KONTEXT:Wochenzeitung
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Die andere Frau Murad

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Vor fünf Jahren entkamen sie dem Genozid im Nordirak. Wie geht es den Jesidinnen aus dem Sonderkontingent heute? Haben sie Fuß gefasst, wie es die Geschichte der Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad und eine Evaluation der Uni Tübingen versprechen? Manche zweifeln daran.

An der Wand hängt eine Zeichnung. "Ein kleines Kind ist wie eine Blume", steht da und darunter haben die Frauen ihre Wünsche, aber auch ihre Ängste aufgemalt. Eine Sonne und ein Herz für ein glückliches Leben, eine Blume mit Blüten und Wurzeln, der Wunsch nach Liebe, Glück und Familie. Bunte Sehnsüchte, bedroht von schwarz gemaltem Hass, Neid und Krieg. Es ist ein Bild wie aus den zerrissenen Seelen der Frauen, die in diesem unscheinbaren Haus in Freiburg, dessen Adresse nicht öffentlich sein soll, Zuflucht gefunden haben.

Vor fünf Jahren sind sie dem Genozid an den Jesiden im Nordirak entkommen, haben Gefangenschaft, Vergewaltigung und Tod erlebt. Und überlebt. Irgendwie.

Zainab Murad hat an dem Bild mitgemalt. Sie ist eine der rund 1100 Frauen, die seit 2015 über ein Sonderkontingent in Baden-Württemberg aufgenommen wurden, wie auch die junge Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtsaktivistin – und Namensschwester. Doch die beiden Jesidinnen trennen Welten. Die eine hat ihre Aufgabe als Botschafterin und Kämpferin gefunden, die andere kämpft sich mühsam durch einen fremden Alltag. Seit fünf  Jahren lebt Zainab Murad in diesem Haus an der belebten Freiburger Straße, zusammen mit anderen Jesidinnen und ihren Kindern. Bodenlanges Kleid, unter dem Kopftuch ein ruhiges Gesicht mit traurigen Augen. Mit vier Kindern ist sie in Freiburg angekommen, froh, dem Genozid im Sindschar-Gebirge entkommen zu sein.

Doch nun melden sich Zweifel. "Ich finde es gut, dass meine Kinder hier zur Schule gehen", sagt sie mit so leiser Stimme, dass die Übersetzerin sie kaum versteht, "aber ich weiß nicht, ob ich hierbleiben soll oder zurück in den Irak." Ihr Mann fehlt ihr, die Kinder brauchen doch einen Vater, 50 Jahre ist sie inzwischen und wie soll sie das alles schaffen, die Erziehung, die Schule, die fremde Sprache, die fremde Kultur? "Bei Isis war alles unmenschlich und meine Familie wurde auseinandergerissen. Hier ist alles menschlich, warum dürfen wir dann nicht zusammen sein?" Manches deutsche Wort versteht sie, es ist nicht viel. Doch vor allem versteht sie nicht, warum sie nicht endlich als ganze Familie hier in Freiburg zusammenleben dürfen, wie es ihr versprochen wurde im Flüchtlingscamp in Dohuk, als sie für das Sonderkontingent ausgewählt wurde.

"Ich fühle mich allein gelassen"

91 Prozent der Jesidinnen seien mit der Situation in Baden-Württemberg zufrieden. Das sagt die Evaluation von Wissenschaftlern um Florian Junne, Leitender Oberarzt an der Psychosomatischen Medizin der Uniklinik Tübingen. Die Studie stammt aus dem Sommer vergangenen Jahres. Zainab Murad gehört zu den anderen neun Prozent. Sie will ihre ganze Familie um sich haben, auch den Mann. "Ich fühle mich allein gelassen vom Staatsministerium", sagt sie, "sie haben es doch versprochen".

