KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Rassismus im System

Racial Profiling, postmortal

Rassismus im System: Racial Profiling, postmortal
|

Datum:

Mehmet Daimagüler war Opferanwalt im NSU-Prozess und vertritt aktuell mehrere MandantInnen, die von Polizeigewalt und Diskriminierung betroffen sind. Ein Gespräch über beinharte Nazis im Polizeiapparat und junge Polizisten in Wohnungsnot.

Mehmet Daimagüler, 52, ist promovierter Jurist. Er war Anwalt der Nebenklage beim NSU-Prozess und arbeitet als Wirtschaftsanwalt und Unternehmensberater, Polizistenausbilder, Kolumnist und Autor. 2011 verfasste er das Buch "Kein schönes Land in dieser Zeit – Das Märchen von der gescheiterten Integration". Ende der 1990er-Jahre war er im Bundesvorstand der FDP, 2007 trat er aus der Partei aus. Für sein Engagement für Chancengleichheit und gegen strukturellen Rassismus hat ihn das Deutsch-Türkische Forum Stuttgart 2017 mit dem Manfred-Rommel-Preis ausgezeichnet.  (red)

Herr Daimagüler, was denken Sie, wenn Sie über sich lesen, Sie seien ein Vorzeigetürke?

So eine Überschrift ist wahrscheinlich gut gemeint, aber trotzdem im besten Fall nur Kokolores. Niemand hat das Recht, mich zu definieren, wer ich bin und wer ich nicht bin. Mit einer solchen Überschrift wird oft People of Colour von Weißen ganz wie in der Schule Kopfnoten verteilt: Warst du brav, gibt’s Lob, sonst gibt’s Schelte. Und wenn du ganz dolle brav bist, gibt’s ein Sternchen im Klassenbuch oder eben das Attribut Vorzeige- allerdings gefolgt von -türke. So brav kannst du gar nicht sein, um als Deutscher durchzugehen. Im Übrigen bin ich für eine Hauptrolle als devoter Uncle Tom in einer deutschen Heimatschmonzette weder geeignet noch habe ich Lust darauf. Für mich gilt, was Sartre über den Menschen gesagt hat: Ohne Ausrüstung und Gerät machte ich mich mit Haut und Haar ans Werk, um mich mit Haut und Haar zu retten. Was bleibt, wenn ich das unmögliche Heil in die Requisitenkammer verbanne? Ein ganzer Mensch, gemacht aus dem Zeug aller Menschen, und der so viel wert ist wie sie alle und so viel wert wie jedermann. Aber was soll man machen? Manche Menschen haben den Drang, anderen Menschen zu erklären, wer oder was sie zu sein haben.

Und warum ist das ein derart weit verbreitetes Phänomen?

Vielleicht macht es das Leben übersichtlicher, wenn alles fein sortiert in Schubladen gepackt ist. Sozusagen Marie Kondos Aufräumphilosophie als Psycho-Guide fürs ganze Leben? Vielleicht müssen Menschen anderen Menschen eine Identität zuweisen, um den Kern des eigenen Ichs zu finden, nicht des Ichs, das man ist, sondern des Ichs, das man gerne wäre oder als das man von anderen gerne wahrgenommen würde. Erst wenn ich das Sein des anderen betonfest definiere, kann ich mich selbst als die bessere Alternative des Menschseins bestimmen. Erst die Zuschreibung insbesondere negativer Eigenschaften beim anderen stellt mich als den besseren Menschen heraus, so nach dem Motto: Die Moslems sind intolerant. Ich weiß das, weil wir, und damit ich, sind supertolerant. Die Menschen im Süden Europas sind faul und liegen nur am Strand, wir hingegen sind superfleißig. Und so weiter. Das wirkt für mich wie Watte, um die im Inneren jedes Menschen pochenden Selbstzweifel und Dissonanzen zu unterdrücken. Wir wären weiter, wenn wir diese Zweifel zuließen, statt so zu tun, als hätten wir alles und immer auch uns selber im Griff. Kein Mensch ist emotional oder in seinem Verhalten monolithisch strukturiert. Jeder ist doch alles und nichts, zu vielem fähig, aber zu dem meisten nicht in der Lage. Niemand ist gut oder schlecht und niemand hat die Moral gepachtet. Wir alle sind fleischgewordene Widersprüche. Mir sind Leute ein Gräuel, die felsenfest davon überzeugt sind, frei von Widersprüchen zu sein.

