Was für eine groteske Verdrehung der Tatsachen! Denn ausgerechnet der vermutlich größte Treppenspezialist in der Menschheitsgeschichte behauptet das exakte Gegenteil und verzieht, wie es ein Porträt in der "Frankfurter Rundschau" beschreibt, schon "angewidert sein Gesicht", wenn er nur "DIN 18 065" hört: Das Archiv von Friedrich Mielke, dem Begründer der Scalalogie (=Treppenforschung), umfasst laut "Deutschlandfunk" (DLF) mehr als "10 000 Treppen aus aller Welt, einen Großteil hat er selbst vermessen". Die deutsche Treppennorm, so urteilt Mielke nach jahrzehntelanger Forschung, sei für die Industrie gemacht, nicht für den Menschen, der die Stufen steigt.
"Durch Unregelmäßigkeit wird der Treppenbenutzer gefordert, aufmerksam zu sein", führt der 2018 verstorbene Architekt und Denkmalpfleger im DLF aus. Dahingegen verführe gerade das Gleichmaß normierter Stufenhöhen zu gefährlicher Unachtsamkeit: "Man verlässt sich darauf." Bis etwas herumliegt, auf dem man ausrutschen kann, eine Zigarettenschachtel vielleicht, und dann? "Die Leute kommen zu Fall." Daher, informiert das Architekturmagazin "Baunetzwoche", lobt Mielke "die mittelalterlichen Treppen norwegischer Kirchen oder die sich schlängelnden Stiegen auf Berghängen der italienischen Cinque Terre eben aufgrund ihrer Unregelmäßigkeit".
Die Städte verlieren ihr Treppengesicht
Das Charakteristische erfordert Eigenart: Wenn Mielke, so schildert es ntv, die historischen Treppen in Eichstätt betrachtet, mit ihrem nach oben hin größer werdenden Abstand zwischen Stufen und Handlauf, so erkenne er sofort die Handschrift von Hofbaudirektor Gabriel de Gabrieli: Etwas vergleichbares "habe ich noch nirgendwo sonst in der Welt gesehen", teilt der Experte mit. Durch diese ortsspezifischen Eigenheiten habe schließlich "jede Stadt ihr eigenes Treppengesicht". Doch die Stufen- und Geländervielfalt ist akut bedroht vom international um sich greifenden Normierungswahn. Heutzutage, moniert Mielke, seien die Treppen von Sydney bis Singapur, von Moskau bis Maui fast baugleich, und "wirklich begeisterungsfähige Treppen" würden kaum noch gebaut.
Treppenfragen sind Grundsatzfragen: Wollen wir, ohne Augen für unsere Umgebung und ihre Stufenhöhen, brav, angepasst und gedankenlos einen nicht wirklich begeisterungsfähigen Einheitsbrei in uns hereinlöffeln und im Autopilot durch unser Leben schlurfen, wie es ansonsten nur den Zombies vorbehalten ist?! Oder halten wir es da eher mit Hermann Hesse? Der will lieber "heiter Raum um Raum durchschreiten", wie er in seinem Gedicht "Stufen" ausführt (das ist das mit dem berühmten Satz "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne"). Weiter heißt es darin:
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Wenn der Weltgeist die Ratschläge von Friedrich Mielke berücksichtigt, muss er darauf achten, dass dieser Steigeakt nicht zum einförmigen Trott, sondern zum begeisternden Höhenflug wird.
1 Kommentar verfügbar
Manfred Fröhlich
am 01.01.2020Immer wieder umkreiste ich die Skulptur und fragte mich, was dieser Marmorklotz mir sagen will. Diese „Stufen“ lagen so sinnlos auf einer ebenen Grasfläche. Kein Weg führte nach oben. Und kein Weg führte nach unten.
Erst jetzt, durch…