Das Versprechen hat ihr Jan Ilhan Kizilhan gegeben. Der Psychologe und Traumatologe hat die Frauen im Nordirak für das baden-württembergische Sonderkontingent ausgewählt, er weiß, wie wichtig auch die Männer sind bei der Bewältigung der Kriegstraumata, besonders bei den Jesiden, wo Familie so viel zählt. "Wir könnten viel schneller Erfolge erzielen, wenn die ganze Familie hier wäre", sagt er. Kizilhan hat das Versprechen gegeben, weil sich damit die Heilungschancen verbessern, weil es das gute Recht der Frauen ist und weil es außerdem Kosten spart. Der Traumaexperte versteht nicht, warum in Fällen wie bei Zainab Murad nicht ebenso unbürokratisch geholfen werden kann wie sonst beim Sonderkontingent, zumal es nur um wenige Ehemänner geht.

Wer den Professor mit kurdischen Wurzeln in seinem Zimmer an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen besucht, kann sicher sein, dass Pistazien zum Knabbern und ein Schälchen mit Süßigkeiten auf dem Besuchertisch stehen. An der Wand lehnt ein Foto, das ihn mit einer Jesidin mit Gesichtsverbrennungen zeigt. Das Mädchen hat sich als 16-Jährige im Camp in Dohuk selbst angezündet, weil sie nachts träumte, der IS stehe wieder vor dem Zelt und sie würde wieder vergewaltigt. Sie wollte sich hässlich machen. Sie hat überlebt, heute lebt sie in Deutschland, Kizilhan lächelt, das Mädchen mit dem vernarbten Gesicht will Ärztin werden. "Sie ist tapfer, sie schafft das", sagt er. Er mag dieses Bild. Für ihn ist es ein Bild der Hoffnung.

So einfach ist das nicht mit dem Helfen

Am 3. August 2014 überfiel der IS den Norden des Irak, wo die JesidInnen leben, sie erschossen die Männer, die Jungen wurden zu Kindersoldaten verkrüppelt und die Frauen als Sex-Sklavinnen verschleppt. Kurz darauf entschied die damals grün-rote Landesregierung, 1000 Frauen und Kinder unbürokratisch in einem Sonderkontingent aufzunehmen. Das bekannteste Gesicht ist zweifellos Nadia Murad, die Friedensnobelpreisträgerin. Im November vergangenen Jahres stellte das Land eine Studie über Erfolge und Erfahrungen vor. Die meisten Jesidinnen seien angekommen im neuen Alltag, so der Tenor. Theresa Schopper, die zuständige Staatsministerin, sprach von einem Wendepunkt.

Aber so einfach ist es nicht mit dem Helfen. Denn Hilfe sieht für jede anders aus. Für manche der Jesidinnen ist es die gesundheitliche Versorgung nach Folter und Vergewaltigung. Für andere ist es die Gewissheit, dass die Täter verfolgt und bestraft werden. Und wieder andere wollen endlich ein Leben ohne Ängste führen können. Ist es also wirklich ein Wendepunkt für alle?

Und was ist mit Frauen in anderen Ländern wie Ruanda oder Niger, die ebenfalls Opfer sexualisierter Kriegsgewalt wurden? Warum wurden die Jesidinnen gerettet, aber nicht die Frauen im Kriegsgebiet Sudan, Kongo oder die Rohingyas? Vielleicht, weil der IS besser ins Feindbild passt? Geht es um Gerechtigkeit oder werden Frauen gar instrumentalisiert? Es sind Fragen, die nicht verurteilen wollen, doch wer sie stellt, sticht in ein Wespennest. Monika Hauser stellt sie dennoch.

Die Ärztin und Kopf der NGO Medica Mondiale hat das Wespennest schon bei ihrem ersten Kontext-Interview erlebt. Klaus-Peter Murawski, Vorgänger von Theresia Schopper, schäumte; Zweifel am Sonderkontingent, oder Einwände, dass es vielleicht besser gewesen wäre, das Geld in die Behandlung vor Ort zu stecken, wollte er im Kontext-Interview nicht gelten lassen. "Kurzfristig können Sonderkontingente eine Lösung sein", sagt Monika Hauser heute gegenüber Kontext, "mittelfristig jedoch sind andere Lösungen nötig."

