KONTEXT:Wochenzeitung
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Brühwürfel gelutscht

Brühwürfel gelutscht
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Corona verrückt den Alltag und die Politik. Dabei nicht die Peilung zu verlieren, nicht unterzugehen im Wahnsinn von Ausgangsbeschränkungen, Hygiene- und anderen Maßnahmen, ist eine Herausforderung. Unsere Autorin hat sich diesem Wahnsinn gestellt. Ein Tagebuch.

Mittwoch, 18.3.2020

Aufgewacht gegen 8.30 Uhr nach vier Stunden Schlaf, weil ich die neue Netflix-Staffel Altered Carbon zu Ende suchten musste. Hatte keine Lust zu schlafen, weil keinen Bock auf den Moment, in dem man sein Handy noch schlaftrunken am Morgen in die Hand nimmt und von neuen Corona-Nachrichten in den Tag gestoßen wird. Lieber wach bleiben, dann passiert vielleicht nix. Habe nach ungeplanten Feldversuchen festgestellt, dass Schlafmangel macht, dass einem Dinge scheißegal sind, die einen sonst stressen und in Denkspiralen zwingen. Mit vier Stunden Schlaf in der Rübe hat man einfach kein Kraft, sich aufzuregen.

Der ganze Corona-Alarm macht mich sensibler. Hab viele Meta-Gedanken. Im Bus zur Arbeit komplett alleine gesessen. Im Vierer, wo normalerweise die alten Ätzweiber sitzen und sich übertrieben laut über ihre Furunkel unterhalten. Wenigstens bleiben sie jetzt daheim. Irrationale Hass-Gefühle Omas gegenüber. Oje. Bus-Stopp-Knopf mit dem kleinen Finger gedrückt.

Arbeit war okay. Auch wenn alle in meiner Abteilung außer mir Homeoffice machen dürfen. Wegen Kindern und so. Hab mir heimlich gewünscht, dass der Corona-Test meines Bandkollegen positiv ausfällt. Er ist hart erkältet und hatte in der Probe vor einer Woche mindestens zehn Minuten in mein Mikrofon gesabbelt beim Soundcheck. Jetzt Verdacht auf Corona. Wäre mein Ticket auf die Couch.

Original mit einer Person telefoniert den ganzen Tag. Und die hatte sich verwählt. Habe mich dabei ertappt, wie ich auf dem Klo im Büro der kleinen Desinfektionsflasche neben dem Wasserhahn nicht mehr widerstehen kann. Seit einer Woche grinst sie mich dämonisch an und sagt: "Hehehe, du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du mich nicht benutzt ..." Ich desinfiziere mir die Hände zum ersten Mal und höre mein Über-Ich lachen.

Beim Abendessen (Käse-Toast und Eistee) Angela Merkels Rede im Fernsehen gesehen. Frage mich, ob sie selbst Corona oder mindestens Fieber hat und wer die Rede für sie geschrieben hat. Es ist ernst, okay. Message received. Trotzdem fühle ich mich mit "wir" nicht angesprochen. Und dass die Pflegefrauen einen guten Job machen, ja. Wow. Dass es eine Pandemie braucht, um festzustellen, dass es vor allem Frauen in Niedriglohn-Jobs sind, die den "Laden am Laufen" halten, regt mich mehr auf als der Corona-Terror. Wer hat denn die irren Beschäftigungsverhältnisse in Krankenhäusern mit zu verantworten? "Wir" nicht. Ihr, Christdemokraten! Aber klar, in Krisenzeiten müssen wir enger zusammenrücken – bäh. Das fällt mir schwerer als daheim zu bleiben. Gebt denen doch einfach mal 4.000 Euro brutto oder haltet die Fresse. Jetzt wäre eine gute Zeit für Streik. Wir befinden uns vor allem in einer Systemkrise, nicht bloß in einer Gesundheitskrise! Brühwürfel zur Beruhigung gelutscht. Pulmoll ist alle.