Dann gehört konsequenterweise die Polizei ebenso in keine Schublade.

Stimmt. Ich gehe davon aus, dass die meisten Polizeibeamten und -beamtinnen einen guten Job machen. Wir müssen sehr genau hinschauen. Natürlich sind nicht alle Polizisten Rassisten oder Rechtsradikale. Es ist aber genauso falsch, bei jedem Fall von Rassismus oder Rechtsextremismus reflexhaft von "Einzelfall" zu schwadronieren. Wir haben beinharte Nazis im Polizeiapparat, und meine Vermutung ist, dass deren Anteil höher ist als in der Gesamtbevölkerung, weil die Uniform eine ganz bestimmte Klientel anlockt. Aber sie sind eine Minderheit. Mein Eindruck ist, dass Nazis in Uniform quantitativ ein kleineres Problem sind als kreuzbrave und demokratisch gesinnte Beamte und Beamtinnen, die rassistisch handeln, ohne das überhaupt zu bemerken. Wir haben es mit einem institutionellen Rassismus in Behörden zu tun, der rassistische Handlungen fördert und Artikel 3 Grundgesetz und sein Postulat von den Gleichheitsrechten aller Menschen mit Füßen tritt. Wichtig wäre jetzt, in einem ersten Schritt zu untersuchen, wie ist es um unsere Sicherheitskräfte und den Justizapparat bestellt? Das sollten wir schon alleine deswegen tun, um die anständigen Menschen im Apparat zu schützen.

Sie unterrichten selber Polizeibeamte und -beamtinnen …

... ja, ich unterrichte Grund- und Menschenrechte. Ein wichtiges Thema, das aber leider in der Polizeiausbildung viel zu kurz kommt. Das wird zumeist einmalig zu Beginn der Ausbildung behandelt und dann abgehakt. Dabei ist das ein Ausbildungserfordernis, das eine Polizeikarriere in seiner ganzen Länge begleiten muss. Alle paar Jahre müssen PolizistInnen zum Schusstraining. Mindestens genauso oft sollten verpflichtende Grundrechtelehrgänge und der Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie etwa Opferberatungsstellen stattfinden. Es geht aber nicht allein um eine bessere Ausbildung, um mehr Weiterbildung oder mehr Diversität, sondern es geht um die Stärkung der Menschen, die in der Gesellschaft marginalisiert sind. Wir haben es mit einer Staatsmacht zu tun, die in der Lage ist, Menschen, die anders sind, die sich nicht wehren können, beispielsweise Obdachlose oder Sinti und Roma, systematisch schlecht behandelt. In der Justiz wie im Bildungssektor, bei Arbeitsagenturen wie bei Sozialämtern. Es reicht nicht, wenn das Grundgesetz nur in den Amtsstuben hängt. Es muss verstanden und verinnerlicht werden, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist. Dieser Umbau kann und wird nicht auf Knopfdruck geschehen.

Wie könnten denn die einzelnen Schritte aussehen?

Um beim Thema Polizei zu bleiben: Es müsste viel genauer geschaut werden, wer aufgenommen wird in den Polizeidienst. Jemand ohne Vorstrafen, der aber jede Woche bei Pegida mitläuft oder in jihadistischen Moscheen abhängt, gehört nicht in Uniform. Polizisten und Polizistinnen, die egal in welcher Form menschenfeindlich auffallen, müssen aus dem Dienst entfernt werden. Sächsische SEK-Beamte fanden es sehr lustig, sich in Einsatzlisten als Uwe Böhnhardt einzutragen. Kennen diese Männer denn gar keine Scham? Mir ist schon klar, dass solche Männer kein Mitgefühl für die migrantischen Opfer des NSU spüren, aber vielleicht sollten sie wenigstens einmal mit den Angehörigen von Michèle Kiesewetter sprechen. Diese junge Beamtin wurde kaltblütig vom NSU ermordet. Ihre Angehörigen sind verurteilt zu einem Leben in Trauer, während Kollegen der Ermordeten das alles witzig zu finden scheinen. Solche Männer gehören aus dem Dienst geworfen. Es muss viel mehr Mühe darauf verwendet werden, Leute mit anderen Überzeugungen für den Polizeidienst zu gewinnen, Linksliberale zum Beispiel. Ich verstehe einerseits, dass die einen Bogen machen um solche Tätigkeiten. Aber dann überlassen wir das Feld den anderen. Das Werben für mehr Diversität darf sich nicht beschränken auf Frauen und Migranten, sondern muss viel weiter gehen. Diversität ist ohnehin kein Passepartout zur Lösung aller Probleme. Wenn wir nicht aktiv institutionellen Rassismus bekämpfen, dessen Grundlage Gesetze und Organisationsstrukturen sind, dann werden mehr Migranten alleine diese Strukturen nicht verändern, sondern sich umgekehrt tendenziell diesem System anpassen. Dem Obachlosen, der von der Polizei drangsaliert wird, ist nicht geholfen, bloß weil der drangsalierende Beamte nicht Müller, sondern Öztürk heißt.