Schon im Bosnienkrieg hat sie gefragt, wie die dortige Gesellschaft mit den im Krieg vergewaltigten Frauen umgeht, wie sie darin unterstützt werden können, wieder ein Leben ohne Angst und in Würde zu führen. Dazu gehören nach dem Ansatz von Medica Mondiale die ärztliche Versorgung der Frauen, traumatologische Behandlung und die gesellschaftspolitische Arbeit vor Ort. Im Nordirak arbeitet Medica Mondiale mit örtlichen Initiativen zusammen.

Eine europäische Vorstellung von Krieg

Auch der Traumatologe Kizilhan arbeitet vor Ort. Im Auftrag des Staatsministeriums und in Zusammenarbeit mit der Universität Dohuk hat er ein Institut zur Traumapsychologie aufgebaut. Im März wird die erste Generation Therapeuten ihr Studium beenden. Der Talar, der schon bei den Prüfungen getragen wird, hängt in Kizilhans Zimmer in Villingen-Schwenningen, schwarz mit gelb-blauer Schärpe und dem Landeswappen neben dem der Universität Dohuk. Die ersten Absolventen sollen die nächsten Studenten ausbilden. Ziel ist es, das Institut bis 2023 ganz in die Uni Dohuk einzugliedern. "Wer sagt, dass man ausschließlich vor Ort helfen soll, hat eine europäische Vorstellung von Krieg", betont der Professor. Die Menschen lebten nicht mehr in ihrer Heimat, sie lebten in Flüchtlingscamps, in einer Ausnahmesituation, entwurzelt, viele diskriminiert und von ihren Familien verstoßen.

Therapeutenausbildung an der Uni Dohuk

Das Institut an der Universität Dohuk hat im März 2017 seinen Studienbetrieb aufgenommen. Maßgeblich beteiligt am Aufbau des Instituts ist Prof. Kizilhan in Kooperation mit der Universität Tübingen. Ziel ist es, Therapeutinnen und Therapeuten im Rahmen eines von den Projektpartnern neu konzipierten Masterstudiengangs (Master of Arts in Psychotherapy and Psychotraumatology) auszubilden. Teil der Ausbildung ist ein "Train the Trainer"-Konzept. Mit dem Institut und der Qualifizierung von Fachkräften im Irak soll eine bessere Versorgung traumatisierter Geflüchteter in Kliniken, Betreuungseinrichtungen und in den Camps des Landes erreicht werden.

"Es war eine Sondersituation 2014", sagt Kizilhan, "und die haben wir heute wieder." Es geht um die Jesidinnen, die Kinder von ihren Vergewaltigern geboren haben. Sie müssen sich von ihren Kindern trennen, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Um diesen Frauen und Kindern zu helfen, macht sich ein parteiübergreifendes Berliner Bündnis für ein weiteres Sonderkontingent nach dem Vorbild Baden-Württembergs stark. Initiiert von Annalena Baerbock (Grüne), Volker Kauder (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) wollen sie diese Frauen mit ihren Kindern nach Deutschland holen und auf die Bundesländer verteilen. Das Projekt vom vergangenen Sommer ist ins Stocken geraten, doch Baerbock gibt nicht auf. "Wir werden noch einmal auf das Innenministerium zugehen. Und wenn von der Bundesregierung dann nichts kommt, werden wir unsere Initiative in den Bundestag einbringen", bekräftigte die grüne Parteichefin zum Jahresende. Auch Kizilhan unterstützt diese bundesweite Initiative, er kennt die patriarchalen Strukturen vor Ort und hat schon deutliche Worte an die Patriarchen der jesidischen Gemeinschaft gerichtet, Menschlichkeit vor Dogmatismus zu stellen.

Im November vergangenen Jahres waren alle Augen wieder auf Nadia Murad gerichtet. Im Festspielhaus in Baden-Baden nimmt sie den Bambi aus der Hand von Ministerpräsident Winfried Kretschmann entgegen, der sie lobt für ihren Mut, für ihre Standhaftigkeit, ihren Kämpferwillen. Schmal steht sie da in ihrem schlichten Kleid inmitten all des Glitzers, tapfer liest sie von ihrem Manuskript ab: "Mein schönster Preis wäre es, wenn die Vergewaltiger des IS, die das den Jesidinnen angetan haben, vor Gericht gestellt würden." Monika Hauser kennt bosnische Frauen, die in Den Haag vor dem Internationalen Gerichtshof ausgesagt haben, sie kennt ruandische Frauen, die im Völkerrechtsprozess gegen den Ruandamilitär Ignace Murwanashyaka als Zeuginnen ausgesagt haben – und sie weiß, dass diese Aussagen mit Gefahren verbunden sind.

