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Sindelfingen rockt zurück

Sindelfingen rockt zurück
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Sindelfingen bei Stuttgart ist weltweit bekannt. Allerdings für sein Daimler-Werk und nicht für den zivilen Ungehorsam der Einheimischen. Das hat sich geändert.

Das Highlight ist der Mann mit der Kettensäge im Fahrradkorb. Zwecks Polizeipräsenz unter einer Decke versteckt, hat er das Teil auf den Sindelfinger Marktplatz gefahren. Nur den Motor, ohne Sägeblatt. Aber der ist laut genug. "Können Sie die nochmal anwerfen?", fragt eine Frau, ein junger Mann filmt. Das muss man festhalten, wenn da schon die größte Demo in Sindelfingen steigt seit, ja seit wann eigentlich?

Dann brüllt die Säge los, volle Pulle in den Nachthimmel, dutzende Vuvuzelas tröten, Töpfe werden geschlagen, Rätschen gedreht, einer ist mit der Harley da und gibt ordentlich Gas. Es ist halb elf am Mittwochabend der vergangenen Woche, rund 1000 Demonstrantinnen sind auf den Sindelfinger Marktplatz gekommen. Und es ist LAUT.

Eigentlich sollte dort an diesem Abend das erste Konzert der Reihe "Sindelfingen rockt" steigen. Insgesamt an fünf Mittwochabenden in den Sommerferien spielt jeweils eine Tribute Band den Sindelfingern live ordentlichen Rock auf die Ohren. "Bigger Bang" waren schon zweimal da, die Band hat sich den Rolling Stones verschrieben, 2017 spielte unter anderem "Quotime" (Status Quo) und "Mothership" (Led Zeppelin), im vergangenen Jahr gabs mit den "Cosmic Banditos" ein Pink Floyd-Tribut und die "Big Balls" gaben AC/DC.

Seit 2015 gibt es die Konzertreihe. Damals umsonst und draußen von der Stadt angelegt, um den Daheimgebliebenen in den Sommerferien etwas zu bieten. Im Herzen der Stadt, wohlgemerkt, auf dem Marktplatz. Etwa 5000 Gäste kamen zu jedem Konzert. Das ist viel für eine Stadt mit 65 000 Einwohnern. "Sindelfingen rockt" gehört mittlerweile, sagen die Sindelfinger, zum Stadtleben dazu.

2017 ging der erste Beschwerdebrief bei der Stadt ein. Es sei zu laut, befanden einige wenige Marktplatzanwohner. 2018 ging der Streit in die nächste Runde. Die Stadt arbeitete mit Tontechnikern daran, die Lautstärke so zu dimmen, dass die Besucher auf ihre Kosten kommen, die Anwohner aber geschont werden, und verlegte den Konzertbeginn für diesen Sommer um eine halbe Stunde vor auf 18 Uhr. Abends um halb zehn wäre Zapfenstreich gewesen. Half aber nichts. Auch nicht die Hotelgutscheine, die die Stadt den vermeintlich Lärmgeplagten sponsern wollte, damit sie die fünf besagten Abende andernorts in Stille verbringen können. Im Gegenteil.

Eine Anwohnerin bangt um ihre körperliche Unversehrtheit

Am vergangenen Mittwoch sollten eigentlich die Phil-Collins-Genesis-Interpreten "True Collins" spielen, aber kurz vor knapp sagte die Stadt das Konzert ab. Vier Klagen waren beim Verwaltungsgericht Stuttgart eingegangen, drei Immobilienbesitzer im weiteren Umkreis des Marktplatzes klagten unter anderem, dass sie durch die Konzerte in ihren Eigentumsrechten an umliegenden Immobilien beeinträchtigt seien, eine direkte Anwohnerin, weil sie durch Konzertlärm ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit unterlaufen sieht. In einer Eilentscheidung hatte das Gericht der letzteren Klage Recht gegeben und die Konzertreihe auf dem Marktplatz gekippt. Möbel Hofmeister am Stadtrand bot kurzfristig seinen Parkplatz an und so rockten die Phil Collinse an diesem Abend im Industriegebiet anstatt mitten in der Stadt.

