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Wohnen wird überbewertet

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 Fotos: Jens Volle 

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Vier Wände um sich rum und ein echtes Dach über dem Kopf – das sind doch überholte Konzepte! Pflichtbewusste Musterbürger wollen lukrativen Investitionen nicht länger im Weg stehen und verlagern ihr Wohnzimmer auf die Straße.

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Für einen richtigen Fußball hat es nicht gereicht. Egal. Etwas abseits vom Geschehen stehen ein paar Nachwuchs-Ronaldos und jonglieren frohlockend mit einem leeren Tetra Pak Eistee, Geschmacksrichtung Pfirsich. Ein Stück weiter fläzen sich Interessierte und AktivistInnen mehr liegend als sitzend auf dem Boden herum, einige von ihnen breiten Teppiche und Isomatten aus, manche können sich sogar ein Zelt leisten. Schwermütig ertönt eine lakonische Trompete, erst allein, dann gesellt sich lebensfrohe Percussion dazu. Ein zufällig am Spektakel vorbeischlendernder Passant, dessen ratloser Blick auf fortgeschrittene Verworrenheit hindeutet, erkundigt sich, was zur Hölle hier los ist, und stellt, nachdem ihn Auskunftsfreudige aufklären, fest: "Hä, das is ja voll alternativ."

Am vergangenen Freitag hat das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS), zwei Tage vor den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg, einen eher unkonventionellen Ansatz präsentiert, um dem Problem schwindelerregend in die Höhe schießender Mieten Herr zu werden: Die Lösung laute, den Wohnraum einfach ganz abzuschaffen. Und stattdessen Plätze oder Flächen in der Stadt zu nutzen für das individuelle Daseins-Bedürfnis. "Am Anfang war ich auch skeptisch", räumt Andrea Schmidt ein, die das Event mitorganisiert und auf SÖS-Listenplatz 4 für den Stuttgarter Gemeinderat kandidiert hat. Doch die Vorzüge lägen auf der Hand. So braucht man in einer Stadt, in der niemand wohnt, keinen sozialen Wohnungsbau. Flächen werden frei für dringend benötigte Shopping-Malls und Konsumtempel wie das Milaneo – nur bedeutend größer! Außerdem könnten Investoren in der Stadt ohne Menschen endlich nach Herzenslust spekulieren, ohne dabei von lästigen Bewohnern ausgebremst zu werden. "Das Problem am Wohnen ist das Wohnen", fasst Schmidt ihre Analyse zusammen. Lange hält sie das nicht durch ohne zu lachen.

"Es gibt ja viele Veranstaltungen in Stuttgart, die die steigenden Mieten thematisieren", sagt Schmidt. "Das Problem ist bekannt." Also wollte sie mal eine andere Herangehensweise ausprobieren, eine satirische, "nichts so Bierernstes, die Entwicklungen sind ja schon traurig genug". Sie verweist daher auf den (fiktiven) Interessenverband "Lohnen statt Wohnen", der sich für mehr Immobilienspekulation und gegen günstige Mieten ausspricht. Unter dem Motto "Ich wollte eh aufhören zu wohnen" wurde der Marienplatz im Stuttgarter Süden schließlich zwölf Stunden lang belagert, vom späten Abend bis in die frühen Morgenstunden. Inklusive Übernachtungsmöglichkeiten für die ganz Hartgesottenen. Zu denen gehören neben Schmidt auch die beiden SÖS-Stadträte Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano, die, vom Wahlkampf sichtlich mitgenommen, die Nacht vor der Wahl in Zelten verbrachten.

Vermutlich hat Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) etwas ganz anderes gemeint, als er Stuttgarter Plätze vor gut zwei Jahren als "Wohnzimmer unserer Stadt" bezeichnete.


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