KONTEXT:Wochenzeitung
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Stört der Bürger?

Stört der Bürger?
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Mit seinem Angebot, in Sachen S 21 zu vermitteln, ist Prälat i.R. Martin Klumpp gescheitert. Er wollte die Bäume im Schlossgarten wenigstens bis zum Jahres- ende schützen. In seinem Debattenbeitrag begründet er, weshalb ein Moratorium sinnvoll gewesen wäre.

Vor den Ruinen eines Schlossgartens. Foto: Martin StorzDas Projekt Stuttgart 21 hat die Gemüter der Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger so aufgewühlt, wie ich es im ganzen Leben nie erlebte. Mitten im Herzen der Stadt, wo City und Schlossgarten aneinandergrenzen, wo seit Schillers Kindheit die großen Bäume wachsen, wird – unter massivem Polizeischutz – der Park gerodet. Was für viele Bürgerinnen und Bürger unvorstellbar schien, geschieht vor ihren Augen.

Es lohnt sich, innezuhalten und zu fragen, wie es zu dieser Zuspitzung kommen konnte, worin sich dieses Projekt von anderen Projekten unterscheidet, welche rationalen und emotionalen Faktoren dabei eine Rolle spielten, und wer durch welches Verhalten zu dieser Eskalation beigetragen hat. Durch dieses offene Hinschauen und Betrachten kann am ehesten gegenseitiges Verstehen wachsen.

Obwohl eine solche Auseinandersetzung anstrengend, manchmal auch belastend ist, stelle ich fest, dass sie bis auf die Ereignisse am Schwarzen Donnerstag – im Sinne einer lebendigen Demokratie – offen, ehrlich, heftig, aber insgesamt friedlich verlief. Erkennbar wird nun, dass eine Schlichtung, die sich nur auf den Diskurs über Zahlen, Daten, Funktionen und Fakten beschränkt und alle emotionalen, künstlerischen, ästhetischen Aspekte im Sinne von "Sachlichkeit" ausgrenzt, zu kurz greift. So wichtig die Vernunft ist, so sehr muss Politik auch die emotionale Befindlichkeit der Menschen einbeziehen.

Die Vorgeschichte: Stuttgart soll bedeutsam werden

Das Projekt Stuttgart 21 stammt aus einer Zeit, als Stuttgart eine international bedeutsame Metropole werden wollte, die mit München, Hamburg, Mailand und Paris gleichziehen wollte. Der gemütliche Slogan "Zwischen Wald und Reben" wurde abgeschafft. Im schmalen Kessel dieser mittelgroßen Stadt wollte man zum "Partner der Welt" aufsteigen. Wo man seither den Blick auf Wälder und Weinberge genoss, wurden Hochhäuser geplant, wie wir sie in New York, Singapur und Schanghai bewundern. Wohnungen für 11 000 Bürger und 24 000 neue Arbeitsplätze waren vorgesehen. Die Bahn wollte zum an der Börse notierten Konzern heranwachsen, mit vollendeter Technik und perfektem Service.

Leider wurde über diese Vision einer neuen, großen City nie ausführlich und offen diskutiert. Stattdessen sank die Zahl der Einwohner. In der Innenstadt entstand viel Leerstand. Handel und Gewerbe signalisierten, dass auch die Verkaufsflächen nicht beliebig auszuweiten seien. Die Arbeitslosigkeit wuchs. Die Bahn wurde von vielerlei technischen Problemen heimgesucht und musste die Vision vom privat geführten Unternehmen aufgeben. Die Planung dümpelte vor sich hin. In den Jahren der großen Arbeitslosigkeit und in der darauf folgenden Banken- oder Schuldenkrise schien der Traum von Stuttgart 21 ausgeträumt.

Für viele Menschen kam die Wiederaufnahme des Projekts in den letzten zwei Jahren ziemlich überraschend. Die Euphorie war verflogen, viele wollten diesen großen Eingriff ins Gefüge ihrer Stadt nicht mehr. Der Druck, mit dem er doch verwirklicht werden sollte, erschreckte viele. Sie prüften jetzt die Planung und fanden eine große Zahl von ungeklärten Fragen und Problemen. Ältere klagten, die letzten Reste, die Krieg und Nachkriegszeit vom alten Stuttgart übrig ließen, würden nun zerstört, man müsse kämpfen gegen solches Unglück.

Statt Dialog gibt es Hochglanzprospekte

Vor allem Dialog mit den Bürgern und längst vor der Schlichtung war klar, dass die beiden großen Parteien CDU und SPD, die damalige Landesregierung, der Oberbürgermeister, die Vorsitzenden der Gremien der Region Stuttgart, die Deutsche Bahn AG sowie die Bundesregierung sich alternativlos für dieses Projekt entschieden hatten. Alle Bürger, die sachliche Fragen und emotionale Bedenken vorbringen wollten, wurden automatisch in die Rolle einer unliebsamen Opposition getrieben.

