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Obdachlose bitte zuhause bleiben

Obdachlose bitte zuhause bleiben
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Soziale Isolation ist das Gebot der Stunde. Doch wie steht es um diejenigen, die keine eigenen vier Wände haben, um sich vor dem unsichtbaren Virus zu schützen? Auf den leeren Straßen der Stadt fallen jetzt Menschen auf, die sonst ein Leben im Verborgenen führen.

Ungewohnt leer ist es dieser Tage in den Räumen der Obdachlosen­­-Tagesstätte im Café 72 in Bad Cannstatt. Die Stühle aufgetischt, die Eingangstür verriegelt, nur vereinzelt betritt jemand die Räume, um das Bad zu nutzen. Wo normalerweise ein buntes Gewusel verschiedener Menschen aufeinandertrifft, um sich bei einer heißen Tasse Kaffee nach einer rauen Nacht auf der Straße aufzuwärmen, zu duschen, einen Plausch zu halten oder Rat einzuholen, ist es still geworden. Seit die Landesregierung das Kontaktverbot verhängt hat, herrscht auch in der Tagesstätte der Ambulanten Hilfe der Notstand. Die Räumlichkeiten wurden geschlossen, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Doch trotz geschlossener Türen versucht die Tagesstätte, ihre Arbeit fortzuführen – kontaktlos, über das Fenster. Hilfe auf Abstand in Zeiten der erhöhten Ansteckungsgefahr.

"Irgendjemand hat da grad geklopft. Wollen wahrscheinlich alle Essen?" Diana Neugebauer, seit über 20 Jahren Sozialarbeiterin für die Ambulante Hilfe, fuhrwerkt gemeinsam mit Bufdi Otto in der Küche umher und bereitet Mittagessen vor. Erst vor wenigen Tagen haben sie eine große Essensspende erhalten, die sie nun über die Fenster ihrer Einrichtung an die Bedürftigen ausgeben. Geduldig warten rund zehn Leute in der Schlange vor dem Fenster, bemüht, den Abstand von anderthalb Metern einzuhalten. Die Nachfragen nach einer warmen Mahlzeit sind groß, Hilfsangebote für Wohnungslose gefragter denn je. Das Corona-Virus treibt Menschen, die ohnehin schon am Existenzlimit leben, noch tiefer in die Not. Seit die Stuttgarter Innenstadt wie leergefegt ist, Restaurants, Bars und Clubs geschlossen sind, fällt nicht mehr viel ab vom reichen Stuttgart. Ohne die Einkünfte durch Betteln und Pfandflaschensammeln am sonst belebten Wochenende bleibt den Menschen nur noch der Gang zu karitativen Einrichtungen. Dass die noch offen sind und Essen verteilen, ist für die meisten großes Glück. "Diesen echten Hunger, den gab es davor nie, aber den sieht man jetzt bei manchen – das habe ich so noch nicht erlebt", sagt Diana Neugebauer.

Kreative Antworten nötig

Einer der Besucher der Tagesstätte ist Pille: "Pille, wie die Pille danach!" Momentan schläft der Mittzwanziger in einer der Stuttgarter Notunterkünfte der evangelischen Gemeinschaft (eva). Zu Beginn der Krise habe man dort Hygienehinweise aufgestellt und die Bewohner gebeten, sich nur noch zu zweit in der Küche aufzuhalten, regelmäßig die Hände zu waschen und Abstand zu halten. Kaum möglich bei 14 Personen auf dem Stockwerk und vier Personen pro Zimmer, geteiltem Bad und geteilter Küche. Unter den Mitbewohnern Drogenabhängige, Alkoholsüchtige und Vorerkrankte: Hochrisikogruppen. Vergangene Woche habe es den ersten Corona-Verdachtsfall geben. "Schon unreal, wenn dann Leute im Schutzanzug reinkommen und den Mitbewohner mitnehmen", sagt Pille. Das Haus wurde abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Für Heroinabhängige im Methadon-Substitutionsprogramm oder Alkoholkranke, die plötzlich trockengelegt werden, ein lebensbedrohliches Szenario. Wenig später dann die Entwarnung: negatives Testergebnis. Trotzdem muss damit gerechnet werden, dass sich das Virus in der Szene ausbreiten wird, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Schwächsten der Gesellschaft wird es dann mit aller Härte treffen.

