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Rechtes Netzwerk bleibt im Dunkeln

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Der zweite Thüringer NSU-Ausschuss hat seine Arbeit abgeschlossen. Und wenn es nach Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) geht, müssen sich Parlamente weiterhin mit dem NSU befassen. Er hält viele Fragen für unbeantwortet, gerade im Fall der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter.

Das waren große Worte: Vier Monate nach dem Auffliegen des "Nationalsozialistischen Untergrund" 2011 in Eisenach sicherte Angela Merkel (CDU) nicht nur den Hinterbliebenen der zehn Mordopfer zu, Zeichen zu setzen. Erst wurde auf der Gedenkfeier eine elfte Kerze entzündet, "für alle bekannten wie unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt". Und dann versprach sie als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland "alles zu tun, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen". Auch acht Jahre und zwölf parlamentarische Untersuchungsgremien später ist daraus wenig geworden.

Eher im Gegenteil. Mehr als zehntausend Seiten belegen die akribische Detailarbeit der Parlamente in vielen Punkten, aber eben zugleich gewaltige Lücken. "Es bleibt der Eindruck", resümiert Ramelow jetzt, "dass alles, was wir über das rechte Netzwerk wissen, nur der Spitze eines Eisbergs ähnelt." Seine Parteifreundin Katharina König-Preuss, die Obfrau der Linken, geht noch weiter und nennt die Aufklärungsarbeit kurzerhand gescheitert.

Den Behörden und ihrer Arbeit stellt die 48-Jährige, die selber schon oft von Rechtsradikalen bedroht wurde, ein erschütterndes Zeugnis aus: "Wären bundesweit schon 1998 und 1999 alle vorliegenden Informationen zum untergetauchten Trio richtig ausgewertet, analysiert und bei der Zielfahndung zusammengefasst worden, hätte die rassistische Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrund durch Auffinden von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe verhindert werden können." Es fehle "vor allem der analytische Blick auf die Neonaziszene und ihre Ideologie", und genau das habe dazu geführt, dass die Radikalisierung nicht wahrgenommen und die Vernetzung weitgehend übersehen worden sei.

Kiesewetter: Ein Zufallsopfer? 

Für König-Preuss steht fest, dass das NSU-Unterstützernetzwerk mindestens mehrere Dutzend Personen umfasst hat oder noch immer umfasst, die wissentlich oder unwissentlich zum Entstehen des NSU beigetragen hätten. Mindestens hier treffen sich die Erfurter Erkenntnisse mit denen aus zwei Stuttgarter Ausschüssen. Auch Wolfgang Drexler, ihr inzwischen aus dem Landtag ausgeschiedener Vorsitzender, beklagt, dass ein Täterumfeld nicht hat ermittelt werden können.

In einer für Baden-Württemberg zentralen Frage allerdings kommen die Abgeordneten aus beiden Ländern zu unterschiedlichen Bewertungen. Denn Drexler bleibt dabei, dass eine Ausspähung im Vorfeld "ganz unwahrscheinlich" ist. Denn: Wäre Kiesewetter kein Zufallsopfer, hätte im Vorfeld von der rechtsextremen Szene ausgespäht werden müssen, wann und wie sie sich nach und in Heilbronn bewegt, von den Mittagspausen-Gepflogenheiten ganz zu schweigen. Also gilt der Umkehrschluss.

Den wollen die ParlamentarierInnen in Thüringen aber gerade nicht ziehen. Weil die aus Oberweißenbach stammende Bereitschaftspolizistin auch in Kriminalitätsbereichen mit Berührungspunkten zu rechtsextremen Straftätern eingesetzt wurde, sei ein sich daraus ergebendes "mögliches Motiv" nicht auszuschließen. Zugleich räumten die Obleute aber ein, dass eine ausführliche Befassung aus Zeitgründen nicht stattfand. Schon nach dem Ausschuss von 2014 tauchten "diffuse Hinweise" auf, "eine Reihe von (scheinbaren) Zufälligkeiten und Querverbindungen, die eine zielgerichtete Ermordung Michèle Kiesewetters zwar nicht belegen können, aber den Untersuchungsausschuss zu der Ansicht gelangen lassen, dass dies bisher nicht ausgeschlossen werden kann und weiterer Recherche bedarf". Daran hat sich bis 2019 nichts geändert.