Derartige Einwände wurden damals nicht beachtet. Statt einen offenen Dialog über unterschiedliche Konzepte zu führen, wurden Werbeagenturen engagiert, die durch Slogans, Hochglanzprospekte und bunte Videoanimationen die Bürger überreden sollten. Gebildete und kritische Bürger wurden dadurch noch mehr verärgert und fühlten sich nicht ernst genommen.

Ein besonderes Problem ist die Verfassung der Deutschen Bahn AG, die sich einerseits als freies Wirtschaftsunternehmen präsentiert, andererseits als eine von der jeweiligen Bundesregierung gelenkte Institution. Wie wirkt es auf engagierte Bürger, wenn plötzlich ein Bundesverkehrsminister im weit entfernten Berlin über Stadtplanung in Stuttgart entscheidet und dabei dekretiert, für die Erneuerung der Strecke Richtung Ulm sei ein von ihm bevorzugter Bahnhofsentwurf zwingend erforderlich? Wie wirkt es, wenn aufgrund von parteipolitischer Verbundenheit die Verantwortungsträger in Baden und Württemberg dies kritiklos übernehmen, wenn nicht einmal die SPD als damalige Opposition die Pläne der Projektbetreiber kritisch überprüft, sodass auf der Basis von teilweise falschen Zahlen und unfertigen Plänen Beschlüsse gefasst und Verträge abgeschlossen werden, die nicht mehr kündbar seien?

Juristisch gebildete und politisch erfahrene Bürger äußern Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Sie beobachten, dass der Bahn ungewöhnliche Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, die für andere Antragsteller gar nicht denkbar sind. Wer als Bauherr oder aus beruflichen Gründen öfters mit Behörden des Denkmalschutzes verhandelt hat, wundert sich, wie dessen Gesichtpunkte beim Bahnprojekt keine Rolle spielen. Wie ist es zu beurteilen, wenn vor einer Volksabstimmung Bahn und Bundesregierung erklären, das Ergebnis sei völlig unerheblich, weil alles schon im Laufen sei? Verärgerung wird noch verstärkt durch die Unzulänglichkeiten im täglichen Betrieb der Bahn. Viele haben große Zweifel, ob die Bahn kompetent ist für die großen Pläne. Der Druck, mit dem dieses Projekt gegen alle Bedenken und Gegenvorschläge durchgesetzt wurde, nährt bei vielen Bürgern den Verdacht, die Bahn könne nicht zurück, die Vermarktung frei werdender Flächen stünde zu sehr im Vordergrund.

Die Bahn soll aufhören, Bürger als Störer auf die Seite zu schieben

Demokratie lebt vom – manchmal streitbaren – Diskurs. Ein harmonistisches Idyll von Frieden wird nicht angestrebt. Vertrauen und Frieden können eher wachsen, wenn alle beschriebenen Einwände und Zweifel offen gesagt und beschrieben werden dürfen. Frieden kann man nicht erzwingen, indem man meint, der Bürger solle endlich schweigen. Die stattgefundene Volksabstimmung hat den Makel, dass sie viel zu spät kam, dass über keine inhaltliche Alternative abgestimmt werden konnte, dass viele Wähler von all dem Streit zermürbt waren und endlich Ruhe wollten. Für viele ist zwar nachvollziehbar, dass man über die Streckenführung Richtung Ulm im ganzen Land abstimmt. Nicht verständlich bleibt, warum das ganze Land entscheidet, wie der Stuttgarter Bahnhof aussieht.

Vertrauen und Frieden können nur langsam wieder wachsen, wenn die Bahn AG als Bauherrin ihr Verhalten gegenüber der engagierten Bürgerschaft Stuttgarts spürbar ändert. Ein Beispiel: viele Bürgerinnen und Bürger befürchteten, dass das Fällen der Bäume und der damit verbundene Einsatz mehrerer tausend Polizeibeamte zu einer Eskalation der Gewalt führen könnten. Da ich wusste, dass die Genehmigung und Erprobung des Grundwassermanagements, die Konstruktion des Nesenbachdükers und die Ausführungsplanung für den Trog, in dem die Gleise verlegt werden sollen, noch gar nicht erledigt sind und frühestens im Herbst 2012 mit den eigentlichen Bauarbeiten begonnen werden kann, schlug ich vor, die Bahn AG solle die Fällung der Bäume um eine Vegetationsperiode verschieben, den Bürgern den Park noch einen Sommer lang erhalten, und die Parkbesetzer sollten dafür den Park von sich aus freiwillig räumen.

Die verschiedenen Gruppen der Parkbesetzer teilten mit, dass sie diesen Vorschlag begrüßen und an entsprechenden Vermittlungsgesprächen teilnehmen. Das Staatsministerium reagierte freundlich, wies jedoch darauf hin, dass die Bahn als Projektbetreiberin und Bauherrin dem zustimmen müsse. Die Bahn AG und die Verwaltung der Stadt Stuttgart äußerten sich weder schriftlich noch mündlich.

