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Ein voller Erfolg

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Manchmal ist Stuttgart eben doch das Schwungrad Deutschlands. Zumindest was Essen angeht, das vor dem tristen Tod in der Mülltonne bewahrt wird. Mit der "Raupe Immersatt" ist im Juni 2019 bundesweit das erste Foodsharing-Café gestartet. Und: Es läuft.

Ob falsch gelagertes Obst oder Gemüse, das gammelt, bevor es verzehrt werden kann, überschrittene Mindesthaltbarkeitsdaten, falsche Kalkulation im Supermarkt oder zu große Portionen in Restaurant – laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirft die Menschheit jedes Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel in den Müll. In Deutschland vor allem Obst, Gemüse und Backwaren, vieles davon in einwandfreiem Zustand. Um dieser immensen Verschwendung entgegenzuwirken, gibt es seit 2012 hierzulande Foodsharing-Initiativen: Netzwerke, die übrig Gebliebenes teilen, verschenken oder zu Menüs verarbeiten und gemeinsam verspeisen.

Die StuttgarterInnen Lisandro Behrens, Maike Lambarth, Jana Pfeiffer, Maximilian Kraft und Simon Kostelecky, alle Fünfe schon lange aktiv in der Foodsharing-Community, haben die Lebensmittelrettung auf eine neue Stufe gehoben und im Juni 2019 das deutschlandweit erste Foodsharing-Café eröffnet, in dem Gerettetes verzehrt werden kann. Essen wird verschenkt, nur Getränke werden verkauft, wobei es keine festen Preise gibt – jeder Gast bezahlt so viel, wie er möchte oder kann. Wir haben im Sommer über die Eröffnung berichtet, nahezu alle Medien im Land zogen nach – die ARD war vor Ort am Hölderlinplatz, das ZDF, von der "Frankfurter Rundschau" bis zur "Süddeutschen Zeitung" wurde berichtet. "Die Raupe", wie sie mittlerweile genannt wird, hat mediale Wellen geschlagen. Vor allem auch, weil Finanzielles im Share-Café zwar nötig, aber nicht ausschlaggebend sein soll. "Essen hat nicht bloß einen Geldwert", sagte Lisandro Behrens unserem Autor Moritz Osswald vor einem halben Jahr.

Ausgabe 428, 12.6.2019

Utopie aus dem Kühlschrank

Von Moritz Osswald

Stuttgart als progressiver Pionier: Das bundesweit erste Foodsharing-Café hat am Hölderlinplatz eröffnet. Essen ist dort gratis, Getränke zahlt man nach eigenem Gutdünken. Nach jahrelangem Hickhack startet damit ein Projekt, das zeigt, dass man mit Nahrung auch anders umgehen kann.

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Weil keiner wusste, ob das im reichen Stuttgart einschlägt oder eine Utopie bleibt, haben sich die MacherInnen zu Beginn ihres Experiments einen "Labormonat" verordnet. Fazit: "Wir sind total zufrieden. Die Anfangsbegeisterung ist vorbei und es ist trotzdem meistens voll", sagt Mitgründerin Maike Lambarth, 28 Jahre alt. "Dass es so gut läuft, dachten wir nicht."

Zwölf MitarbeiterInnen hat das Café mittlerweile, die auf freiwilliger Basis gezahlten Einnahmen decken die Kosten tatsächlich weitgehend. Um Schwankungen auszugleichen, bietet die Raupe seit neuestem auch Miet-Patenschaften an – wer mag darf sich an der Miete beteiligen. Auch das laufe gut an, sagt Lambarth.

Auch dass das Café noch guten Lebensmitteln Zuflucht bietet, hat mittlerweile weite Kreise gezogen: Rund 80 Kooperationspartner gibt es inzwischen, die jeden Tag Übriges vorbeibringen oder abholen lassen. Kürzlich hat eine Firma 17 Paletten Chips und Brot abgegeben, erzählt Lambarth, manchmal melden sich Catering-Services, die nach Veranstaltungen noch etwas übrig haben. Selbst Privatleute, die in den Urlaub fahren und keinen vollen Kühlschrank zurücklassen wollen, bringen Lebensmittel, oder auch solche, die ihre Ernährung umstellen und ihr altes kulinarisches Leben nicht in die Tonne kloppen wollen. "Niemand wirft gerne etwas weg, aber viele wissen nicht, wohin mit den Resten."

Auch die Sache mit den Begegnungen klappt besser, als sich die GründerInnen das gedacht hatten: Tatsächlich treffen sich in der Raupe Leute aller Art, aller finanziellen Schichten, aller möglichen Berufsgruppen und sitzen oft gemeinsam an einem Tisch. Kürzlich sei plötzlich ein junger Kerl ganz traurig an der Theke gestanden. Er sei so einsam und wüsste nicht so recht, was er dagegen tun soll. Also hat ihn Lambarth an einen Tisch mit Stammgästen gesetzt, die bekannt dafür sind, keine Berührungsängste zu haben. "Der junge Mann ist als Letzter an diesem Abend nach Hause gegangen, er hat wieder gelacht und war ganz beseelt", erzählt Maike Lambarth. "Wenn so etwas passiert, ist das natürlich ganz besonders wertvoll."


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