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 Fotos: Jens Volle 

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Der brutale Mord an George Floyd bringt auch in der Bundesrepublik Zehntausende auf die Straße, um gegen Rassismus zu protestieren. Sie wollen klarmachen, dass Polizeigewalt gegen People of Colour mitnichten nur ein amerikanisches Problem ist.

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Der Mietvertrag scheitert am Nachnamen, beim Bewerbungsgespräch war die Erscheinung nicht deutsch genug, in der Straßenbahn pöbelt der Nazi-Opa, man solle sich in die Heimat verziehen, und die schikanöse "Routinekontrolle" der Polizei trifft "rein zufällig" den einzigen Schwarzen vor Ort. Für People of Colour in Deuschland ist es eher die Regel, erniedrigt, benachteiligt oder auch gewälttätig angegriffen zu werden, als eine Ausnahme. Und dennoch haben es die Betroffenen im Alltag schwer, mit ihren Hinweisen auf strukturelle Diskriminierung Gehör zu finden.

Der Journalist Stephan Anpalagan bittet darum, "solchen Erzählungen zu glauben und davon auszugehen, dass es Rassismus in Deutschland gibt". Im "Deutschlandfunk" sprach er jüngst über die "riesengroße gesamtgesellschaftliche Aufgabe", den Antirassismus zum Staatsziel zu machen. "Da stehen wir noch ganz am Anfang", betont Anpalagan. Doch er sieht zaghafte Ankläge, dass sich die Debattenkultur langsam wandelt, verbunden mit "einer Art Eingeständnis, dass es strukturellen Rassismus gibt". Als einen zentralen Wendepunkt, der eine breite Öffentlichkeit für die Gefahren rechter Gewalt sensibilisiert habe, benennt er den Mord an Walter Lübcke – und irgendwie ist es wohl bezeichnend, dass erst ein weißer Deutscher zum Opfer eines Neonazis werden musste, damit die Gesellschaft anfängt, den militanten Rechtsextremismus als Bedrohung anzuerkennen.

Erwartet waren 700, gekommen sind 7.000

Nachdem Polizisten in Minneapolis den Afro-Amerikaner George Floyd am 25. Mai über acht Minuten und 46 Sekunden lang sadistisch zu Tode gequält hatten, gab es weltweit Solidaritätsaktionen für die Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft und die Gleichbehandlung von People of Colour einsetzt. In der Bundesrepublik überstieg die Zahl der Teilnehmenden vielfach die Erwartungen der Demo-Veranstalter. In Stuttgart kamen vergangenen Samstag statt der angemeldeten 700 Demonstranten etwa zehn Mal so viele Menschen zusammen. Nach Angaben der Polizei waren am Wochenende auch in Mannheim circa 6.000 Personen auf der Straße, um gegen Rassismus zu protestieren, 3.000 weitere in Karlsruhe und je 1.000 in Tübingen und Konstanz.

Für Kontroversen, auch unter Teilnehmenden und ihren Sympathisanten, sorgte das Demonstrieren trotz Pandemie: Obwohl viele DemonstrantInnen Atemmasken trugen, war das Einhalten von Mindestabständen aufgrund der hohen Beteiligung nicht immer möglich und es kam zu zahlreichen Verstößen. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach geht so weit, die Berliner Demo vom Wochenende als "das ideale Super-Spreading-Event" zu bezeichnen. Auch in verschiedenen Orga-Gruppen wird reflektiert, dass es mit dem Infektionsschutz nicht gut gelaufen sei. Man habe allerdings, heißt es von verschiedenen Seiten, nicht mit einem so großen Andrang gerechnet und sei von der Teilnehmerzahl schlichtweg überwältigt worden. Bei den nächsten Aktionen wolle man bessere Vorkehrungen treffen.

