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Verrückte Tage

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Hatespeech zur Bescherung, zum Festmahl Umweltsau, und im TV alberte ein grenzwertiger Nuhr. Jetzt heißt es, unpassende Geschenke umzutauschen. Gerne auch das von Genossin Esken.

Die Zeit zwischen den Jahren bietet immer Gelegenheit, Verrücktes in die Welt zu setzen. Präsenz ist Politikern und Populisten sicher. Denn da passiert herzlich wenig, Pressestellen sind verwaist, Redaktionen ausgedünnt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit geht alles online, was Quote oder Klicks verspricht. Meist mehr statt weniger ungeprüft.

So war es auch beim jüngsten Jahreswechsel. Mit der Aufregung über das Umweltsau-Video des WDR jedoch viel heftiger als je zuvor. Mehr als 210 000 Tweets wurden innerhalb von 72 Stunden unter #Umweltsau und #Nazisau abgesetzt. Unter den digital Empörten: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU): "Der WDR hat mit dem Lied (...) Grenzen des Stil und Respekts gegen über Älteren überschritten. Jung gegen Alt zu instrumentalisieren ist nicht akzeptabel", schrieb er auf Twitter.

Fragwürdig erschien Laschets Tweet spätestens, nachdem der "Spiegel" – als einer von wenigen – tiefer recherchierte. Datenanalysen offenbarten, dass die Aufregung massiv von nur wenigen Twitter-Accounts geschürt wurde, die vor allem dem rechten Spektrum zuzuordnen waren.

SPD plötzlich für Tempolimit?

Im Schatten von Oma Umweltsau drohten die anderen Aufreger des jüngsten Zwischen-den-Jahren-Lochs in selbigem zu versinken. Was schade gewesen wäre, auch weil sie dem gleichen Empörungskomplex angehören. Nämlich dem Klimaschutz, pardon, in der Sprache der Empörten: der Klimahysterie.

Da war zum einen Saskias Eskens Wortmeldung. Die neue SPD-Chefin will sich mit (Noch-)Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) unterhalten, über  Geschwindigkeit. "Ein Tempolimit auf unseren Autobahnen ist gut für den Klimaschutz, dient der Sicherheit und schont die Nerven der Autofahrer", verkündete Esken, erstmals ohne ihren Co-Chef Norbert Walter-Borjans. Dabei hatten die Sozialdemokraten im Bundestag erst im Oktober ein Tempolimit abgeschmettert. Die Grünen hatten es beantragt. Was aber kaum ein Medium aufgriff.

Stattdessen verbreiteten alle, dass Scheuer Esken nicht treffen mag: "Es gibt weit herausragendere Aufgaben, als dieses hoch emotionale Thema wieder und wieder ins Schaufenster zu stellen." Worauf Minister Scheuer ein Versicherungsvertreter zur Seite sprang. Ein "Praxistest" solle erst klären, "ob ein Tempolimit auf Autobahnen wirklich zu einem deutlichen Mehr an Sicherheit führt und, wenn ja, wie viel", sagte Siegfried Brockmann, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Bisher seien die Wirkungen hierzulande wissenschaftlich noch nicht umfassend untersucht worden, zitierte die "Tagesschau" den Leiter der Unfallforschung vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft.

Dem Experten widersprach niemand. Obwohl etwa das Brandenburger Verkehrsministerium Wirkungen eines Tempolimits schon 2007 hat untersuchen lassen. Auf 62 Kilometer der A24 konnte bis Dezember 2002 noch ungehindert gerast werden. Danach wurde auf 130 km/h begrenzt. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Betrachtung: Die Zahl der Unfälle halbierte sich annährend, von 654 in drei Jahren ohne Tempolimit auf 337 in drei Jahren mit Limit. Auch die Zahl der Verunglückten sank deutlich von 838 auf 362 Verunglückte. "Aus den Ergebnissen der Untersuchung geht hervor, dass bei einer angeordneten Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkw von 130 km/h (...) ein Nutzen für die Allgemeinheit entsteht", so das Fazit der Studie, die bis heute auf dem Server des brandenburgischen Ministeriums für Infrastruktur und Landesplanung liegt. Moment mal. In Potsdam regiert seit 2013 doch der Genosse Dietmar Woidtke, nach der Landtagswahl 2019 bundesweit erstmals in einer Kenia-Koalition. Also gemeinsam mit den Grünen, die ja das Tempolimit gefordert hatten.