Mehr als 30 Seiten umfasst die Urteilsbegründung der Stuttgarter Verwaltungsrichter. Es geht um Dezibelgrenzen unter diversen Gesichtspunkten und zu unterschiedlichen Tageszeiten, Richtwerte von Freizeitrichtlinien, um Lärmschutzgutachten, um Emissionsregelungen für Freizeitanlagen, um den Mindestversorgungspegel im Publikumsbereich, damit ein Live-Konzert auch ein Event wird.

Letzterer ist vor allem deshalb zu betonen, weil es sich bei "Sindelfingen rockt" – der Name lässt es vermuten – um Rockmusik handelt, die, so schreibt das Gericht, "vom Publikum nur dann als solche gut angenommen wird, wenn sie den für Rockkonzerte typischen Lautstärkepegel erreicht". Zudem erfordere die Dramaturgie eines solchen Konzerts, dass es zum Schluss hin lauter würde, was aber dem abendlichen Ruhebedürfnis der klagenden Anwohnerin entgegenstehe. Die Stadt Sindelfingen habe nicht genügend geprüft, ob es nicht auch eine leisere Musikrichtung täte, die Event-Reihe sei zudem nicht "standortgebunden" und könne an einer weniger "konfliktträchtigen Stelle" als in der Innenstadt stattfinden. Der Anwohnerin sei nicht zuzumuten "mithin bei möglicherweise hochsommerlichen Temperaturen, mittwochabends die Fenster ihrer Wohnung geschlossen zu halten, um von der Lärmbelastung nicht in vollem Umfang getroffen zu werden, noch sich an fünf Abenden im Juli und August an einem anderen Ort aufzuhalten".

Außerdem fänden an besagtem Marktplatz "zahlreiche weitere Veranstaltungen statt": Das Internationale Straßenfest an drei Tagen im Jahr. Drei Tage Schlemmermarkt, zwei Tage Feuerabend, eine lange Einkaufsnacht. Die Anzahl "seltener Veranstaltungen" in Sindelfingen beliefe sich insgesamt auf 13 Tage im Jahr. Zulässig sind 18. Allerdings, so urteilt das Gericht, würde der Platz auch noch "unterschwellig" bespielt: mit dem Krämermarkt, dem Weihnachtsmarkt, dem Weindörfle. "Sindelfingen rockt" sei betreffender Anwohnerin da nicht auch noch zumutbar.

Fassungslos war nicht nur der Sindelfinger Oberbürgermeister Bernd Vöhringer (CDU). Der meldete sich per Facebook zu Wort: "Ich bin maßlos enttäuscht...eine lebendige Stadtmitte ist eine aktive Stadtmitte – und dazu gehören eben auch Veranstaltungen...Ich werde für Sindelfingen rockt kämpfen."

Fassungslos saß auch der "Sindelfingen rockt"-Fan Jörg Mornhinweg mit seinen vier Kumpels beim Bier in der Kneipe. Einer davon sei ein "Alt-68er", erzählt Mornhinweg mit einem Schmunzeln. Pensionierter Lehrer. Der fand: "Da müssen wir uns wehren. Wir müssen eine Demo machen." Nach Mornhinwegs Erinnerung stand daraufhin ein großes Fragezeichen über dem Biertisch: Wie Demo? Denn Sindelfingen ist zwar bekannt für Daimler, aber sicher nicht für Demonstrationen und zivilen Ungehorsam. Und so bot sich der Demo-erfahrene Lehrer an, einen Aufruf zu schreiben: "Wir fordern alle Sindelfingerinnen und Sindelfinger auf, sich – als Zeichen des Protestes – am Mittwoch, 31. Juli, um 22.30 Uhr auf dem Marktplatz zu versammeln. Bringt Instrumente, Töpfe, Musikanlagen . . . und sonstiges mit . . . und feiert mit uns gemeinsam ein Fest. Sifi lebt und lässt sich nicht kleinkriegen?!!!!" Das schickten die Freunde zuerst an alle persönlichen Whats-App-Kontakte, dann über Facebook in die Welt.

