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"Wertneutralität ist eine Schimäre"

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Der Rechtsruck in der Gesellschaft hat die Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung verändert. Wichtiger sei sie geworden, so die Co-Direktorin, aber auch schwieriger, seit die AfD im Landtag sitzt. Ein Gespräch mit Sibylle Thelen über Neutralität, Haltung und das Vertrauen in eine Institution.

Zum Redaktionsgespräch kommt Sibylle Thelen vollbepackt: in der einen Hand eine Tasche voller Veröffentlichungen der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB), über der Schulter eine verhüllte Cura. Nach dem Interview eilt sie gleich zum Musikunterricht, bei dem sie nicht nur lernt, das türkische Lauteninstrument zu spielen. Denn im Unterricht wird ausschließlich türkisch gesprochen. Ein doppelter Lerneffekt, gilt der Türkei doch die Leidenschaft der 58-Jährigen, die in München neben Politik- und Kommunikationswissenschaft auch Turkologie studiert hat.

Frau Thelen, die Landeszentralen galten immer als ehrwürdig und staatstragend. Wenn man das aufgeregte Geschrei aus der rechten Ecke hört, könnte man meinen, Sie würden die Revolution vorbereiten. Ist die Landeszentrale nach links gerückt oder die Gesellschaft nach rechts?

Wenn der Diskurs sich nach rechts erweitert, dann ist das eine gesellschaftliche Realität, der wir uns stellen müssen. Das heißt aber nicht, dass sich die Landeszentrale für politische Bildung nach links gedreht hat. Sie ist dort, wo die freiheitlich demokratische Grundordnung den Rahmen setzt. Politische Bildung, die Grund-und Menschenrechte ernst nimmt, unterstützt Teilhabe und Engagement, stärkt die Diskussionskultur und schärft den Blick für komplexe Zusammenhänge. Wir als Landeszentrale für politische Bildung tun dies zudem auf überparteilicher Basis. Wenn das heute schon als links gilt … Rechte, antidemokratische Meinungen hat es im Übrigen schon immer gegeben, aber heute reichen sie bis in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Rechte, antidemokratische Meinungen, nennen wir's beim Namen, bedeuten: zunehmender Rassismus, Antisemitismus, und das reicht bis zu Mord an Politikern wie Walter Lübcke. Da klingen Grundsätze der LpB wie Überparteilichkeit und Neutralität wie Relikte aus einer anderen Zeit. Ist heute nicht Haltung gefragt?

Sibylle Thelen, lange Jahre Redakteurin bei der "Stuttgarter Zeitung", arbeitet seit Juli 2011 bei der LpB Baden-Württemberg, zunächst als Abteilungsleiterin Demokratisches Engagement/Gedenkstättenarbeit, seit Anfang des Jahres auch als Co-Direktorin. Sibylle Thelen hat mehrere Bücher über die Türkei veröffentlicht – darunter auch zur Armenienfrage, sowie zur NS-Erinnerungskultur und zu Widerstandsbiografien. 2011 erhielt sie den Manfred-Rommel-Ehrenpreis für ihr Engagement für die türkische Kultur und Geschichte. (sus)

Politische Bildung braucht Haltung. Mit dem Beutelsbacher Konsens wurden schon 1976 Standards formuliert, um politische Bildung durchaus auch mit diesem Ziel zu professionalisieren. Damals, in den politisch bewegten Siebzigerjahren, wurden die Grundlagen von politischer Bildung von Traditionalisten einerseits und Fortschrittlichen andererseits heiß diskutiert. Doch den Fachleuten gelang es, sich auf drei Prinzipien zu einigen, an denen man die Arbeit ausrichten kann, als Leitplanken gewissermaßen. Eine dieser Leitplanken lautet: Was gesellschaftlich kontrovers diskutiert wird, soll auch kontrovers dargestellt werden. Indoktrinationsverbot, noch eine Leitplanke, besagt, dass politische Bildung keine Meinungen vorgeben und nicht überwältigen darf. Mit Neutralitätspflicht oder gar Wertneutralität hat das jedoch nichts zu tun. Denn natürlich ist die politische Bildung dem Grundgesetz verpflichtet, will sie werben für Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet auch, klar Stellung zu beziehen gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit, gegen Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wie etwa Antisemitismus oder Rassismus. In diesem Kontext ist Wertneutralität eine Schimäre, denn Hass und Abwertung anderer sind keine Meinungen, mit denen man sich sachlich auseinandersetzen kann.

Die Arbeit der Landeszentrale hat sich durch den Rechtsruck der Gesellschaft verändert. Welche Rolle spielt dabei die AfD?