Und dann auch noch Dieter Nuhr

"In Deutschland geht es nicht vorwärts. Da will man aufhalten, stoppen, verhindern, absperren", meinte auch Dieter Nuhr in seinem Jahresrückblick 2019, der über Weihnachten durch die ARD-Sender geisterte. Dem Kabarettisten ging's weniger ums Schnellfahren als ums Im-Stau-stehen in seiner Heimat Düsseldorf. Wegen neuer Umweltspuren, die für Busse, Fahrräder, Taxen, E-Mobile sowie Fahrgemeinschaften reserviert sind, die die Landeshauptstadt eingerichtet hat, um drohende Diesel-Fahrverbote zu vermeiden. "Jetzt blasen Abertausende Autos im Stehen Abgase raus", so Nuhr. Weil sich Pendler weigerten mit der Bahn zu fahren. "Aus dem einfachen Grund, weil es keine gibt, wo sie leben", erklärte er unter tosendem Beifall des Publikums. Dass Autofahrer aus dem Umland Park-&-Ride-Plätze ansteuern können, um per Bahn in verstopfte Innenstädte zu gelangen, ist Nuhr offenbar unbekannt. Allein in Düsseldorf gibt es 17 P&R-Anlagen, der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr unterhält 20 000 P&R-Stellplätze. Weitere sollen eingerichtet werden, um das Umsteigen zu erleichtern.

Nur zur Erinnerung: Stickstoffdioxid (NO2) ist ein ätzendes Reizgas, das die Schleimhäute des Atemtrakts schädigt. Die Folge können Atemnot, Husten, Bronchitis, Atemwegsinfekte sowie Lungenfunktionsminderung sein. Besonders Asthmatiker und Menschen mit vorgeschädigten Atemwegen sind betroffen. Aus Stickoxiden kann auch Feinstaub entstehen. Deswegen haben bereits 1999 die EU-Mitgliedstaaten Jahresmittelgrenzwerte beschlossen. Und diese Grenzwerte gelten seit zwanzig Jahren, verbindlich einzuhalten sind sie seit zehn Jahren. In Dutzenden deutschen Städten wurden sie trotzdem jahrelang weiter gerissen. Weil Behörden schliefen und nix dagegen machten. Bis die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ab 2017 betroffene Kommunen verklagte. Zu recht. Mehrere Gerichte haben Diesel-Fahrverbote als wirksame Maßnahme in amtlichen Luftreinhalteplänen bestätigt.

Das zeigt auch die Statistik: Bundesweit überschritten 2018 noch 57 Städte den Luftqualitätsgrenzwert von 40 Mikrogramm im Jahresmittel. 2017 waren noch 65 Städte betroffen. Vorläufige Zahlen für Baden-Württemberg untermauern, dass auch 2019 die Luft deutlich sauberer wurde. Nur in vier Städten wurde laut Verkehrsministerium der NOx-Grenzwert noch überschritten: in Stuttgart, Heilbronn, Reutlingen und Mannheim.

Rückblicker Nuhr hat mit Stickoxiden kein Problem. Wenn schon, dann mit Feinstaub. Er gilt tatsächlich als gefährlicher für die Gesundheit als Stickoxide. Denn die kleinsten Partikel können tief in den Körper vordringen. Ultrafeine Partikel sind als krebserregend eingestuft. "Da bringt es aber nichts, den Diesel zu verbieten", klärte Nuhr sein Publikum auf. Denn: "Bei modernen Diesel kommt weniger Feinstaub hinten raus als er vorne ansaugt." Irgendwann würden Dieselbesitzer bei Feinstaubalarm von der Polizei aus dem Bett geklingelt, um auf Rundfahrten die Luft zu reinigen.