Für Zainab Murad bleibt Freiburg eine fremde Welt

Oft würden den Frauen "minimalste Dinge" verwehrt, wie eine Frau als Übersetzer oder dass der Übersetzer nicht der Volksgruppe der Vergewaltiger angehört, es gebe keine Sicherheit vor und nach dem Prozess. "Wenn es um Gerechtigkeit für Frauen geht", sagt Hauser, "dann machen Strafprozesse für sie nur Sinn, wenn die zuständigen Behörden endlich traumasensibel qualifiziert sind und sie einen Rechtsbeistand haben."

Oder geht es ausschließlich um schnelle Erfolge in der Verfolgung der IS-Täter? Das baden-württembergische Sonderkontingent mit seinen 1100 potenziellen Zeuginnen bietet jedenfalls eine einmalige Chance für die Suche der Generalbundesanwaltschaft nach IS-Tätern. Ein "Zeit"-Artikel spricht von 100 befragten Jesidinnen. Einige kamen aus Freiburg, sie wurden in Workshops auf die Befragung vorbereitet. Im Auftrag des Staatsministeriums führte die Freiburger Menschenrechtsorganisation Amica die Workshops durch. Doch Leiterin Catherina Klop ist mit der Vor- und Nachbereitung nicht zufrieden. "Wir hätten gerne noch einen dritten Workshop gehabt, es ist schwierig, die juristische Materie in eine andere Kultur und Sprache zu übersetzen", sagt Knop. Für Nadia Murad mag die strafrechtliche Verfolgung der Täter der schönste Preis sein. Doch jede Befragung birgt die Gefahr einer Retraumatisierung.

Für Zainab Murad ist Freiburg immer noch eine fremde Welt, in der sie versucht, Fuß zu fassen. Ältere Jesidinnen haben große Schwierigkeiten, anzukommen. Das weiß Yvonne Lux, Mitarbeiterin im Freiburger Amt für Migration und Integration, nur zu gut. Sie unterstützt 150 Jesidinnen und ihre Kinder als "Alltagsbegleiterin, Krisenmanagerin und zuständig für Empowerment", wie sie ihre Aufgabe umschreibt. Zu ihrer Klientel gehören auch die beiden jungen Frauen, die im Gemeinschaftsraum dort Platz genommen haben, wo noch vor wenigen Minuten Zainab Murad saß. Die Schwestern lachen, sie feiern den Geburtstag der jüngeren, 18 Jahre ist sie geworden, und steht nun nicht mehr unter der Vormundschaft der zwei Jahre älteren Schwester. "Für die Frauen, die eine Perspektive in Deutschland gefunden haben, ist es wirklich der Wendepunkt, den die Evaluation nahelegt", sagt Lux, "doch wer hofft und bangt, dass der Mann nachkommen kann so wie Frau Murad, für die ist das eine belastende Situation."

Das ist auch im Staatsministerium bekannt. Dort will man eine unbürokratische Lösung finden, zumal es sich "nur" um 18 Fälle handelt. Dabei hat auch das Innenministerium von CDU-Minister Thomas Strobl ein Wörtchen mitzureden. Dort dürfte das unter Grün-Rot eingefädelte Projekt Sonderkontingent nicht erste Priorität haben.

Doch Zainab Murad will nicht länger warten. Sie hat sich einen Anwalt genommen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Andrea K.
    am 15.01.2020
    Antworten
    Es wird sicher nicht gelingen, alle glücklich zu machen, da muss man doch realistische Ziele ins Auge fassen.

    Wenn ich lese, dass es als "minimalste Anforderung" betrachtet, eine Übersetzerin aus dem gleichen Kulturkreis zu bekommen und mich gleichzeitig erinnere, dass hier in der jesidischen…
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