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Möbel als Brücken

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Unter der Paulinenbrücke am Österreichischen Platz in Stuttgart haben zwei Architekturstudenten ein Stadtregal aufgebaut, ein multifunktionales Möbel, das verschiedene Menschen zusammenbringt: Studierende und Passanten, aber auch Obdachlose und Drogenabhängige.

Es ist immer etwas los unter der Paulinenbrücke. Seit einem Jahr hat der Gemeinderat der Stadt Stuttgart den Raum unter der Stadtautobahn dem Architekturnetzwerk Stadtlücken überlassen. Vieles hat dort seitdem stattgefunden: Diskussionen, Qi Gong, öffentliches Frühstück, Sommerkino, Vorträge, Rollschuhdisco, Flohmarkt. Tischtennisplatten stehen da. Beim Christopher Street Day am 27. Juli war großes Gedränge. Am vergangenen Freitag hat hier zum Ausklang der Fahrradrundfahrt "Critical Mass" die "After-Mass" stattgefunden.

Seit das Projekt im November 2019 beim bundesweiten Wettbewerb "Europäische Stadt: Wandel und Werte – Erfolgreiche Entwicklung aus dem Bestand" einen ersten Preis gewonnen hat, sind auch viele Gemeinderäte zu Recht stolz. Der Österreichische Platz gilt als Vorzeigeprojekt für einen neuen Umgang mit dem Stadtraum. "Wem gehört die Stadt?", wollen die Leute von Stadtlücken wissen. Darüber diskutieren sie öffentlich seit drei Jahren in der Reihe "Einmal im Monat". Im März ging es etwa um die Frage: Wo wohnen eigentlich Obdachlose?

Ali Haji und Felix Haußmann, zwei Architekturstudenten der Uni Stuttgart, haben das Projekt nun noch einmal radikalisiert. Denn Sommerkino und Tanzveranstaltungen mit hippen jungen Leuten, das mag zwar auch den Gemeinderäten gefallen. Aber es beantwortet noch nicht die Frage der Stadtlücken, wem denn nun die Stadt gehört. Unter der Paulinenbrücke war auch früher schon einiges los, wenn auch eher auf der anderen Straßenseite: Die kleine Grünanlage zwischen der Brücke und der Kirche St. Maria ist seit langer Zeit ein beliebter Treffpunkt von Obdachlosen, Drogenabhängigen oder Substituierten – also Menschen, die Drogenersatzstoffe wie Methadon bekommen - und denen, die hier nur "die Russen" genannt werden: Spätaussiedlern also.

Ali Haji stammt aus dem Iran. Mit vollem Namen heißt er Hajinaghiyoun, aber er meint, selbst die Leute in seinem Heimatland hätten Schwierigkeiten, das auszusprechen. Er ist vor dreieinhalb Jahren zum Masterstudium nach Deutschland gekommen. Bereits vor zwei Jahren hat er mit Felix Haußmann im Rahmen des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur ein Parklet gebaut, also einen Parkplatz umfunktioniert. Und zwar vor St. Maria, weil dort damals die Abschlussveranstaltung der "Critical Mass" stattfand. Als die Architekturprofessorin Martina Baum im vergangenen Wintersemester zusammen mit den Stadtlücken ein Seminar über "provisorische Architektur" anbot, waren sie wieder dabei. Ihr Entwurf gewann mit zwei anderen einen Wettbewerb und eine Förderung von 8000 Euro.

Das Stadtregal wurde sofort intensiv genutzt

Hajis und Haußmanns Ansatz: ein Stadtmöbel zu bauen, das verschiedene gesellschaftliche Gruppen an einem Ort zusammenbringt. Seit dem 12. Juli steht nun das „Stadtregal“ unter der Brücke. Es besteht aus einer ausziehbaren Küchenzeile mit Herd und Spüle, einem „Fairteiler“ für vor dem Müll gerettete Lebensmittel samt Kühlschrank, einem Medizinschrank, einer Sitzbank, einem Bett und einer Leihstation für die Initiative Freies Lastenrad Stuttgart.

Und es wurde von Anfang an intensiv genutzt. Zuerst hat Micha, ein Substituierter, immer für alle Kaffee gekocht. Er kam von selbst auf die Idee mit der Spendenbox, also jeden um 20 Cent zu bitten, damit er wieder neuen Kaffee holen kann. Das Problem war die Milch: Die Wohnsitzlosen und Drogenabhängigen, die sich hier treffen, haben im Gerber gegenüber fast alle Hausverbot.