Donnerstag, 19.3.2020

Bayern verhängt erste Ausgangsverbote in irgendwelchen Käffern, weil die Leute nicht freiwillig daheimbleiben. Bin zwiegespalten: Habe sofort Puls bekommen, weil ich den Gedanken kaum ertrage, dass mich irgendwer zwingen kann, meine Wohnung nicht zu verlassen. Was geht ab? Rege ich mich über die vielen Deppen auf, die sich trotz hohem Ansteckungsrisiko auf dem Marienplatz in Stuttgart zusammenrotten und miteinander Gelati in der Sonne schlotzen. So Bock, denen die Ray-Bans mit nem Sellerie aus dem Gesicht zu schlagen. Wegen denen darf bald niemand mehr raus! Und wegen den verklatschten Kriegsopa-Freigängern, die glauben, zwei überlebte Weltkriege machen immun gegen Corona. Frage mich, was meine Großeltern heute machen würden. Bin ganz froh, dass sie diese Farce hier nicht mehr mitmachen müssen.

Vielleicht ist aber wirklich alles nur Panik-Mache. Ich weiß es einfach nicht. So viele Leute WISSEN offenbar ganz genau Bescheid, weil sie in WhatsApp-Threads in Corona promoviert haben. Ich muss noch mehr Informationen auswerten in meinem Gehirn, bevor ich irgendwelche gefühlten Wahrheiten rumposaune. Selten so viele widersprüchliche Interviews und andere Texte zu einem Thema gelesen. Musste beim Mittagessen an eine Bekannte denken, die mir erzählt hat, dass sie eine Freundin hätte, die vor Jahren schon von "Indianern" prophezeit bekommen hätte, dass die Menschheit von einem Virus ausgerottet werden würde. Meine Bekannte war überrascht, dass "es" jetzt schon passiert. Sie persönlich dachte, "es" passiert erst in zehn oder zwanzig Jahren. Jetzt sei es halt so. Alles klar. Oh Mann. Brühwürfel gelutscht.

Mittagessen beim Döner heute. Allein das zu schreiben fühlt sich an, als hätte ich drei Omas in den Hals gehustet. Auf dem Boden der Dönerbude waren laut krakeliger Edding-Beschriftung mit Gaffa-Tape 1,5 Meter abgeklebt, um die Menschen an das Power-Mantra der Stunde zu erinnern: Social Distancing. Hat sich natürlich niemand dran gehalten. Ich merke, wie ich hinter einem Ekelbert flach atme, weil ich mir einbilde, so Corona-Viren abzuhalten, sich in meiner Lunge einzunisten. Nachdem mir der Dönermann meinen Yufka in die Hand drückt, muss ich wie alle anderen auch meinen Namen und meine Adresse in eine Liste eintragen. "Isch jetz' halt so", sagt der Mann auf meine Frage, was das soll.

Mich graust es vor dem öligen Kugelschreiber, den laut Liste schon Hunderte Leute vor mir in der Hand hatten. Trage den Fantasienamen "Lena Fuchs" im "Hodenweg 666" ein und muss lachen. Wie dämlich! Fühle mich, als hätte ich Crack gekauft – und die Bullen können jetzt ganz einfach an meine Adresse kommen. Müssen ja nur den Dönermann fragen. "Yufka auf den Rücken, du Corona-Sau, und keine falsche Bewegung." Oh Gott. Schon seltsam, wie vor dem Virus-Alarm alle laut nach Datenschutz und Datenschutz-Grundverordnung geschrien haben und jetzt für ein paar Fettklumpen ihre Namen und Adressen in eine Liste beim Döner eintragen. Wahnsinn, wie relativ Bürgerrechte sind.


Freitag, 20.3.2020

Hatte eigentlich vor, zu meiner Schwester und ihrer Familie zu fahren. Sie hatte Geburtstag. Habe ihr am Telefon gesagt, dass ich mich melde wegen einem Treffen. Hab' ich aber nicht. Fühle mich komisch bei der Vorstellung, neben der notwendigen Anfahrt zur Arbeit mit Bus und Bahn zu fahren, um mit zwei Kindern und zwei Erwachsenen plus eventuell meinen Eltern in einem Raum zu sitzen. Meine Schwester sieht alles nicht so wild: Wir seien doch Familie. Das Virus nicht schlimmer als Grippe. Fühle mich mies, weil ich das Gefühl habe, bescheuert zu sein. 33 Jahre "Fuck the System" und jetzt verteidige ich Regierungsanordnungen? Wie verrückt ist das alles? Ambiguitätstoleranz bedeutet Widersprüche aushalten. Jetzt eben auch meine eigenen.