Nein, Diesel saugen keinen Feinstaub

Dieselfahrzeuge als Feinstaubsauger – dieses Narrativ wird schon länger kolportiert, von Automanagern wie dem einstigen VW-Entwicklungschef Ulrich Eichhorn. Und von Hochschullehrern wie Thomas Koch vom Karlsruher KIT (der vor seiner Unikarriere bei Daimler war). Nuhr dürfte das Thema wegen eines Berichts der Fachzeitschrift "Auto, Motor, Sport" aufgegriffen haben. Mitte 2019 hatte diese bei Diesel-Fahrtests in Stuttgart herausgefunden, dass die Feinstaub-Teilchenanzahl (PN) im Abgas unabhängig von der Feinstaubmenge der Umgebungsluft ist.

Erheblichen Einfluss auf den PN-Ausstoß hat jedoch der Betriebszustand von Motor und Abgassystem, ergaben die Tests. "Je nachdem, ob ein Motor im Leerlauf oder unter hoher Last läuft, kommt es zu völlig unterschiedlichen PN-Emissionen. Die höchsten Feinstaub-Ausstöße entstehen während der Regeneration des Partikelfilters", schreibt das Blatt. Während der Filter freigebrannt wird, entweichen an die 200 000 Partikel pro Kubikzentimeter (cm³). Bei normaler Fahrt fällt die Belastung jedoch auf weit unter 10 000 Partikel.

"Wenn wir also wissen, dass ein Auto bei hoher Feinstaubbelastung (50 000 Partikel/cm³) unterwegs ist und selbst bei gleichmäßiger Fahrt beispielsweise 15 000 Teilchen/cm³ emittiert, dann wird die Luft in diesem Moment tatsächlich sauberer. Regeneriert es jedoch gerade seinen Dieselpartikelfilter, dann erhöht es damit selbst an 'schmutzigen' Tagen die Partikelbelastung", so das Fazit. Die Tester betonen, dass dieser Effekt sich nicht auf andere Schadstoffe bezieht. Zudem gelte es nur für die neueste Diesel-Generation, und auch dann nicht ausnahmslos. Je nach Streckenprofil, Automodell und PN-Konzentration vor dem Einsaugen könne es auch mal andersherum sein.

Solche Feinheiten ließ Dieter "Diesel" Nuhr unter den Showtisch fallen. Dafür präsentierte der Satiriker für das leidige Treibhausgas, von dem der Verkehr zuletzt mehr statt weniger ausstieß, eine simpel erscheinende Lösung: Algen, die CO2 ein- und Sauerstoff ausatmen. Ein Startup habe einen Algenbottich erfunden, dessen Klimawirkung 368 Bäumen entspricht, erzählte er dem erstaunten Publikum (zu bewundern sind sie in einem FAZ-Video).

Was Nuhr nicht sagte: Sein Vorschlag ist ganz auf FDP-Linie. "Eine besondere Faszination scheint von Algen auf Christian Lindner auszugehen. Mehrfach in diesem Jahr schon hob der FDP-Chef die glibberigen Wassergewächse hervor, wenn es um Klimapolitik ging", schrieb das "Manager Magazin" kürzlich. "Unter seiner Führung wenden sich die Liberalen gegen 'die Vielzahl von Verboten und Subventionen' und den 'eindimensionalen Fokus der Politik auf die E-Mobilität'. Sie fordern 'neues Denken und eine Technologieoffensive in alle Richtungen' – mit Algen, die CO2 binden, als oftmals einzigem Beispiel."

"Warum stehn die Dinger noch nicht überall?", verlangte Nuhr tausende Algenbottiche in deutschen Umweltzonen. Da antwortete man gerne: Weil ihre Funktion noch nicht nachgewiesen ist? Weil sie 50 000 Euro pro Stück kosten? Oder weil die Umwandlung von Algenölen zu Biosprit oder Carbonfasern im Versuchsstadium feststeckt und extrem unwirtschaftlich ist? Weil ohne eine Verwertung der Algenglibber als Sondermüll entsorgt werden müsste und daraus wieder CO2 freigesetzt würde? Ganz zu schweigen vom Flächenbedarf. Um den CO2-Ausstoß von Hamburg einzufangen, wäre schätzungsweise ein Algenteppich weit über die Hansestadt hinaus auszubreiten.