„Wie lange gibt’s das hier noch?“ will ein Mann wissen. Man kann sich nicht lange ungestört unterhalten. Mal hat der eine, dann wieder der andere eine Frage, Außenstehende ebenso wie die unter der Brücke. „Nur noch bis nächsten Mittwoch“, sagt Felix, und Ali unterhält sich noch ein wenig mit ihm. Einer fragt nach den Stadtlücken. Er bietet Musikperformances an: Ambient, auch tagsüber, die Lautstärke sei variabel.

Micha hat auch von Anfang an das Bett genutzt, mit seiner Freundin. In der Unterkunft, wo er sonst nächtigt, war das schwierig: ein Spießrutenlauf. Er war Ali und Felix unendlich dankbar, so sehr, dass es Felix schon unangenehm war. Inzwischen hat er einen Job in einem Fahrradladen gefunden. Seine Rolle hat aber Sammy mit Begeisterung übernommen. Er kann damit gleichzeitig Sozialstunden absolvieren. Das Bett ist nachts immer belegt, manchmal auch von mehreren. Einmal kam es zum Konflikt, als sich Luigi beschwert hat, Franky habe es unaufgeräumt hinterlassen. Seitdem gibt es eine Liste, in die man sich eintragen muss. Mit schräg gestellten Lamellen ist das Bett so gebaut, dass man, wenn man direkt davor steht, hinein sehen kann, aber von der Straße her nicht.

Den Medizinschrank bestückt der Verein Release, der sich um Drogenabhängige kümmert. Dass man hier ein Lastenrad ausleihen kann, musste sich erst herumsprechen. Den "Fairteiler" füllt die Initiative Foodsharing immer wieder nach. Jeder kann mitmachen, man muss sich nur registrieren. Immer am Dienstagabend hat die Initiative Commons Kitchen am Stadtregal gekocht, für alle. Aber nicht nur sie nutzt diese Möglichkeit. "Wo das Treffen, die soziale Mischung stattfindet, ist hier", sagt Felix und weist auf die Ecke zwischen Küche und Kühlschrank.

Wissenschaftliche Forschung in 24-Stunden-Schichten

Die soziale Mischung, darauf kommt es den beiden Architekturstudenten an. Da ihr Projekt im Rahmen des Reallabors stattfindet, ist es ein Realexperiment. Das bedeutet, die Wissenschaft – also die beiden Studenten – untersuchen in einem Praxisexperiment mit zivilen Partnern bestimmte Fragestellungen. Die Partner sind hier Release, Caritas, die Kirche St. Maria, die Initiativen Freies Lastenrad, Foodsharing und Commons Kitchen. Die Frage lautet: Ist ein solches Stadtregal in der Lage, unterschiedliche soziale Gruppen an einem Ort zusammenzubringen?

Ali will darüber seine Masterarbeit schreiben. Die sieben Kommilitoninnen und Kommilitonen, die beim Aufbau geholfen haben, haben in der ersten Zeit Aufzeichnungen angefertigt, wer das Stadtregal und den Platz wann und in welcher Weise nutzt. Aber Statistik ist nicht alles. In den vier Wochen, in denen das Stadtregal nun hier steht, ist unendlich viel passiert. Ali und Felix haben abwechselnd so manche 24-Stunden-Schicht unter der Brücke geschoben. Gefragt, wie sie dies aushalten, antwortet Felix nur: "Wir sind Architekten."

Zum wiederholten Mal kommt Mike und fragt, ob er am kommenden Mittwoch hier seinen Geburtstag feiern kann. Wann? Vormittags. So ab elf Uhr? Das geht. Um neun Uhr kommt die Kita aus dem Einkaufszentrum Gerber mit der mobilen Jugendarbeit zum Frühstück, so ungefähr bis halb elf. Auf einmal halten zwei Mannschaftswagen der Polizei. Zehn Beamtinnen und Beamte steigen aus. Sie kontrollieren die Ausweise von ungefähr ebenso vielen Personen. Iva ist noch ganz aufgeregt, weil ihr gerade erst eine Taube auf den Hut gekackt hat. Man könnte meinen, sie habe die Polizei gerufen, um die Taube zu verhaften.