Der Corona-Test meines Bandkollegen fiel negativ aus. Das ist positiv. Muss also weiterhin zur Arbeit nächste Woche. Das ist deduktiv.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Thomas Strobl haben heute auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, dass es ab jetzt verboten ist, sich mit mehr als drei Menschen zusammen in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Bußgelder bis 25.000 Euro und Haftstrafen drohen. Ausnahmen gelten für Familien und Paare. Was das genau bedeutet, erklärt einem natürlich keine Sau. Muss ich ab jetzt einen Paar-Ausweis mit mir führen, wenn ich mit meinem Freund auf der Straße laufe? Gelten wir dann als eine Person und können zwei weitere ungestraft treffen? Und was machen die Polyamourösen? Kann ich auf dem Paare-Ausweis "es ist kompliziert" eintragen, falls ich mir meines Beziehungsstatus' nicht so sicher bin?

Bin überfordert damit, was ich von diesen Ansagen von oben halten soll. Einfach schlucken, weil es zum Wohle aller ist? Habe große Probleme, massive Einschränkungen meiner Freiheit ohne mit der Wimper zu zucken zu akzeptieren. Nicht, weil ich nicht glaube, dass es gerade wirklich besser ist, daheim zu bleiben. Es macht mich wahnsinnig, mir vorzustellen, für was solche Macht missbraucht werden könnte. Der Mensch gewöhnt sich schnell an seine Ketten. Aber ja: #wirbleibenzuhause. Auch ich. Versprochen, Instagram. Finde den Gedanken persönlich nicht schlimm, daheim abzuhängen und mich still zu beschäftigen. Gibt so viel Musik zu entdecken – und selbst zu schreiben. Selbstisolation als Chance. Wer sich bislang selbst nicht ausgehalten hat, ist jetzt natürlich gefickt. So verrückt zu sehen, wie viele Leute mit Langeweile nicht klarkommen.


Samstag, 21.3.2020

Habe mir eine Flasche Bombay Gin und Tonic Water besorgt und werde mir heute Abend beim Plattenhören damit schön das Gesicht desinfizieren. Im Rewe natürlich Kirmes. Ewig lange Schlangen. Kassiererinnen am Limit. Niemand hält wirklich 1,5 Meter Abstand. Ich atme wieder flach. Die Boys von meiner Band treffen sich im Proberaum, um an Songs zu arbeiten. Sie sind zu viert. Mal sehen, ob sie verhaftet werden. Ich habe ein bisschen an den Songtexten daheim geschrieben.

Dann vor die Glotze. Prime Video. The Boys ist genial. Verstehe nicht, dass die Serie es nicht, wie die anderen Superhelden-Filme, ins Feuilleton geschafft hat. Hallo? Superhelden, die die kompletten Wichser sind, morden, heucheln und arbeiten für eine turbokapitalistische Drecksfirma, die die Menschen glauben macht, sie seien die Guten?! Werde alle meine Freunde damit volllabern. In einer Folge stellt Superheldin Starlight, die schnallt, dass irgendwas falsch läuft, konsterniert fest: "Wann wurde hoffnungsvoll sein dasselbe wie naiv sein?" So wahr. Nicht nur wegen Corona und den ganzen Endzeit-Spinnern und Klopapier-Preppern, die jetzt Showtime haben. Gibt ja noch andere Probleme auf der Welt. Ich bin auch hoffnungsvoll. Oder naiv. Wenn die Indianer recht hatten, putze ich mir den Arsch halt mit dreckigen Socken. Brühwürfel sind alle.