Sie sind Gastarbeiterkind. Haben Sie selbst schon Rassismus erlebt?

Ich bin in Deutschland geboren, ich habe keinen deutschen Namen, aber ich bin Anwalt. Natürlich habe ich auch persönlich mit Rassismus zu tun, nur das sind Kinkerlitzchen im Vergleich zu dem, was Menschen mit schwarzer Hautfarbe erleben müssen. Oder Juden mit einer Kippa oder ein Sinto oder eine Romnja. Mich schützen Geld, Status und zuweilen eine große Klappe. Die Kombination von Minderheitenangehörigkeit und Armut macht viele Menschen besonders verletzlich. Das ist bitter, weil gerade diese Menschen besonders auf den Schutz des Gesetzes angewiesen sind und dann erleben müssen, wie Gesetzeshüter Wort und Geist des Gesetzes brechen.

Sie haben den Begriff Rassismus-TÜV geprägt, dem Gesetze unterzogen werden, weil sie zwar neutral formuliert sind, aber, wie Sie sagen, in der Anwendung Tür und Tor öffnen, Menschen unterschiedlich zu behandeln. Wie äußert sich das?  

Nehmen wir die Bundespolizei. Das Bundespolizeigesetz gestattet anlasslose Kontrollen von Fahrgästen. Wen die Polizei kontrolliert oder nicht entscheidet, so sagt das Gesetz, der "polizeiliche Erfahrungshorizont". Übersetzt heißt das: Wir machen das so, wie wir das schon immer gemacht haben. Und wie haben wir es schon immer gemacht? Die Faustformel lautet: Je dunkler die Hautfarbe, umso höher die Stop-and-Frisk-Wahrscheinlichkeit. Der polizeiliche Erfahrungshorizont ist eine Einladung auf Büttenpapier zu Racial Profiling, zur Schikane und sogar zu Gewalt.

Wie kann man dem gegensteuern?

Umdenken und endlich aufhören, die Polizei immer robuster auszustatten. Jetzt wird diskutiert, ob nicht flächendeckend der Einsatz von Tasern sinnvoll ist. Das ist ein Irrsinn. Ich vertrete in Nürnberg die Familie eines Mannes, der nach einem Taser-Einsatz gestorben ist. Gerade auch von Polizeigewerkschaftern wird ein Bild gezeichnet, dass Deutschland sicherheitspolitisch den Bach runter geht, obwohl alle Zahlen dagegensprechen. Diese Untergangsszenarien werden verknüpft mit rassistischen Bildern von der Großfamilie, dem Clan oder der Shisha-Bar als Hort des Verbrechens. Hier wird mit dem Bild des Fremden als Gefahr für Leib und Leben gespielt und mit einem Mal gibt es Mehrheiten für Maßnahmen, die es sonst nie gegeben hätte, für härtere Strafen etwa oder zur Militarisierung der Polizei. Das ist ein ganz gefährlicher Trend, denn je mehr ein bewaffneter Beamter darf, desto weniger wir er versuchen durch Kommunikation einen Konflikt zu lösen. Und malträtiert werden vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft.

Die SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken hat jüngst eine Untersuchung zum Thema Rassismus innerhalb der Polizei gefordert. Sind solche Debattenbeiträge hilfreich oder schließen doch nur die die Reihen, die nicht differenziert an die Lösung von Problemen gehen wollen?

