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Villeroy & Bloch

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Wo Leerstand war, ist Leben eingekehrt: Seit gut einem Monat haben AktivistInnen ein Haus in Tübingen besetzt, das zwei Jahrzehnte lang verwahrloste. Die Stadtverwaltung unterstützt die Aktion um die "Gartensia" und so könnte, ganz pragmatisch, bezahlbarer Wohnraum entstehen.

Wildwuchs ist rar geworden, die Pflanzenwelt wächst heutzutage nur noch unter Aufsicht. In Tübingen aber lässt sich noch ein kleines Stück unberührter Natur bestaunen: Ganz nahe am Neckar, in der Gartenstraße 7, rankt Efeu um rostige Geländer, wildes Wurzelwerk sprengt ein paar steinerne Treppenstufen und von Menschenhand unbehelligt sprießen Büsche, Bäume und Sträucher meterhoch in die Luft, bilden ein dichtes Dickicht. "Jetzt liegt es an uns, den Dschungel zurückzuschlagen", grinst ein zauseliger Blondschopf, der Kolibri genannt werden möchte. Er gehört zum Kollektiv der "Gartensia", die das verwilderte Grundstück im Herzen der Stadt seit gut einem Monat besetzt hat und den dazugehörigen menschenleeren Wohnraum wieder einer praktischen Funktion zuführen will.

Seitdem ist ein schmaler Pfad, der sich durch den Garten schlängelt, wieder begehbar. Kurvenreich führt er vom heruntergekommenen Hauptgebäude mit der bröckeligen Fassade über eine Terrasse, aus deren Fugen so viel Kraut wuchert, dass sie erst einmal wiederentdeckt werden musste. Und schließlich landen abenteuerlustige Garten-Expediteure bei einer schnuckeligen, kleinen Holzhütte, wo "wir schon viele schöne Abende verbracht und den Mond angeheult haben", wie Kolibri erzählt. Ihm und seinen Gleichgesinnten sei es "ein Herzensanliegen", etwas aus dem brachliegenden Potenzial der Gartenstraße 7 zu machen – die steht schon so lange leer, dass niemand mehr so genau weiß, wie lange sie eigentlich schon leer steht.

Überliefert ist jedenfalls, wie dort bis 1998 ein gehobener Porzellanladen im Erdgeschoss residierte. Einige Keramikstücke, etwa ein 2000 D-Mark teurer Kachelofen, blieben noch ein bisschen länger, und setzten über die Jahrzehnte dicke Staubschichten an. Als am 19. Juli 2019, mehr als 20 Jahre später, die HausbesetzerInnen einzogen, putzten und aufräumten, "haben wir alles an einem sicheren Ort verstaut", berichtet Emmi, die dabei war, als durch die schmutzbefreiten Schaufenster zur Straße hin erstmals nach all den Jahren wieder ein bisschen Sonnenlicht drang. Der pflegliche Umgang mit dem Inventar habe auch die Eigentümerin und ihren Makler etwas beruhigt. Die waren anfangs entsetzt, sahen aber nach vielen Gesprächen von einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch ab.

Nun füllt ein kleines Café das Erdgeschoss mit Leben. Welche Musik läuft, wird basisdemokratisch entschieden, die Kuchen- und Kaffeepreise obliegen dem Ermessen der KundInnen, alles läuft auf Spendenbasis. "Es soll ein Ort ohne Konsumzwang sein", erklärt Emmi, davon gebe es zu wenige in Tübingen, vor allem bei schlechtem Wetter. An die alte Einrichtung erinnern noch ein paar  Regale und eine vorsintflutliche Registrierkasse. Neu sind Tische, Stühle und eine knallbunte Kinderecke mit plüschigen Stofftieren und vielen Brettspielen. Es gibt einen Umsonstladen, der auf Tauschbasis funktioniert, und eine Zeitungsecke, in der neben linken Medien wie "Analyse & Kritik" oder der "Graswurzelrevolution" auch die "Stuttgarter Nachrichten" und die FAZ ausliegen. Eine Treppe höher, in der neu bestückten Hausbibliothek, schmökern Interessierte in Noam Chomskys "Anatomie der Macht" oder in Ingrid Nolls "Der Hahn ist tot", Freizeit-Philologen können bei Bedarf mit einem zweisprachigen Cicero ("Vom höchsten Gut und dem größten Übel") ihre Lateinkenntnisse auffrischen.

Spießiger geht kaum

"Klar, das ist schon eine linke Aktion", meint Emmi und fügt dann lächelnd hinzu: "Aber spießiger kann man ein Haus wohl kaum besetzten." Wer rein will, muss sich einem strikten Rauchverbot unterwerfen, und der große Plenarsaal darf nur ohne Schuhe betreten werden. Beim Doppelkopf-Stammtisch ist "die Bude immer voll", Kolibri erzählt mit breiten Grinsen, wie es neulich sogar eine richtige Weinprobe gab: "Da trinken dann natürlich alle mit abgespreiztem Finger."

Während viele die klassische Hausbesetzer-Ästhetik mit vermummten Anarchisten und brennenden Bengalos assoziieren, will das Gartensia-Kollektiv laut Emmi "positiv besetzen". Deswegen ist alles einladend gestaltet. Auch der Makler, sagt sie, sei "ganz verwundert gewesen, wie umgänglich wir sind". Während der anfangs "nicht so begeistert" war, dass eine Immobilie, die er vermarkten soll, nun ganz ohne sein Zutun bewohnt wird, könne man mittlerweile ernsthaft miteinander verhandeln.

