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Immer funktionieren

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Im Landkreis Esslingen gibt es keine Kurzzeitpflegeplätze für schwerstbehinderte Kinder. Für ihre Mütter ist das auch in normalen Zeiten ein unhaltbarer Zustand. Jetzt ist ihre Situation noch problematischer. Ihnen ist jegliche Unterstützung im Alltag weggebrochen.

Anne lacht, juchzt, schnalzt. Wir sitzen mit Ursula Hofmann, Annes Mutter, in der sonnendurchfluteten Küche ihres Hauses in Oberesslingen – am langen Esstisch, wie er in großen Familien üblich ist. Mehrere Meter Corona-Abstand sind so problemlos möglich. Auch Annes drei ältere Geschwister sind zuhause. Wie Hofmanns Ehemann, der Bauingenieur ist, haben sie sich ins Homeoffice zurückgezogen. Man hält sich strikt an die Ausgangsbeschränkungen.

Eigentlich wären Ursula Hofmann und Anne (18) jetzt gerade auf dem Weg nach Kernen-Stetten im Landkreis Rems-Murr: in die dortige Kurzzeitpflege der Diakonie, wo die schwerstbehinderte junge Frau für drei Wochen untergebracht gewesen wäre. Den Platz hatte Hofmann bereits im Juli des vergangenen Jahres beantragt. Nun wurde er coronabedingt abgesagt.

Hofmann, eine taffe und zupackende Frau, nimmt das gelassen, obwohl sie nun auf ihren lang ersehnten Urlaub mit ihrem Mann, eine fünftägige Reise im "Glacier Express" durch die Alpen, verzichten muss. Die Pflege und Versorgung schwerstmehrfachbehinderter Kinder ist körperlich und psychisch ungeheuer kräftezehrend. Wenn sich Hofmann mal eine Auszeit gönnen will, muss sie das lange im Voraus planen. Denn ortsnahe Kurzzeitpflegeplätze, die betroffene Mütter und ihre Familien für eine gewisse Zeit entlasten und neue Kraft schöpfen lassen, sind in Deutschland, besonders in Baden-Württemberg, rar. Und im Landkreis Esslingen mit seinen 530.000 Einwohnern gibt es sie gar nicht. Ein skandalöser Zustand.

Trotz "Rückenwind" tut sich nichts

Dass sich das ändert, dafür kämpft Hofmann seit vielen Jahren, und dafür hat die politisch engagierte Frau 2015 den Esslinger Verein "Rückenwind" gegründet, der sich für die Interessen pflegender Mütter von behinderten Kindern einsetzt. Denn im Landkreis Esslingen fehlt es nicht nur an Kurzzeitpflegeplätzen, sondern auch an Ferienbetreuungen für Handicap-Kinder und an fähigen AssistentInnen, die für ein paar Stunden in der Woche die Familien unterstützen könnten. "Seit Jahren stehen wir beim Landratsamt und bei Herrn Köber, dem Behindertenhilfeplaner des Landkreises, permanent auf der Matte", sagt Hofmann, "aber es tut sich nichts."

Frauen mal wieder die Leidtragenden

Dass Mütter schwerstbehinderter Kinder arbeiten gehen, was wichtig wäre für ihr Selbstverständnis und ihre Teilhabe am sozialen Leben, ist nicht vorgesehen. Weder das Arbeitsamt kümmert sich um sie, noch gibt es im Esslinger Landkreis zuverlässige Unterbringungsmöglichkeiten in den Ferien. Viele Frauen geraten so in die Armutsfalle, weil am Ende zu wenig in die Rentenkasse einbezahlt wurde.  (vg)

Sie selbst habe Glück, ihr Ehemann "wuppe den Laden", wenn es sein muss. Aber in den meisten Familien laste die gesamte Betreuung auf den Müttern. Die Corona-Krise verschlimmert deren Situation noch um ein Beträchtliches. Jetzt fehlt jegliche Unterstützung im Alltag. Nicht nur, dass Kurzzeitpflegen, familienentlastende Dienste, Therapien und die raren Ferienprogramme abgesagt sind und Förderschulen und Schulinternate geschlossen wurden. Selbst die Schließung der Spielplätze sei oft ein Problem, so Hofmann: Es gebe Kinder mit Behinderung, die jeden Tag raus müssten, um sich auszupowern, damit sie nicht gegen sich selbst oder andere aggressiv werden. Wer auf engem Raum wohne und keinen Garten habe, habe jetzt ein Problem.