Sie spricht von latentem Rassismus bei der Polizei. Über das Wort latent kann man sicherlich streiten. Aber konstatieren müssen wir, dass es institutionellen Rassismus gibt und dass der Polizeiberuf anfällig für Anhänger autoritärer Staatsvorstellungen ist. Viele derjenigen, die jetzt so aufheulen, sind doch die, die bisher umfassende Untersuchungen nicht wollten. Mich ärgert so sehr, wie viele, die sich als Freund und Helfer der Polizei ausgeben, immer nur nach schärferen Gesetzen rufen, aber nicht bereit sind, bessere Arbeitsbedingungen von Beamten und Beamtinnen zu finanzieren. Wenn sie wirklich Freunde und Helfer der Polizei wären, würden sie sagen, passt auf, jetzt wollen wir mal wirklich wissen, wie es um eure Lage bestellt ist, um die Verhältnisse im Dienst, um die wirtschaftliche Situation: Ihr bekommt das Gehalt, das eurer Verantwortung gerecht wird. So ranzugehen würde aber Geld kosten, um diese Diskussionen drücken sich die Freunde und Helfer der Polizei. Und deshalb ist ihre Solidaritätsadresse einfach nur heuchlerisch und verlogen. Der öffentliche Sektor und der Sozialbereich sind unterfinanziert, Kindergärtnerinnen, Altenpfleger können sich Mieten in der Nähe ihrer Arbeitsplätze nicht leisten, junge Polizeibeamte und -beamtinnen geht es ähnlich, aber alles, was sie bekommen, sind Corona-Applaus oder den Ruf nach schärferen Gesetze. Ein Witz. Schlimm ist es ganz klar auch, wenn Menschen, die sich als links verstehen, in einer Sprache über die Polizei sprechen, die menschenverachtend ist. Auch das muss man ansprechen. Wenn dieser Tage eine Journalistin der taz suggeriert, diese seien Müll und gehörten auf den Müll, entsetzt mich das.

Waren wir schon weiter?

Jedenfalls habe ich in meiner Kindheit und Jugend geglaubt, dass sich Akzeptanz von Vielfalt wie einem Naturgesetz folgend immer weiterentwickelt. Ich muss feststellen, dass das nicht so ist. Da war ich scheißnaiv. Wir erleben eine Renaissance des Nationalismus. Wir haben eine neue Art von gesellschaftlich akzeptiertem Rassismus, der beispielsweise in der Gestalt von Islamkritik daherkommt. Wir erleben, dass Themen und Sprache von Faschisten Teil des Mainstreams geworden sind. Auf Veranstaltungen werde ich von den gutmeinenden Gastgebern als "Passdeutscher" bezeichnet, die sich nichts dabei denken, während ich an die Nürnberger Rassengesetze denken muss.

Was also tun?

Wir müssen kämpfen, jeden Tag. Wir müssen dabei uns selber im Auge behalten, die Art und Weise wie wir sprechen, wie wir denken, wie wir handeln. Werden wir unseren eigenen Ansprüchen gerecht? Das ist die Frage, die wir uns jeden Tag stellen sollten. Im Falle meiner eigenen Person weiß ich, dass ich davon weit entfernt bin. Aber ich arbeite dran. Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage. Im NSU-Verfahren hatte ich den Leiter einer Mordkommission als Zeuge kritisch befragt. In der Pause kam er mit hochrotem Kopf zu mir und sagte mit empört-erregter Stimme, er sei doch kein Nazi, sondern er habe sein Leben lang SPD gewählt. Da ist das Problem in einem Satz beschrieben: Niemand, auch ich nicht, hatte ihn Nazi genannt. Vielmehr hatte ich seinen Ermittlungsansatz kritisch hinterfragt, bei dem von Sekunde eins an die Mordopfer ohne jeden plausiblen Grund als Drogenhändler gebrandmarkt wurden und zugleich Hinweise auf zwei verdächtige, weiße Fahrradfahrer ignoriert wurden. Was er betrieben hatte, war quasi postmortales Racial Profiling. Racial Profiling gab es vor dem NSU und das gibt es jetzt noch, und es wird angewandt von Beamten und Beamtinnen aller politischer Couleur und nicht nur von Nazis in Uniform. Wichtig wäre jetzt, in einem ersten Schritt zu untersuchen, wie es um unsere Sicherheitskräfte und den Justizapparat bestellt ist. Das sollten wir schon alleine deswegen tun, um die anständigen Menschen im Apparat zu schützen. Wir wissen im Moment einfach viel zu wenig.


In einer früheren Version dieses Textes hatte sich ein Transkriptionsfehler eingeschlichen. Wir haben den Begriff "Political Correctness" verwendet, gemeint war aber "People of Colour". Wir haben das korrigiert und bedauern den Fehler.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 27.06.2020
    Antworten
    War mir ein Vergnügen, dieses Interview zu lesen. Danke.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!