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Es kühlt so grün

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Auch dieses Jahr werden Hitzerekorde gemessen. Und wer schwitzt, sucht Abhilfe durch Ventilatoren und Aircondition. Dabei gibt es längst kollektive und ökologische Möglichkeiten, die Temperaturen in Gebäuden zu senken. Stuttgart hat das allerdings verpennt. Schauen wir also mal auf fortschrittlichere Städte.

Klimaanlagen für Wohnungen und Büros sind der Renner der Saison. Und sie sind so ziemlich die schlechteste aller Varianten im Spannungsfeld zwischen Anpassung an den Klimawandel und dem Kampf dagegen. Dabei gibt es längst praktikable Lösungen wie Fernkälte und Fassadengrün.

Chemnitz und Paris, Gera, Wien, München, Berlin und Toronto sind Pioniere, zum Teil seit Jahrzehnten. Und sie sind ihrer Zeit weit voraus. Wenn es nach der Stuttgarter SPD geht, wird sich das schleunigst ändern. Sie möchte klären lassen, ob sich die Landeshauptstadt nicht einreihen könnte in die Avantgarde, die nicht nur im Winter mit Fernwärme heizt, sondern im Sommer mit Fernkälte kühlt. So wären auf unterschiedliche Art und Weise – mehrere Systeme sind längst serienreif – stromfressende Klimaanlagen zu ersetzen, in Unternehmen und Krankenhäusern, in Privatwohnungen und Unis.

Kalt wie eine Million Kühlschränke

"Eine nachhaltige Energiepolitik erfordert viele Maßnahmen", verlangt Martin Körner, der alte und neue SPD-Fraktionschef im Gemeinderat. Immer neue Hitzewellen böten Anlass zum Nachdenken, "wie wir die steigenden Verbräuche zur Kühlung von Gebäuden reduzieren". Sein Vorschlag: "Nach Wien schauen, wo ein hocheffizientes Fernkältenetz aufgebaut wird." Tatsächlich arbeiten in der Donaumetropole inzwischen zwölf Fernkältezentralen, um den CO2-Ausstoß drastisch zu senken. Zum Vergleich: Deren Leistung entspricht der von mehr als einer Million Kühlschränken, der Energieverbrauch ist allerdings um bis zu 90 Prozent geringer.

Das Wasser, das ins Netz gespeist wird, gekühlt durch Verdampfung bei niedrigem Druck, ist sechs Grad kalt. Kälte ist seit über zehn Jahren im Angebot der städtischen "Wien Energie". Versorgt werden eine Großklinik, Einkaufzentren und der neue Hauptbahnhof. Privatkunden sollen sich ab 2021 einklinken können. München wiederum betreibt ein Innenstadtnetz von fast 15 Kilometern Länge, mit einer Leistung von 12 Megawatt. Das entspricht dem  Jahresstrombedarf von 8000 Wohnhäusern. 

In Berlin werden Gebäude rund um den Potsdamer Platz kollektiv gekühlt, in Paris wird die Seine genutzt und in Toronto der riesige Lake Ontario. Chemnitz, in der DDR Karl-Marx-Stadt genannt, sammelt Erfahrungen seit Mitte der Siebziger Jahre. Eine Uni, das Opernhaus, Gerichtsgebäude und Supermärkte werden über ein vier Kilometer langes Netz durch Kälte aus Kompressionskältemaschinen bedient.  Inzwischen kommen wie in Wien Absorptionskältemaschinen zum Einsatz, betrieben mit der Abwärme des Heizkraftwerks. Eben jener Abwärme, die in hunderttausenden Städten auf dem Erdball ungenutzt entweicht.

Auch für Baden-Württemberg hätte das Thema längst aufgegriffen werden können. Schon 2009 staunte Ministerpräsident Günther Oettinger über die Kühlung auf dem Campus Hagenberg in Oberösterreich – unter anderem eines Softwareparks auf 6500 Quadratmetern – allein durch Abwärme von Computern. Bevor er solche Ideen im deutschen Südwesten vorantreiben konnte, wechselte er nach Brüssel in die EU-Kommission. Gekümmert hat sich um das Thema Fernkälte dann niemand mehr, nicht einmal von der bald folgenden grün-roten Koalition.  