Anne, am anderen Ende der Küche auf ihrem Hochstuhl sitzend, klopft mit einem Spielzeug kurze Rhythmen auf ihr Tischchen. Ihre Augen sind immer in Bewegung, können nichts fixieren. Wie viel sie sehen kann, was sie fühlt, ob sie Schmerzen, Hunger oder Durst hat, kann die Mutter nur erahnen. Anne habe keine Verständigungsmöglichkeit für irgendwelche Wünsche. Ohne permanente Hilfe ginge da gar nichts. Laufen kann sie nur mit Unterstützung. Dafür reagiere sie sehr stark auf Stimmen, Stimmungen und Gerüche. Erst vor vier Jahren konnte diagnostiziert werden, woran Anne leidet: unter der Pelizaeus-Merzbacher-Krankheit, ein seltener Gendefekt, der sonst eigentlich nur Jungen trifft. Seit einigen Jahren hat Anne zudem einen Schlauch im Bauch, weil sie beim Atmen ständig Luft hinunterschluckt, so dass sich in kürzester Zeit ihr Magen aufbläht, ein lebensgefährlicher Zustand. Jede Stunde muss deshalb der Schlauch geöffnet werden, um die Luft aus dem Magen entweichen zu lassen. Anne weine nicht, wenn sie Schmerzen habe. Sie werde dann ganz still.

Einmalig: "Das mache ich für Sie"

Vor Annes Geburt arbeitete Hofmann als leitende Hebamme an einem Krankenhaus. Danach musste sie ihre Leitungsposition aufgeben. Ein Schritt, der ihr sehr schwer gefallen sei: "Ich wollte immer eigenständig sein." Schnell seien dann Wut und Frust in ihr hochgekocht, wie sie sagt, weil sie sich mit ihren Problemen von der Gesellschaft so alleine gelassen gefühlt habe. Anlaufstellen, die betroffene Mütter zentral und umfangreich beraten, etwa was die Pflege, Hilfsangebote, das komplizierte System des Pflegegeldes, Zuschüsse, Träger oder Therapien angeht, fehlen bis heute. Niemand fühle sich hier wirklich zuständig für die schwerstbehinderten Kinder. Sie habe bald gelernt, dass man sich selbst helfen müsse, sagt Hofmann. So gründete sie 2006 zunächst eine Elterngruppe Betroffener, um miteinander ins Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen.

"Du musst dir alles aus den Fingern saugen, wegen allem nachfragen", beklagt auch Renate Prinz, Blumenhändlerin und Mutter von Emili (9) und Paul (11), der schwerstbehindert ist wegen schwerem Sauerstoffmangel bei der Geburt. Nur ein Mal in ihrem Leben mit Paul habe sie erlebt, dass jemand ihr in diesen Dingen etwas abgenommen habe. "Da hatten wir den Schulbezirkswechsel beantragt, und es kam ein Schreiben, dass Paul die Schule besuchen dürfe, aber der Fahrdienst nicht bewilligt sei." Man teilte ihr aber nicht mit, wo sie diesen beantragen kann. "Wir haben die Rektorin der neuen Schule gefragt. Sie hat gesagt: 'Das mache ich für Sie'", erzählt Prinz.

Außerhalb der Ferien besucht Anne Hofmann das Esslinger sonderpädagogische Rohräckerschulzentrum. "Zur Kurzzeitpflege müssen wir unsere Kinder aber in andere Landkreise bringen, wo man eigentlich nicht zuständig ist für uns", erklärt die Mutter. Nach Ulm zum Beispiel. Kurzfristig ist aber auch dort nichts zu machen. Man muss wie überall ein Jahr im Voraus anmelden, kann Wunschtermine nennen, dann werden die zehn Plätze ausgelost. Weil die Kinder dann fernab ihres Heimatorts sind, können sie in dieser Zeit nicht ihre Schule besuchen. Kein Wunder also, dass der Run auf die Kurzzeitpflegeplätze vor allem die Ferienzeit betrifft.

Welche Hilfe es gibt, hängt vom Landkreis ab

In die Kurzzeitpflege der Lebenshilfe Ulm bringt auch Sabine Ebert, alleinerziehende Mutter zweier Kinder aus Baltmannsweiler, ihre Tochter Selina (21) regelmäßig. Selina leidet unter dem Rett-Syndrom, ein Gendefekt, der nur bei Mädchen vorkommt und eine 24-Stunden-Betreuung erfordert. Selina besucht normalerweise die Karl-Schubert-Werkstatt in Filderstadt-Bonlanden. Dort sei sie gut betreut und gefördert. Ansonsten fühlt sich auch Ebert im Alltag völlig auf sich selbst gestellt. Notfallaufnahmestellen für Schwerstbehinderte gebe es nicht. Wohin mit dem Kind, wenn sie mal erkranke? "Ich werde nicht krank. Ich funktioniere immer", sagt Ebert.