Unsere Arbeit hat sich nicht allein durch die Existenz einer rechtspopulistischen Fraktion im Landtag verändert. Es ist das politische Klima, es sind die Argumente, die im rechten Spektrum vorgebracht werden, die unsere Arbeit nicht leichter, aber immer wichtiger machen. Hinzu kommt eine vielschichtige Verunsicherung in unserer Gesellschaft. Die Menschen spüren, dass es mit dem Wohlstandszuwachs so nicht weitergeht. Sie spüren, dass sich große Veränderungen durch Digitalisierung, Migration, Demographie und Klimawandel anbahnen. Und alles scheint mit allem verbunden zu sein. Diese Gemengelage löst Ängste aus, sorgt für Orientierungslosigkeit. Mit unseren Angeboten können wir Wissen vermitteln, aber auch dazu beitragen, Orientierung zu ermöglichen.

Wie tun Sie das?

Politische Bildung ist beileibe nicht nur Institutionenkunde. Es gibt viele innovative Formate. Ein schönes Beispiel ist das Projekt "Läuft bei Dir", das wir mit der Baden-Württemberg-Stiftung und der Stiftung Weltethos ausgearbeitet haben. Es geht um Demokratiebildung für Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen. Dafür wurde unter anderem ein Escape-Room medienpädagogisch aufgerüstet: mit Rätseln, die sich um den geplanten Shitstorm eines Hackers ranken. Die Jugendlichen sollen seinen Umtrieben im Netz auf die Spur kommen. Spielerisch setzen sie sich mit Fake News, unseriösen Quellen und gefälschten Bildern auseinander. In der Nachbereitung werden die Erfahrungen diskutiert.

Sind durch diese gesellschaftliche Verunsicherung auch die Erwartungen an die politische Bildung gestiegen?

Wir erleben eine Repolitisierung des Diskurses. Die Shell Jugendstudie 2019 zeigt, dass die Jugend heute wieder deutlich politischer ist als noch vor zehn Jahren. Die jungen Leute spüren, dass etwas passiert in der Gesellschaft. Sie wollen Stellung beziehen, sie brauchen dazu Informationen, sie brauchen Möglichkeiten, Dinge einzuordnen. Wir profitieren davon, dass uns die Bevölkerung großes Vertrauen entgegenbringt. Die Erwartungen sind gestiegen, aber unsere zentralen Themen haben sich nicht verändert. Wir beschäftigen uns schon lange mit Demokratie, Erinnerungskultur, Antisemitismus, Frieden und auch Ökologie.

Aber Sie hätten vor zehn Jahren noch kein Seminar angeboten mit dem Titel "Rechten Parolen Paroli bieten", wie Sie das jetzt im Haus auf der Alb tun.

Das stimmt. Das Angebot trifft den Nerv unserer Zeit. Viele Bürgerinnen und Bürger wollen sich in die Debatten einmischen, wollen Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung oder auch ganz allgemein Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus verteidigen. Sie merken, dass die Grundlagen wichtig werden. Eine Rolle spielt auch die Glaubwürdigkeitskrise der Medien. Die Menschen sagen, zur Landeszentrale kann ich gehen, da krieg ich Informationen, denen ich trauen kann – keine Fake News. Wenn wir vor zehn Jahren eine Veranstaltung zu Meinungs- und Pressefreiheit angeboten hätten, wäre kaum jemand gekommen. Heute ist das Haus voll. Und das freut uns. Der Rechtspopulismus hat nicht nur auf seiner Seite mobilisiert, sondern eben auch bei denjenigen Menschen, die sich für Demokratie und Rechtsstaat einsetzen wollen. Diese Motivation gilt es zu stärken.

Die Angriffe von rechts zwingen Sie also, vermehrt über die Grundlagen der politischen Bildung zu sprechen, und Sie werden mehr gehört?

Ja, der Erfolg des Rechtspopulismus zeigt, wie notwendig es ist, den Blick für die Bedeutung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu schärfen. Welche Auswirkungen haben die Grundrechte für jeden Einzelnen? Oder umgekehrt gefragt: Wie wäre ein Leben ohne Meinungsfreiheit, ohne Gleichheit vor dem Gesetz, ohne verbürgte Rechtsstaatlichkeit? Um welchen Lernprozess ging es nach dem Ende der NS-Diktatur bei der Verankerung der Grundrechte in unserer Verfassung? In den vergangenen Jahrzehnten eines ständigen Wirtschaftswachstums wurde einiges versäumt, Demokratie war wie gesetzt, irgendwie da. Verfassungspatriotismus wurde als "blutleer" abgetan. Durch die Infragestellung von Demokratie und repräsentativem Parlamentarismus wird jedoch deutlich: Demokratie muss immer aufs Neue errungen werden. Dieser Auftrag richtet sich ganz unmittelbar an eine Institution wie die Landeszentrale für politische Bildung.