Dabei ist von Kühlung viel die Rede in dem 180 Seiten starken Papier dieser Regierung zum Klimawandel. Verwendung finden soll sie in Ställen, auf Feldern und in Innenstädten, vorgeschlagen sind sogar Kühlstuben und Kühlwesten. Noch einmal lohnt der Blick in andere Städte, in denen – GenossenInnen, aufgemerkt! – massiv Dächer und Fassaden begrünt werden. Bisher haben SPD, CDU und FDP solche ohnehin weit gefassten Vorschriften in der Landesbauordnung wahlweise als Spinnerei oder als ideologische Verirrung der Grünen abgetan, wie üblich vorzugsweise von Verkehrsminister Winfried Hermann. Inzwischen müsste allerdings wenigstens den Umwelt- und KlimapolitikerInnen der anderen Parteien dämmern, wie richtig die Idee ist. Und wenn nicht, gilt Körners Appell: nach Wien schauen.

Nadelgehölz am Hochhaus

Begrünt wurde als Pilotprojekt bereits 2011 die gesamte Fassade der Abteilung 48 des Magistrats der Stadt Wien, wie die MA 48, zuständig für Abfallwirtschaft, Straßenreinigung und Fuhrpark, offiziell heißt. Mit durchschlagendem Erfolg und überraschenden Ergebnissen. Beschäftigte arbeiten in heißen Sommern gerne länger, weil es in den Büros angenehm kühl ist. Oder in Zahlen ausgedrückt: Eine nur 850 Quadratmeter große Wand ersetzt 75 Klimageräte mit 3000 Watt. Ein Strategieplan ist verabschiedet, in den nächsten Jahren werden viele öffentliche Gebäude begrünt, Bezirksämter ebenso wie Schulen, und Privatinitiativen werden gefördert.

Fassadengrün-VerächterInnen dürfen auch nach Mailand schauen, hoch an den berühmten Bosco Verticale, jenen Hochhäusern, an denen seit mehr als zehn Jahren Bäume wachsen. Stünden sie in einer Ebene nebeneinander, ergäbe dies eine bepflanzte Waldfläche von fast einem Hektar. Zu betrachten sind die weltberühmten italienischen Zwillingstürme auf Bildern in den beiden Durchgängen zu den Gleisen im Stuttgarter Hauptbahnhof, in denen Vorzeigeprojekte aus anderen Metropolen Lust auf Stuttgart 21 machen sollen - und doch nur die Absurdität des milliardenteuren Vorhabens illustrieren.

Da fügt es sich, dass die "teils absurden ideologischen Vorschriften, die auf dem Mist der Grünen gewachsen sind", so seinerzeit FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke, doch nicht abgeschafft wurden bei der Novellierung der Landesbauordnung. Für Wien wurde in einem ersten Schritt ein Potenzial an Fassaden und auf Dächern von 10 000 Hektar festgestellt. "Die Kühlleistung von begrünten Fassaden ist gigantisch", sagt Umweltstadträtin Ulli Sima, eine Genossin, und bietet Wien als "wirklich nachahmenswertes Vorbild" an.

Schade eigentlich, denn es könnte genau umgekehrt sein. Schon vor zwei Jahrzehnten, als anderswo konkret über großflächiges Fassadengrün nachgedacht wurde, vergab Landesumweltminister Ulrich Müller (CDU) einen Umweltpreis an den Konstanzer Gemüsegroßhandel "Fruchthof". Der hatte kurz zuvor im Zuge eines Firmenumbaus rund 0,2 Hektar Dach begrünt, konnte Nutzen und Kosten gegenrechnen und vor allem belegen, dass die Pflegekosten bei (umgerechnet) nicht einmal tausend Euro pro Jahr liegen. "Sie können sicher sein", gelobte Müller Preisträgern wie Publikum damals, "das wird Beispiel machen." Worte in den Wind gesprochen, so vergeudet wie die Abwärme, wenn sie nicht zur Fernkälte wird.


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4 Kommentare verfügbar

  • Susanne Jallow
    am 31.07.2019
    Antworten
    Stuttgart ist in so vielen Themen von gestern und wähnt sich immer noch als fortschrittlich und modern - Verkehr, Wohnen, Klima, Stuttgart 21 - dass man es eigentlich nur aufgeben kann.
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