Doch solche Erklärungen sparte sich der Komiker. Stattdessen prophezeite er am Ende seines Rückblicks Apokalyptisches: Milliarden Menschen verlieren ihren Wohlstand, Hunderte Millionen Joblose flüchten, neue Kriege brechen aus – falls Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung weiter so hysterisch das Klima zu retten versuchten. Tosender Beifall des Publikums.

Was zu beweisen war

Was geschah sonst noch zwischen den Jahren? Schwere Überschwemmungen und Erdrutsche kosteten in Indonesien über 50 Menschen das Leben. Mehr als 173 000 Bewohner der Hauptstadt Jakarta und umliegender Städten wurden obdachlos. Insgesamt sind rund 400 000 Menschen von den Fluten betroffen. Die Regenfälle, die am Neujahrstag begonnen hatten, sind nach Angaben der Behörden die heftigsten seit 1866. In Australien wüten Buschbrände von nie gekanntem Ausmaß. 24 Menschen, über 2000 Häuser und eine halbe Milliarde Tiere verbrannten bislang in den durch neue Hitzerekorde angefachten Feuersbrünsten (Stand 6. Januar 2019).

In Deutschland löschte der WDR das "Umweltsau"-Video schnell von seiner Facebook-Seite, weil es "sehr unterschiedliche Reaktionen" ausgelöst habe. Intendant Tom Buhrow entschuldigte sich "ohne Wenn und Aber" für den "Fehler", es veröffentlich zu haben. Der Jahresrückblick 2019 von Dieter Nuhr steht weiterhin in der Mediathek, 1,2 Millionen Klicks verzeichnet er auf Youtube. "Chapeau für dieses Schlusswort", schreibt ein Kommentator. "Nuhr Unsinn. Geschichtsverfremdung und Hoffen auf ein wissenschaftliches Wunder, um die Klimaerwärmung zu stoppen", ein anderer.

Feinstaubalarm ade

Stuttgart ist bislang die einzige deutsche Stadt, die sich im Winterhalbjahr einen Feinstaubalarm leistet. Als der vor fünf Jahren eingeführt wurde, sollte er insbesondere die Anzahl der Überschreitungstage mit mehr als 50 Mikrogramm Feinstaub drosseln. Mit Erfolg: 2016 waren es noch 58 Überschreitungstage am Neckartor, 2017 41 Tage und 2018 mit 20 Tagen erstmals weniger als die gesetzlich zulässigen 35 Tage. Nach eigenen Auswertungen wurde 2019 der Grenzwert an 23 Tagen überschritten. Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) deutete bereits an, dass deshalb die aktuelle Alarmsaison die letzte sein könnte.

Zur Verbesserung der Werte hat ein Bündel an Maßnahmen beigetragen. Welchen Anteil der Feinstaubalarm daran hat, lässt sich nicht quantifizieren, so eine Stadtsprecherin. Messergebnisse würden sowohl durch Witterung als auch durch andere Maßnahmen beeinflusst. Zudem sei die Hintergrundbelastung großräumig zurückgegangen.

Mit den sinkenden Werten ist offenbar auch die Wahrnehmung des Alarms gesunken. In den Anfängen des Feinstaubalarms (2016 bis Frühjahr 2017) ermittelte die Verkehrsleitzentrale (IVLZ) eine Verkehrsreduktion von bis zu drei Prozent. Im morgendlichen Berufsverkehr wurde zeitweise sogar ein Rückgang von sechs Prozent gemessen. Seit Herbst 2017 ist der Effekt deutlich geringer. "Es ergab sich eine durchschnittliche Reduktion von etwa einem Prozent", so die Stadtsprecherin. Auch in den Medien spielt der Alarm kaum noch eine Rolle. Anfangs vermeldete ihn der Verkehrsfunk regelmäßig und rief zum Umstieg auf Busse und Bahnen auf. Heute herrscht an Alarmtagen Funkstille. (jl)


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2 Kommentare verfügbar

  • Stefan
    am 12.01.2020
    Antworten
    Jaja, der Nuhr... ein Wissenschaftler und Politiker der höchsten Bildung, der als Einziger.... ach nee, da gibt es ja noch mehr, die Menschen unterhält. Also er muss ja Wissenschaftler sein, genauso wie der Mario Barth, der uns in seiner Show näher gebracht hat, wie die Feinstaubmessung…
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