Das Teil ging viral. Bereits am späten Mittwoch-Nachmittag marschierten "Die Assis" e.V. auf – "Alternative Skate und Sound Interessenten Sindelfingen" – mit Kumpels aus der örtlichen Anarcho-Kneipe Traube, Bierkästen und Plakaten: "Phil Collins Ultras" stand darauf. Oder: "Stadtleben statt Langeweile".

Eine Ladenbesitzerin am Marktplatz organisierte gemeinsam mit einem CDU-Stadtrat Lautsprecher und beschallte die Umgebung mit "In the Air tonight". Die Band "Diebische Elstern" spielte ein Spontan-Konzert, ab halb zehn liefen die Abend-Demonstranten ein. Gegen halb elf waren es um die 1000, aller Couleur und jeglichen Alters. Mit Trillerpfeifen, Fußballgesängen und viel Gejohle.

Die Lokalpresse steht auch voll auf Rock

Auch Ludwig Schmauder, 20 Jahre alt, und seine Kumpels sind gekommen. Und ihnen fehlt: Musik! Die Stromverteiler am Platz haben tatsächlich Saft, stellen sie fest, und wenige Minuten später steht da ein Boxenturm der jungen Event-Veranstalter und schmettert "The Show must go ohohon!" Mittlerweile ist auch Sindelfingens OB eingelaufen, mit ungläubigem Grinsen. "Wir hatten schon Angst", sagt Schmauder, "dass es nun richtig Stress gibt, weil wir den städtischen Strom angezapft haben." Aber OB Vöhringer lässt sich ein Mikrophon an die Boxen anschließen und ruft den Sindelfingern zu: "Ich bin stolz auf euch!" Kurz darauf steht er dann, das bürgermeisterliche Jackett abwerfend, in der Demo-Menge und legt zu Footloose selber eine flotte Sohle ein. Kurz nach Mitternacht ist Schluss. Und Jörg Mornhinweg ist begeistert: "Das war eine Mega Aktion, damit haben wir nie im Leben gerechnet."

Die örtliche Presse feiert die Spontan-Demo und überschlägt sich schier vor zustimmenden Kommentaren und Berichten: "Wer es in der Stadtmitte nicht erträgt, dass bis 21.30 Uhr eine geordnete Musikveranstaltung über die Bühne geht, hat kein Mitleid verdient, wenn auch die ‚Sindelfingen rockt’-Fans von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen." Oder: "'So was hat Sindelfingen noch nie gesehn' - Riesige Menschenmenge verwandelt den Marktplatz zur Freiluft-Disco und kämpft lautstark dafür, dass das Herz der Stadt weiterrockt".

Wie es mit der Konzert-Reihe weitergeht, bleibt abzuwarten. Die Stadt Sindelfingen hat beim Verwaltungsgericht Beschwerde gegen das Urteil eingereicht. Die vier Kläger allerdings dürften Lunte gerochen haben. Denn wo einer vor Gericht gewinnt, ist doch sicher mehr rauszuholen. Offenbar, so munkelt man in der Stadtgesellschaft, habe sich das Ganze zu etwas Persönlichem ausgewachsen. Bereits im März, berichtet die Lokalzeitung, fanden sich in den Briefkästen der Immobilienbesitzer rund um den Marktplatz Briefe: "In den vergangenen Jahren nahmen die Veranstaltungen in der Innenstadt und um den Marktplatz immer mehr zu. Lärm, Dreck und Gestank sind für uns Anwohner schon immer unerträglich." Jetzt geht’s quasi ums Prinzip. Jörg Mornhinweg jedenfalls hat für diesen Mittwoch, wieder ab 22:30 Uhr,  schon die nächste Demo angemeldet. Mittlerweile nennt er sie die "'Das-kann-doch-nicht-wahr-sein!'-Protest-Bewegung".


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10 Kommentare verfügbar

  • Dr. Diethelm Gscheidle
    am 08.08.2019
    Antworten
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ich bin vollkommen fassungslos! Redliche Anwohner des Marktplatzes haben selbstverständlich ein Recht darauf, nicht mit böser Felsen"musik" zwangsbeschallt zu werden! Es kann doch nicht sein, dass unredliche Krachmacher regelmäßig in Sindelfingen eine Bühne für ihre…
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