Rassismus tötet – auch in Deutschland

Auf den Kundgebungen wurde stets betont, dass es sich bei strukturellem Rassismus nicht nur um ein amerikanisches Problem handelt – und dass durchaus auch die deutsche Polizei betroffen ist. Racial Profiling ist ein Stichwort, also Personenkontrollen aufgrund von Aussehen und Hautfarbe. Aber auch die Liste der konkreten rechtsextremen Vorfälle, in die Polizisten verstrickt sind, ist beachtlich: Von der Waffenbeschaffung für Verschwörungstheoretiker über das Einprügeln auf Geflüchtete bis zu offenen Bezügen zur NS-Ideologie gibt es reichlich Anlässe, wachsam zu bleiben. Auch wenn solche Skandale publik werden, fallen die Bestrafungen, falls es überhaupt welche gibt, häufig sehr milde aus.

Ihre Arbeit kontrolliert die Polizei in Deutschland selbst – und meist kommt sie zu dem Befund, dass alles seine Ordnung hatte. Eine unabhängige Prüfstelle zu fordern, wie es jüngst die SPD-Vorsitzende Saskia Esken tat, provoziert mit der Verlässlichkeit eines Naturgesetzes den empörten Vorwurf von Unionspolitikern, unsere Polizei vorzuverurteilen (aktuell war es CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der seiner Pflicht nachkam und davor warnte, Menschen, die für unsere Sicherheit den Kopf hinhalten, "pauschal an den Pranger" zu stellen). Doch man muss die Behörde nicht unter Generalverdacht stellen, um es für möglich zu halten, dass es auch unter Ordnungshütern zu Fehlverhalten kommt. In den sozialen Netzwerken macht gerade eine Frage die Runde: "Wenn es 20 gute Polizisten gibt und einen schlechten, der schlechte aber von allen gedeckt wird – was macht das dann aus den 20 guten?"

Oury Jalloh wurde in seiner Zelle ermordet

Mangelhafte Aufarbeitung von Polizeigewalt ist auch in Deutschland ein Thema. Oury Jalloh ist der Name, der außer dem von George Floyd am häufigsten bei den Protesten in der Bundesrepublik fällt. Am 7. Januar 2005 verbrannte der Mann aus Sierra Leone im Dessauer Polizeigewahrsam. Dabei soll er sich laut behördlicher Darstellung, an Händen und Füßen gefesselt, auf einer Matratze mit feuerhemmendem Überzug selbst angezündet haben. Mit einem Feuerzeug, das nicht bei der ersten Tatortbegehung entdeckt wurde, sondern später in der Asservatenkammer auftauchte – und auf dem keine DNA-Spuren oder Fingerabdrücke von Jalloh zu finden waren. Der polizeiliche Dienstgruppenleiter will in der Todesnacht den Rauchmelder ausgeschaltet haben, weil dieser schon mehrfach falschen Alarm geschlagen habe. Und so soll niemand mitbekommen haben, dass ein paar Meter weiter jemand verbrennt. Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau hält den Einsatz von Brandbeschleuniger und die Beteiligung von Dritten für wahrscheinlich. Ihr wurde allerdings das Verfahren entzogen, und die dann zuständige Staatsanwaltschaft Halle stellte es im Oktober 2017 "mangels Tatverdacht" ein.

Viele AktivistInnen erhoffen sich durch die nun angestoßene Debatte eine erneute Aufarbeitung von Jallohs Todesumständen. "Von Polizisten ermordet, vom Rechtsstaat vertuscht", lautet ein Vorwurf auf vielen Demo-Schildern vom vergangenen Wochenende. "Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals ein weißer Deutscher im Polizeigewahrsam spontan in Flammen aufgegangen wäre", sagt auch die Moderatorin Shary Reeves: "Rassismus tötet auch in Deutschland." Weil die ARD nach dem Mord an George Floyd keinen Brennpunkt sendete, holte die Kabarettistin Carolin Kebekus das in ihrer Sendung nach, die von Reeves moderiert wurde. Während People of Colour im öffentlich-rechtlichen Fernsehen traditionell unterrepräsentiert sind – 2019 waren unter den 728 Gästen in deutschen Talkshows nur drei Schwarze –, schilderten von Rassismus Betroffene bei Kebekus ihre Erfahrungen mit Diskriminierung. Acht Minuten und 46 Sekunden lang.


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