Einen Anteil daran trägt auch die Stadtverwaltung, die für ihre "Tübinger Linie" bekannt ist und vermittelte: Wenn langjähriger Leerstand durch eine Besetzung endet, bemüht man sich hier, einvernehmliche Lösungen zu finden. "Bis heute war noch kein einziger uniformierter Beamter vor Ort", berichtet Emmi, "wahrscheinlich kann man in keiner anderen Stadt so entspannt besetzen." Selbst Oberbürgermeister Boris Palmer, momentan eher weniger bekannt für kluge Beiträge, schreibt auf Facebook, die Aktion sei zwar "rein rechtlich illegal". Aber: "Das Problem ist hier die Rechtslage."

Eine kleine Galerie mit erfolgreichen Beispielen, wie frühere Hausbesetzungen der Stadt zu mehr Wohnraum verholfen haben, ziert den Flur im zweiten Obergeschoss. Hier ist nicht nur der große Saal, in dem das Plenum tagt ("Jeder hat das gleiche Stimmrecht, egal ob jemand das aller erste Mal auftaucht oder von Anfang an dabei ist"). Es gibt auch eine große Gemeinschaftsküche und ein paar Schlafräume ("Am besten meldet man sich an, bevor man sich hinflachst"). Mit einem Architekten haben sich die AktivistInnen bereits zusammengesetzt, um den Grundriss zu überdenken: Nach ihren aktuellen Vorstellungen wollen sie auf den 480 Quadratmetern Wohnfläche mindestens 20 Personen unterbringen.

Noble Keramik und Neomarxismus

Ob das klappt, ist auch eine Frage des Preises. Finanziert werden soll der Hauskauf über das Modell des Mietshäusersyndikats: Gemeinsam nähmen die AktivistInnen einen Kredit auf, der später über sozialverträgliche Mieteinnahmen beglichen würde. Dafür gibt es sogar schon einen eingetragen Verein: "Villeroy & Bloch", benannt nach nobler Keramik und Ernst, dem neomarxistischen Theoretiker aus Tübingen. Im September sind Verhandlungen zwischen dem Makler, den BesetzerInnen und der Stadtverwaltung geplant. Letztere ist dem Projekt gewogen: der jahrzehntelange Leerstand in der Gartenstraße 7 war ein zentraler Grund für den Gemeinderat, 2016 ein Zweckentfremdungsverbot zu beschließen. Wenn Häuser mehr als sechs Monate ohne guten Grund nicht bewohnt werden, kann die Stadt seitdem Bußgelder in fünfstelliger Höhe verhängen.

Problem: Das Verbot darf nicht rückwirkend angewandt werden. Häuser, die schon sehr lange ohne Konsequenzen leer stehen, können das auch weiterhin. Um das zu ändern, müsste das Gesetz auf Landesebene angepasst werden, doch die zuständige Ministerin, Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), signalisierte bislang keine Bereitschaft, am gegebenen Zustand zu rütteln. "Mir sind die Hände gebunden", schreibt der Tübinger OB auf Facebook, "der Zivilgesellschaft bleibt der Ungehorsam."

Eine durchaus bemerkenswerte Position. In Stuttgart etwa fürchtete das Ordnungsamt, durch eine Duldung krimineller Aktivitäten könne sich ein Zustand verfestigen, der die öffentliche Sicherheit gefährdet. So ließ die Stadt im April dieses Jahres ein besetztes Haus in der Forststraße 140 räumen, noch bevor es einen entsprechenden Gerichtsbeschluss gab.

Im Café der "Gartensia" deutet wenig auf Krawall hin. Emmi, 25, erzählt ein bisschen aus der überlieferten Kulturgeschichte der Hausbesetzungen. Beispielsweise, wie in früheren Zeiten männliche Besetzer betrunken auf dem Fußboden pennten, während ihnen die Frauen hinterherputzen durften. Emmi schmunzelt: "Da sind wir zum Glück ein bisschen weiter", sagt sie und erzählt, wie ältere Semester eher dazu neigen, die Situation pragmatisch zu beurteilen: Manche Leute suchen eine Wohnung, andere haben keine Verwendung für ihre – und wenn sich dann von selbst nichts tut, muss man halt nachhelfen. Das sei sogar unter nicht-linken TübingerInnen eine Art Konsens. Bei den Jüngeren heiße es hingegen meist: "Aber, aber das Eigentum ..."

Dass letzteres auch verpflichtet, etwas für's Allgemeinwohl zu tun, ist zwar keine Neuigkeit. Wird aber so oft vergessen, dass es kaum schaden kann, hier noch einmal daran zu erinnern.


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3 Kommentare verfügbar

  • Friedrich Helmke
    am 30.08.2019
    Antworten
    Ich habe 1968 (das Protestjahr) bis 72 in Tübingen gewohnt und in dem Haus oder dem danebem wohnte ein Freund von mir. 50 Jahre später lese ich jetzt von Brasilien aus ihren Bericht. Ich bin total beeindruckt und versuche immer noch die richtigen Worte für diese neue Generation von radikalen…
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