Die Bahn AG als Bauherrin sollte aufhören, engagierte Bürger als unliebsame Störer auf die Seite zu schieben, über konstruktive Vorschläge schweigend hinwegzugehen und davon auszugehen, der Staat werde die Bürger dann schon beruhigen. Vielmehr sollte sie alle ungelösten Probleme ihrer gesamten Planung umfassend darlegen und erst nach deren Klärung das Projekt weiter betreiben. Mit immer weiter gehenden Forderungen, z. B. Abriss des gesamten Bahnverwaltungsgebäudes, wird die Bevölkerung nicht befriedet, sondern noch mehr verärgert. Falls die Bahn bei der Auflistung aller ungelösten Probleme und bei realistischen Berechnungen der tatsächlich entstehenden Kosten zum Ergebnis kommt, dass sie sich mit diesem Projekt einfach übernommen hat, könnte sie ihr Gesicht wahren, indem sie von sich aus einen Kompromiss vorschlägt. Dass sie – ähnlich wie in Zürich – den Kopfbahnhof in verkleinerter Form belässt und nur für die ICE-Züge einen unterirdischen Bahnsteig einrichtet.

Keine Kungelei zwischen Behörden und Bauherr

Vertrauen und Frieden können nur langsam wieder wachsen, wenn die Regierenden in Bund, Land, Stadt und Region die für alle Bauherren gültigen Regeln und Vorschriften konsequent anwenden, die anstehenden Probleme, Streitfragen und Ungereimtheiten lückenlos transparent machen und die Bauherrschaft zwingen, entstehende Kostenüberschreitungen selbst zu tragen. Der Eindruck jeder Kungelei zwischen den bewilligenden Behörden und der Bauherrschaft muss strikt vermieden werden. Es kann nicht sein, dass politische Parteien einer Regierung vorwerfen, sie behindere das Projekt, wenn sie darauf besteht, dass die Bauherrschaft die geltenden Vorschriften für ihr Projekt vollständig erfüllen muss.

Für Vertrauensbildung ist auch wichtig, dass die Landesregierung nicht nur die von ihr initiierte Volksabstimmung preist, sondern unverzüglich gesetzliche Regelungen und Vorschriften erarbeitet, in denen beschrieben wird, auf welche Weise Großprojekte angegangen werden sollen. Wie die Bevölkerung rechtzeitig einbezogen wird, wie Alternativen zu entwickeln sind und wie verhindert wird, dass Regierungen und Verwaltungen sich schon vorher so festlegen, dass Bürger sich mit ihren Fragen und Bedenken als unliebsame Störer fühlen müssen.

"Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf"

Wie können bei solchen Entscheidungen die sachlichen, technischen, ökonomischen Aspekte, aber eben auch die emotionalen, ästhetischen Argumente ernst genommen werden? Wir sollten darüber nachdenken, ob für die Verwirklichung so großer Projekte, die tief in das Gefüge einer Stadt eingreifen, eine knappe Mehrheit ausreicht oder ob eine größere, auch emotionale Zustimmung gelingen muss. In jedem Fall muss für alle die "Legitimität des Verfahrens" (Niklas Luhmann) erkennbar sein.

Der Apostel Paulus nimmt in seinem Brief an die Korinther zu einem Konflikt in der Gemeinde Stellung, in der eine starke Mehrheit gegen eine schwache Minderheit steht. Aus Gewissengründen fällt es der Minderheit schwer, sich anzupassen. Der Apostel gibt zu bedenken: Es gibt Situationen, in denen eine Mehrheit etwas will und durchsetzen kann, aber doch darauf verzichtet, weil sie merkt, dass der Friede untereinander wichtiger ist als das Durchsetzen einzelner Ziele. Schau nicht nur darauf, wie du erreichst, was du willst. Bedenke genauso, welche Gräben dadurch entstehen. "Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf." (1. Kor. 10,23)

Zum Wesen eines Rechtsstaats gehört, dass geltende Gesetze stets für alle gelten. Wenn ein Staat, eine Regierung oder staatliche Behörden dulden, dass Vorschriften des Baurechts und des Denkmalschutzes zugunsten eines einzelnen Bauherrn massenhaft übergangen werden, verliert er bei vielen demokratisch engagierten Bürgern das Vertrauen, das er als Rechtsstaat braucht.

 

Prälat i.R. Martin KlumppMartin Klumpp war Regionalbischof und Dekan von Stuttgart. Der als liberal bekannte Theologe stieg in seinem über 40 Jahre langen Pfarrdienst vom Gemeindepfarrer bis zum zweithöchsten Amt der Evangelischen Landeskirche auf. Sieben Jahre lang war er Prälat von Stuttgart. Der 71-Jährige hat seine Aufgabe als Theologe immer als Einmischung verstanden. So gründete er das Bildungszentrum Hospitalhof und ist Mitbegründer des Hospiz Stuttgart. Auch bei S 21 hat der Prälat i.R. mit seiner ablehnenden Meinung nie hinterm Berg gehalten und sie auch bei Montagsdemos als Redner vertreten.


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6 Kommentare verfügbar

  • Laugenweckle
    am 04.03.2012
    Antworten
    Vielen Dank, lieber Herr Klumpp, für diese unaufgeregten, klugen Worte!
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