch verschönern lassen, ein paar Minuten weiter unten, wenn die Reichert-Staffel in die Römerstraße gemündet ist und die Tübinger Straße schneidet, ist optische Aufpäppelung billiger möglich – mit gebrauchten Klamotten im Laden "Second Dreams". Weiter in der Römerstraße bietet der Arzt N. Quilla Gamboa Naturheilverfahren und Sportmedizin an, Alimentari da Loretta italienische Köstlichkeiten, im siffigen Novo Casino kann Geld verbrannt werden und gegenüber, jenseits der Hauptstätter Straße, steht links der Afro Supermarket und rechts ein portugiesisches Kulturzentrum.
Die allgegenwärtigen Einflüsse von Migration sind unübersehbar, und wie zur Bekräftigung einer Erfolgsgeschichte liest man dann die ersten Sätze auf einem DIN-A-4-Blatt, das an einem Verteilerkasten klebt: "In Stuttgart gibt es eigentlich keinen Rassismus. (…) Wir sind das Paradebeispiel für Integration. Sogar die New York Times hat über uns geschrieben". Menschen mit lokalpatriotischen Rezeptoren kriegen hier vermutlich schon leuchtende Augen. Und stolpern sodann beim Weiterlesen: "Und faktisch ist das die größte Lebenslüge dieser Stadt und auch der Region."
Lebenslüge, warum das? Ein paar Antworten und Anregungen folgen, denn dieser Zettel und drei weitere Varianten kleben noch an anderen Stellen der Römerstraße, dies- und jenseits der Stelle, wo sie die Hauptstätterstraße kreuzt. Anregungen zum Weiterdenken in einer Stadt, die nach der Krawallnacht im Juni immer noch recht rat- und planlos scheint, wie denn die Geschehnisse zu deuten sind. Kein Urheber, kein V.i.S.d.P. (Verantwortlicher im Sinne des Presserechts) steht auf den Blättern, und das wäre auch nicht allzu vernünftig, denn wildes Plakatieren erfüllt den Tatbestand der strafbaren Sachbeschädigung, egal wie aufklärend die dargestellten Gedanken sind.
Zu Zettel 1: Der vermutlich gemeinte Artikel der "New York Times" ist schnell gefunden, geschrieben vom Architekturkritiker Michael Kimmelmann am 6. Oktober 2015, ein Aufhänger ist das, was man damals "Flüchtlingskrise" nannte. "Stuttgart struggles to house the Migrants it embraces" heißt der Text, auf deutsch etwa: "Stuttgart bemüht sich, die von der Stadt bereitwillig angenommenen Migranten auch unterzubringen". Die Integration von Migranten beschreibt Kimmelmann tatsächlich als nahezu schattenlose Erfolgsgeschichte. Das größte Problem Stuttgarts dagegen sei, seiner Bevölkerung, der alten wie neu hinzukommenden, bezahlbaren Wohnraum zu bieten. In Stuttgart, schreibt Kimmelmann, "migration has long been an engine of growth, and integration the bedrock of civic pride" ("Migration war lange ein Wachstumsmotor, und Integration der Grundstein des bürgerschaftlichen Stolzes"). Wachstumsmotor, okay, aber Grundstein des Stolzes? Das klingt doch etwas romantisierend. Oder nach Lebenslüge, je nachdem. Noch mehr nach der sogenannten Krawallnacht, nach der migrantische Jugendliche reflexhaft von leider vielen eher als Grundstein der Unruhe denn des bürgerschaftlichen Stolzes gesehen werden.
Unter Rommel war die CDU schon mal weiter
Kleiner Exkurs: Stolz waren viele in Stuttgart sicher, als die Stadt 2004 von der Unesco den "Cities for Peace"-Anerkennungspreis bekam, für ihre Integrationspolitik. Die wird häufig als mustergültig in Deutschland bezeichnet, und ganz falsch ist das auch nicht. Es hatte auch damit zu tun, dass Stuttgart die erste deutsche Stadt war, in der 1955 so genannte Gastarbeiter aus Italien ankamen und hier bald viele mehr aus anderen Ländern folgten – um die musste sich die Stadt einfach früher und mehr kümmern als manche andere Kommune. Die Oberbürgermeister Manfred Rommel und Wolfgang Schuster, beide CDU, erarbeiteten sich für ihren Umgang mit dem Thema Integration einen guten Ruf, so desaströs ihre Politik auch teils in anderen Bereichen wie Städtebau, Denkmalschutz oder Verschleuderung kommunalen Tafelsilbers gewesen sein mag. Stuttgart hatte früh einen Ausländerbeauftragten im Rathaus, Schuster benannte diesen 2001 in "Integrationsbeauftragten" um und siedelte dessen Abteilung in seinem Stab an.
Verdienste, die auch die politischen Gegner anerkennen: In seiner jüngsten Rede im Gemeinderat lobte selbst der linke Hannes Rockenbauch (SÖS) in dieser Hinsicht "das Erbe eines Manfred Rommel und auch eines OB Schuster" – in Abgrenzung zu aktuellen CDU-Bestrebungen in Stadt und Land, die eher auf Law and Order setzten. Und tatsächlich ist zwischen manchen Äußerungen des aktuellen Landesinnenministers Thomas Strobl (CDU) und des früheren OB Rommel kaum ein größerer Gegensatz denkbar: Während Strobl gegenüber "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt kurz nach der Randale-Nacht im Juni rhetorisch und inhaltlich irrlichtert, "wir sollten es mit Multikulti nicht übertreiben. Multikulti hat seine klaren Grenzen in den geltenden Gesetzen, insbesondere Strafgesetzen" , sagte Rommel schon 1990 in einem SWR-Interview: "Die multikulturelle Gesellschaft existiert bereits. Und jede Kulturgesellschaft ist eine multikulturelle Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der nur eine kulturelle Strömung da ist und nichts anderes, ist keine Kulturgesellschaft, ist eine sterile Gesellschaft."
4 Kommentare verfügbar
Rigolamus
am 24.07.2020Die Ursachen sind nicht unbedingt zu klären, aber was wirklich passiert ist in jener Nacht: das muss geklärt werden!
Die Stimmungsmache nach den Ereignissen vor dem Kölner Hauptbahnhof (Silvester 2015/16) hat…