Ein wenig suchen die Polizisten auch das Gelände ab, vielleicht nach Drogen. Einer stochert mit der Fußspitze im Kies vor dem "Boulderblöckle", der überhängenden Kletterwand, die gegenüber dem Stadtregal aufgebaut ist. Dann kommen ein paar junge Leute. Eine Frau klettert an der Wand ganz nach oben. Von der Polizei lassen sie sich nicht stören – soviel zur sozialen Mischung. Schließlich nehmen die Polizisten einen der "Russen" mit: einen schlanken Mann mit schickem weißem Hütchen, der, wie Felix erzählt, in der letzten Nacht im Bett geschlafen hat. Es ist nicht recht erkennbar warum, aber er bekommt Handschellen angelegt. Eine Frau verabschiedet sich von ihm mit Küsschen. Zwei Männer eilen herbei, um ihm jeweils einen Zehn-Euro-Schein zuzustecken.

Wie viel soziale Mischung hält die Stadt aus?

Polizei, Obdachlose und Drogenszene kennen sich. Früher wurde viel öfter kontrolliert, dann, als das Stadtregal aufgebaut war, kaum noch, sagt Felix. Häufig seien es junge Beamte, die hier erste praktische Erfahrungen sammeln. Es sei aber auch gut, wenn sie ab und zu kämen, denn andernfalls würden sich die richtigen Drogendealer breit machen. Die mit den Goldkettchen. Dann würde es unangenehm.

Wie viel soziale Mischung hält eine Stadtgesellschaft aus? Mehr als jede oder jeder Zehnte in Stuttgart ist überschuldet, hat keine Wohnung oder befindet sich sonstwie in einer prekären Situation. Das sind Zehntausende, die aber zum großen Teil unsichtbar bleiben. Dennoch wollen auch diese Menschen zusammenkommen, ein Bett haben, mal andere einladen können und feiern. Die meisten sehen weg, wenn sie Obdachlosen oder Drogenkonsumenten begegnen – das ist der erste Schritt, auch über die Probleme hinwegzusehen, die sie in ihre Lage gebracht haben.

Mit ihrem Stadtregal haben Ali und Felix viel getan, um auf diese Menschen aufmerksam zu machen. Und wer näher hinsieht, kann sich von ein paar Klischeevorstellungen gleich verabschieden. Diejenigen, die oft als faul oder verwahrlost stigmatisiert werden, kümmern sich um den Platz, räumen regelmäßig auf und greifen zum Besen. Es ist ihr Wohnzimmer, sagt Felix. Andere Nutzer und Passanten lassen sich im Regelfall nicht stören. Eher gehen sich die verschiedenen Gruppen aus dem Weg. "Wir sollten uns einig sein, dass wir uns nicht einig sind", hat Ali zur Eröffnung auf den Boden geschrieben: ein Zitat der Politologin Chantal Mouffe.

Unabhängig davon, wie Ali die Ergebnisse des Experiments in seiner Masterarbeit auswerten wird, hat das Stadtregal schon jetzt praktische Impulse gegeben: Die Projektpartner Caritas, Release und Commons Kitchen haben sich mit Vertretern der Stadt getroffen, um zu beratschlagen, "wie man das weiter transportieren kann", erklärt Felix. Ali kann bereits ein erstes Ergebnis ankündigen: ein "Fairteiler" für abgelaufene Lebensmittel darf auch nach Abbau des Stadtregals unter der Paulinenbrücke stehen bleiben. Falls sich Menschen finden, die Verantwortung übernehmen, und erst einmal bis September.


Info:

Am heutigen Mittwoch, den 7. August, um 19 Uhr findet unter der Paulinenbrücke eine Podiumsdiskussion statt, der Titel: „Wir müssen reden“. Auf dem Podium sind die BezirksvorsteherInnen Mitte und Süd, Veronika Kienzle und Raiko Grieb, Architektur-Professorin Martina Baum, Pastoralreferent Andréas Hofstetter-Straka von der Kirche St. Maria und der Initiator von Commons Kitchen Stuttgart, Matthias Murjahn. Moderiert wird die Veranstaltung von Kontext-Autor Dietrich Heißenbüttel.


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