Die Landeszentralen sind ja so unterschiedlich wie die Länder, in denen sie angesiedelt sind. Bedauern Sie manchmal die Kollegen in Thüringen?

Ich würde mal sagen: Auch in Thüringen steht die politische Bildung vor großen Aufgaben. Sie muss begreiflich machen, weshalb eine demokratische Regierung vom ersten Moment an demokratische Mehrheiten benötigt und warum man den Parlamentarismus nicht schleichend aushöhlen darf – Stichwort "Expertenregierung". Die Landeszentralen sind sicher so unterschiedlich wie die Länder, das ist das Konzept des Föderalismus. Aber positiv finde ich, dass in Niedersachsen, wo die Landeszentrale für politische Bildung unter dem Ministerpräsidenten Christian Wulff abgeschafft wurde, seit drei Jahren wieder eine Landeszentrale steht.

Seit Januar sind Sie Co-Direktorin bei der Landeszentrale, arbeiten dort bereits seit neun Jahren. Hat der Druck zugenommen?

Es kann ja gar nicht genug politische Bildung geben. Deshalb machen wir gerne viele Angebote und werden in den letzten Jahren dabei auch von der Politik stark unterstützt. Es werden auch verstärkt Anfragen von außen an uns herangetragen. Ein aktuelles Beispiel sind die "Omas gegen rechts", die an vielen Orten in Baden-Württemberg von Frauen gegründet werden – von Frauen, von denen sich nicht wenige erstmals politisch engagieren. Eine wichtige Entwicklung ist, dass wir eng mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, etwa im Bereich der Gedenkstättenarbeit, wo wir ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger bei ihrer Arbeit unterstützen. Wir vergeben dort Fördermittel, wie auch im Bereich "Demokratie stärken!" mit dem Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Unsere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft erfolgt auf Augenhöhe und trägt dazu bei, dass ein dichtes Netzwerk über das Land gelegt wird von Aktiven, die in der politischen und in der historisch politischen Bildung unterwegs sind.

Nochmal nachgefragt: Hat der Druck zugenommen in diesen neun Jahren?

Ich würde sagen: Wir sehen uns gefordert. Und wir sehen uns Erwartungen ausgesetzt, mit unseren Angeboten auch tatsächlich Wirkung zu erzielen. Ein solcher Ansporn muss nicht schädlich sein. Er hat unter anderem auch dazu geführt, dass wir uns in den letzten Jahren massiv modernisiert haben und zum Beispiel alle "Kanäle" von Print, Online-Angeboten bis hin zu den Sozialen Medien stärker bespielen.

Wie gehen Sie damit um, wenn ein AfD-Gemeinderat versucht, das Seminar "Rechten Parolen Paroli bieten" zu sprengen, indem er sich als Kenner zur Verfügung stellt, an dem die Teilnehmer ihre Argumentation erproben können?

Wir scheuen die Diskussion nicht und schließen auch niemanden aus. Wir hätten ihn eingeladen, wenn die Seminarform dazu gepasst hätte. Aber warum hätten wir bei einem solchen Seminar, wo es darum geht, Interessierten im geschützten Raum die Möglichkeit zu geben, sich gegen Populismus und rechte Parolen zu stärken, einen AfD-Vertreter wie ein Zirkuspferd vorzuführen. Außerdem hätten wir dann auch Vertreter anderer Parteien einladen müssen. Bei jeder unserer Veranstaltungen, wo es darum geht, parteipolitische Argumente zu diskutieren, wird auch die AfD eingeladen. Wir grenzen niemanden aus. Ganz im Gegenteil, manchmal ist es auch gut, wenn Diskussionen kontrovers verlaufen. Die Grundlage unserer Arbeit ist die argumentative Auseinandersetzung und Überparteilichkeit. Dazu sind wir auch rechtlich verpflichtet, nicht jedoch zur Wertneutralität. Wenn es eine Partei gibt, die die Einschränkung der Meinungsfreiheit oder der Pressefreiheit auf ihre Fahnen schreibt, dann ist es sogar unsere Pflicht, dagegen zu intervenieren.

Sie sind Co-Direktorin einer Einrichtung, die Zielscheibe der Rechten ist. Als engagierte Turkologin, die sich auch mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigt, sind Sie unter genauer Beobachtung der AKP. So funktioniert Einschüchterung. Wie halten Sie die Angst in Schach?

Ich nehme das Recht für mich in Anspruch, mich mit Themen aus verschiedenen Perspektiven zu beschäftigen. Es geht darum, Komplexität zu erschließen. Meine Motivation finde ich bei dem türkischen Dichter Nâzım Hikmet auf wunderschöne Weise formuliert:

Wenn ich nicht entbrannt bin,
wenn du nicht entbrannt bist,
wenn wir nicht entbrannt sind,
wer soll dann hier das Dunkel vertreiben?


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