Sonntag, 22.3.2020

Gegen 14 Uhr aufgewacht. Gestern völlig übertrieben in der Küche Gin Tonic gesoffen, Guilty Pleasures 2000 gespielt (man spielt sich gegenseitig Musik vor, die man als Teenager geil fand, und schämt sich heute bisschen dafür, weil man's immer noch geil findet) und sternhagelvoll ins Bett gefallen. Festgestellt, dass meine Guilty Pleasures zwischen Musical-Hits und Pantera oszillieren. Wie peinlich. Habe mir von meinem Freund erzählen lassen, dass ich trotz Totalausfall Zahnseide verwendet hätte nach dem Zähneputzen. Er ist Spanier. Ich bin schockiert, wie deutsch ich bin. Auf dem Balkon hat mir eine Hummel auf die Brille geschissen.

Der Spanier an sich scheint nicht so deutsch zu sein im Einhalten von Regeln: 31.000 Strafen wegen Verstößen gegen die Ausgangsverbote bislang. Eigentlich cool, aber eigentlich halt auch nicht. Fuck the System ist grade einfach nicht mehr cool. Bin gespannt, was hier passiert, wenn die Totalsperre kommt. Vielleicht komme ich ja in den Knast, wenn ich beim nächsten Einkauf einen Umweg durch den Park nehme, um einem Dealer eine Dosis Hakle (vierlagig) abzukaufen. Auch schon wieder geil. Morgen geht's wieder ins Büro. Mal sehen, wer als nächstes durchdreht.

Jetzt noch bisschen Netflix: Sabrina – eine Serie über eine junge Hexe, die den Teufel bezwingt. Warum zur Hölle passt das schon wieder zur Gesamtsituation?


Montag, 23.3.2020

Wieder zu spät aufgewacht. Wieder derselbe Grund. Im Sozialraum des Büros alleine Gnocchi mit Pilzsoße gegessen und am offenen Fenster die Sonne auf die Stirn ballern lassen. Hinterhof-Ausblick auf zig Balkone in Stuttgart Mitte. Alle leer. Sind die Schwachmaten alle im Park? Oder halt auch auf Arbeit? Soll's ja noch geben, sowas. Kaufe auf dem Heimweg Brühwürfel, Spüli, eine Flasche Wein und eine Packung Klopapier. Better safe than Socke.

Busse und U-Bahnen fahren nach Ferienfahrplan. Muss 20 Minuten warten. An der Bushaltestelle einen selbst gestalteten Aufkleber entdeckt: "Gib ein!!! WWW Politikversagen". Die Quarantäne fordert offenbar ihre ersten Hirntoten.

Sehe auf Instagram ein Video, in dem Arnold Schwarzenegger, ein Esel namens Lulu und ein Mini-Pony namens Whisky zusammen abendessen. #stayathome – JA WÜRD' ICH JA GERN! Weißweinschorle vor der Glotze getrunken, dann ins Nest.


Dienstag, 24.3.2020

Aus unruhigen Träumen erwacht. Der Papst hatte mir mit Chrisam aus Eistee den Rücken massiert. Wieder alleine im Bus gefahren. Auf Arbeit erfahren, dass EDV-Leute an meinem PC Installationen fürs Homeoffice vorgenommen haben. Erstmal alles mit Sagrotan (Damentoilette) eingesprüht. Dann manisch lachend durch sieben Stockwerke geflitzt und wahllos PC-Mäuse und Kaffeemaschinen desinfiziert. Kollege vermutet Lagerkoller. Er war mal bei der Armee. Nie mehr als zwei Bier am Abend im Lager. Wegen den Waffen. Komme runter bei zwei Kippen nacheinander im Hinterhof. Im Puff gegenüber scheint sich's ausgebumst zu haben. Stelle mir vor, wie die Frauen in ihren Zimmern irgendwas lesen und Musikhören. Corona – oder das Ende des Kapitalismus? Eigentlich sollten wir feiern.


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7 Kommentare verfügbar

  • Fritz Schwab
    am 31.03.2020
    Antworten
    Morgen ist Mittwoch und hoffentlich gibt es wieder einen Tagebuch-Text von Elena Wolf!
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