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Lu15

Erst Razzia und dann Erpressung?

Lu15: Erst Razzia und dann Erpressung?
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Nach der Durchsuchung des Tübinger Wohnprojekts Lu15 sollte das Verfahren gegen einen zu Unrecht verdächtigten Bewohner eingestellt werden. Wurde es aber nicht. Weil die Staatsanwaltschaft sonst zugeben müsste, einen Fehler gemacht zu haben.

Auf der Suche nach den Tätern, die im Mai am Rande einer Hygiene-Demo ein Mitglied der rechten Organisation "Zentrum Automobil" sehr schwer verletzt haben, wurden vor drei Wochen, am 2. Juli, neun Wohnungen in Baden-Württemberg durchsucht. Eine der Razzien fand auch im linken Wohnprojekt Lu15 in Tübingen statt, um 6 Uhr morgens standen dort 30 Beamte in Vollmontur auf der Matte. Durchsucht wurde in erster Linie das Zimmer eines Bewohners. Ausweislich des Durchsuchungsbeschlusses habe vor allem schwarze Kleidung im Fokus gestanden, sagt der Bewohner. Davon habe er einen ganzen Schrank voll, mitgenommen worden sei aber nur ein originalverpackter schwarzer Schal. Schals dieser Art, sagt er und zeigt auf seine Frisur, verwende er gern als Haargummi. Beschlagnahmt wurden neben dem Haargummi sein Computer und sein Handy. Er selbst wurde vorübergehend festgenommen, die Polizei nahm Fingerabdrücke, Abstriche von seinen Armen, vermaß den Mann von oben bis unten, fotografierte ihn aus allen Blickwinkeln und nahm eine DNA-Probe, obwohl er das nicht wollte.

Thomas Strobl nannte die Razzien einen Tag später einen "bedeutenden Schritt zur Aufklärung". Er sagt: "Die mitunter sehr komplexen Ermittlungen wurden mit großem Einsatz durch das Polizeipräsidium Stuttgart geführt. Ich danke allen eingesetzten Kräften für diesen schnellen Ermittlungserfolg."

Ein Erfolg war es in Tübingen allerdings nicht. Denn dabei gewesen sein beim Angriff auf den Rechten kann der Tübinger nicht. Das belegt ein Foto, das Kontext vorliegt und ihn auf einer Demo gegen die AfD zeigt, die zum Zeitpunkt der Tat rund 30 Kilometer entfernt stattfand. Tatsächlich fand das letztlich auch die Staatsanwaltschaft heraus, der Vorwurf des Landfriedensbruchs gegen den Tübinger fällt demnach in sich zusammen. "Die bei ihm sichergestellten Asservate werden ungesichtet an ihn zurückgegeben", das Verfahren, berichtete das "Schwäbische Tagblatt" am 14.7., werde eingestellt.

Ein großer schwarzer Klecks

Der Bewohner arbeitet zum einen für die Tübinger Informationsstelle Militarisierung, zum anderen als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger, verteidigungspolitischer Sprecher der Linken, der momentan vor allem zum Thema Rechtsradikalismus beim Kommando Spezialkräfte recherchiert. Pflüger hatte schon kurz nach der Durchsuchung den Verdacht geäußert, dass es den Beamten offenbar weniger um den Mann, denn vielmehr um dessen Technik gegangen sei. Sein Mitarbeiter arbeite Corona-bedingt auch im Home-Office, also seien auch "mandatsrelevante Unterlagen" beschlagnahmt worden. Pflüger und sein Mitarbeiter haben Beschwerde gegen den mutmaßlich nicht rechtmäßigen Polizeieinsatz eingelegt.

Neu ist: Das Verfahren wurde doch noch nicht eingestellt, berichtet der Rechtsanwalt des Lu15-Bewohners. Die Staatsanwaltschaft bestätigt das. Es soll erst dann eingestellt werden, wenn Pflüger und sein Mitarbeiter die Beschwerde gegen den Polizeieinsatz zurücknehmen oder über die Beschwerde entschieden worden ist. Das kann man so machen, sagen Juristen zum Vorgehen. Vor allem dann, wenn die Staatsanwaltschaft nicht zugeben möchte, einen Fehler gemacht zu haben. Der nachweislich unschuldige Durchsuchte gilt solange als Beschuldigter. Auch über die Löschung von Fingerabdrücken und ähnlichem kann erst entschieden werden, wenn das Verfahren eingestellt ist. Pflügers Mitarbeiter wertet das als "Erpressung".

Warum sie den Tübinger überhaupt ins Visier genommen haben, dazu äußert sich die Staatsanwaltschaft nicht. Die Ermittlungsakten enthalten immerhin zwei Beweisfotos, die den jungen Mann zeigen sollen. Zu sehen ist auf beiden Bildern jeweils ein großer schwarzer Klecks. Mit etwas Fantasie könnte der tatsächlich ein Mensch sein.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 22.07.2020
    Antworten
    Fehlerkultur in der Rechtspflege, so das Thema beim 69. Deutschen Anwaltstag vom 6.-8. Juni 2018 in Mannheim.
    Ob wir bei uns in der BRD nicht besser gestellt wären, so längst
    „Verantwortungskultur in der Rechtspflege“
    als selbstverständlicher Umgang gelebt würde?!?
    https://deraeltestenrat.wordpr…
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