Petra Häffner, Obfrau im zweiten Stuttgarter Gremium, sieht trotz des Appells der Thüringer KollegInnen keinen konkreten Handlungsbedarf. "Die Frage nach einem dritten Untersuchungsausschuss stellt sich mit Blick auf die zuletzt in Thüringen aufgeworfenen Fragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht", sagt die Grüne. Der zweite Ausschuss in Baden-Württemberg habe in 121 Stunden und 28 Sitzungen insgesamt 78 Zeuginnen und Zeugen befragt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass Mundlos und Böhnhardt am Tatort Theresienwiese waren und dass "die beiden Polizisten als zufällige Opfer ausgewählt" worden seien. Und ein Sprecher ihrer Fraktion hält es für wenig überraschend, dass zwei voneinander unabhängige Ausschüsse bei unterschiedlichen Ausgangslagen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Die Kanzlerin sagt, wir vergessen zu schnell

Der Vorschlag aus Erfurt, alle NSU-Akten an einer zentralen Stelle zu deponieren, ist nach Meinung der Schorndorfer Polizeiexpertin allerdings in jedem Fall richtig und ein "umfassender Ansatz nötig, um im Dickicht unzähliger Aktennotizen neue Erkenntnisse zum NSU-Komplex zu Tage zu fördern". Ohnehin hätten die Grünen bereits ein wissenschaftliches Zentrum zur Erforschung und Dokumentation des Rechtsextremismus vorgeschlagen, angedockt an einer Hochschule in Baden-Württemberg.

Ein Fingerzeig, wie weiter vorgegangen werden könnte, geht auch auf die Gedenkfeier und die Kanzlerin zurück. Denn Angela Merkel hatte daran erinnert, wie "manchmal Berichte über skrupellose rechtsextremistische Gewalttäter aufrütteln und für einige Tage die Schlagzeilen der Nachrichten bestimmen". Und weiter: "Wir vergessen zu schnell – viel zu schnell. Wir verdrängen, was mitten unter uns geschieht; vielleicht, weil wir zu beschäftigt sind mit anderem; vielleicht, weil wir uns ohnmächtig fühlen gegenüber dem, was um uns geschieht." Die Linke König-Preuss verlangt als Strategie gegen dieses Vergessen die Errichtung eines bundesweiten NSU-Archivs, mit dem Aufklärung und Aufarbeitung des NSU unterstützt werden soll – die nämlich sei eine "gesamtgesellschaftliche Aufgabe".

Viele WächterInnen gegen rechts im Netz sehen gerade Ramelow in der Pflicht. "Es kommt nicht aus dem Nichts und es verschwindet nicht einfach, wenn wir nicht hinsehen, wenn wir nicht genau hinsehen, wenn wir nicht nachspüren, was passiert ist", sagte der Thüringer Regierungschef eben erst in einer vielbeachteten Rede zum Rechtsextremismus. Er erinnere sich, wie ihm "ein Polizist, ein gut ausgebildeter Polizeibeamter, völlig unverdächtig, parteipolitisch in irgendeiner Ecke zu stehen, gesagt hat: Das Geschehen, das rund um die Ermordung von Michèle Kiesewetter festzustellen ist, stimmt nicht mit dem überein, was immer wieder in den Ergebnissen aufgezeigt worden ist". Er könne andere Bundesländer und Parlamente nur auffordern und ermuntern, sich ihrer eigenen Verantwortung zu stellen. Denn: "Die Geschichte ist nicht zu Ende erzählt."


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