Für den Fall einer Infektionsausbreitung unter wohnungslosen Menschen hat die Stadt Stuttgart inzwischen "Schutz-Unterkünfte" angemietet, um bis zu 300 betroffene Personen isolieren zu können. Verschiedene Hilfsdienste sollen dabei mitwirken, Krankenhäuser bei mildem Krankheitsverlauf zu entlasten. Andere Städte wie Frankfurt, Berlin und Düsseldorf haben begonnen, leerstehende Hotels anzumieten, um Obdachlose unterzubringen. Es sind kreative Antworten nötig, die auch über die Corona-Krise hinaus Bestand haben könnten. "Durch Corona machen sich mehr Menschen Gedanken um Leute wie uns. Man steht mehr zusammen – vielleicht kann man aus dieser Krise ja sogar tatsächlich etwas lernen", sagt Pille.

Hygiene, wo Hygiene kaum möglich ist

Maria steht vor dem Gabenzaun an der Paulinenbrücke in der Stuttgarter Innenstadt. "Lieber Mensch ohne zuhause, bitte nimm dir was du dringend brauchst", steht auf einem der Zettel, die daran befestigt sind. Früher war Maria in der Jugendarbeit der katholischen Kirche aktiv, heute sammelt sie Pfandflaschen, um Schulden abzubezahlen und ihre geringe Rente aufzustocken. Seit zwei Wochen trägt sie dieselben Klamotten und freut sich über eine Jeans, die sie vom Gabenzaun abnimmt. "Wenn die nicht passt, bring ich sie wieder zurück. Eine tolle Aktion!" Durch dicke Brillengläser hindurch beobachtet sie das Geschehen an der Paulinenbrücke. Die Gabenzäune haben die Begleiterscheinung, Menschen zusammenzubringen und kleine Gruppierungen zu bilden, die in Zeiten von Corona verboten sind. Die Polizei kontrolliert regelmäßig, ermahnt, nimmt Personalien auf.

Für Menschen, die auf der Straße leben und sich aufgegeben haben, sei es schwer, Einsicht für Hygienemaßnahmen zu schaffen, sagt Diana Neugebauer, die Sozialarbeiterin. "Da ist eine große Perspektivlosigkeit, die machen sich vielleicht keine Gedanken um eine Infektion. Die sagen dann: Wenn ich daran sterbe, ist das auch egal." Die Streetworker der Caritas und der Ambulanten Hilfe haben es sich trotzdem zur Aufgabe gemacht, an Kontaktverbot und Hygienevorschriften zu erinnern, um Hygiene da zu schaffen, wo es keine Hygiene gibt. Maria macht sich keine Sorgen um das Virus, obwohl sie mit ihrem Alter zur Risikogruppe gehört. Ihr Glaube an Gott hilft ihr durch diese Zeit, sagt sie. Das Virus kann sie nicht aus der Fassung bringen. Geschlossene Jobcenter, Ärzte, die Termine absagen, Tafelläden, die dicht machen müssen, weniger Pfandflaschen auf den Straßen und immer vollere Notunterkünfte – all das hingegen schon.

Das Telefon von Diana Neugebauer klingelt. "Otto, kannst du am Ostermontag? Kannst aber auch nein sagen!" Die Sozialarbeiterin sitzt an der Schichtplanung für das Wochenende. Eigentlich haben sie nur an Werktagen geöffnet. Aber weder das Virus noch die existentielle Not der Bedürftigen lässt sich von Wochentagen beeindrucken. Deshalb gibt es einen Notdienst über das Osterwochenende. Bisher ist noch keine Infektion bei den Besuchern der Tagesstätte bekannt. Wenn es aber dazu kommen wird – und das scheint eine Frage der Zeit zu sein – wird der tägliche Kampf auf der Straße zu einem Kampf ums Überleben. Darauf muss sich die Stadt, die Szene und die Gesellschaft vorbereiten. "Bleiben Sie zu Hause!", appellierte Kanzlerin Merkel in ihrer Fernsehansprache. An Menschen ohne Zuhause hat sie dabei nicht gedacht. Jetzt ist die Zeit, um zu realisieren, dass Wohnraum ein existentielles Menschenrecht ist.


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3 Kommentare verfügbar

  • Ekkehard Martin
    am 15.04.2020
    Antworten
    Liebe Herr Volle,
    kleiner Hinweis, aber vielleicht doch sehr wichtig in diesen Zeiten. Wenn ein Mundschutz getragen wird, sollte dieser, wenn er wirklich dem Schutz anderer dienen soll, unbedingt auch die Nase mit bedecken.
    So befürchte ich, suggeriert er eine falsche Sicherheit. Leider sieht man…
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