Sabine Ebert erinnert sich noch gut an die allererste Kurzzeitpflege, die sie für Selina in Anspruch nehmen wollte. Sie wollte unbedingt den 50. Geburtstag einer Freundin mitfeiern, ohne Selina. "Ich habe mich schon im November darum gekümmert – für den darauffolgenden Juli. Ich habe die ganze Liste für Baden-Württemberg, die die Krankenkasse herausgibt, abtelefoniert. Man lachte mich aus, ich sei viel zu spät dran." Die "soziale Abgeschiedenheit", sagt sie, die andere derzeit coronabedingt beklagen, weil sie sich wegen der Ausgangsbeschränkungen nicht laufend treffen oder jedes Wochenende feiern gehen können, sei für sie im Grunde Alltag, weil man mit einem schwerstbehinderten Kind eben nicht frei planen könne.

"Wir nehmen unsere Kinder so, wie sie sind, mit ihren ganzen Besonderheiten, aber die Behinderung fängt schon vor der Haustüre an", erklärt Ursula Hofmann. "Die Rahmenbedingungen stimmen einfach nicht." Man müsse Glück haben, in einer Gegend zu wohnen, wo es viele Angebote gibt. Es liege aber auch daran, wie innovativ und aktiv die Träger vor Ort seien und wie gut sie mit den Kostenträgern langfristig verhandelten. "Ich rate Müttern: Wenn du in Stuttgart wohnst, zieh bloß nicht in den Landkreis Esslingen!"

Beim Corona-Shutdown schlicht vergessen

Mütter und ihre schwerstbehinderten Kinder scheinen für die Behörden unsichtbar zu sein. Auch zu Beginn der coronabedingten Schulschließungen wurden sie in Baden-Württemberg wieder vergessen. Eine Notbetreuung für Kinder bis zur sechsten Klasse war zunächst nur für die Regelschulen vorgesehen. "Da musste erst Jutta Pagel-Steidl vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung bei Frau Eisenmann massiv Protest einlegen", so Hofmann.

Einer Mutter, die namentlich nicht genannt werden möchte, nutzte das freilich nichts. Die Ärztin in Teilzeit, Mutter eines achtjährigen, körperlich schwerstbehinderten Sohnes, der gefüttert und gewickelt werden muss, meldete ihren Sohn für die Notfallbetreuung seiner Schule, der Rohräckerschule, an, um arbeiten gehen zu können. Die Schule habe dies abgelehnt mit der Begründung, ihr Mann, ein Betriebstechniker, mache doch gerade Homeoffice, da könne er doch auch auf das Kind aufpassen, berichtet sie. Damit folgte die Schule zwar buchstabengetreu der Verordnung des Staatsministeriums, die besagt, dass nur Kinder von Alleinerziehenden, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, sowie Kinder von Eltern, in denen beide in solchen Berufen arbeiten, Anspruch auf Notbetreuung haben. Allerdings handelte es sich in diesem Fall um einen Jungen, der offenbar ständige Aufmerksamkeit einfordert. Das sei unzumutbar für ihren Mann, der sich auf seine Arbeit konzentrieren müsse, so die Ärztin.

Die Probleme werden nicht an Dringlichkeit verlieren, meint Ursula Hofmann. Im Gegenteil: "Es wird zukünftig mehr schwerstmehrfachbehinderte Kinder geben", sagt sie. Das verhindere auch die Pränataldiagnostik nicht. "Es werden zwar weniger Kinder mit Down-Syndrom geboren, aber wegen des medizinischen Fortschritts werden mehr Kinder ihre schweren Startbedingungen oder einen schweren Unfall überleben. Und das mit sehr vielen Einschränkungen und einem hohen Pflegebedarf." Der medizinische Fortschritt habe zwei Seiten, resümiert sie: Er werde einerseits von der Gesellschaft gefordert, finanziert, getragen; aber dann müsse die Gesellschaft auch die Konsequenzen tragen und Kinder mit Schwerstbehinderung adäquat versorgen. Und die Familien, die sie pflegen, unterstützen.


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