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Europa ohne Bürger

Europa ohne Bürger
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Europa ist bisher vor allem eine Wirtschaftsunion, ein Zusammenschluss von Nationalstaaten ohne gemeinsame Basis und Verfassung. Um den daraus erwachsenden Nationalismus innerhalb der EU zu überwinden, müssten nur Visionen aufgegriffen werden, die schon einmal formuliert wurden.

Unter dem Motto „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen Nationalismus“ fanden am vergangenen Sonntag in vielen Städten Demonstrationen statt, die einerseits mobilisieren wollten für die anstehende Wahl zum Europäischen Parlament, die andererseits auch eine deutliche Position gegen die rechtspopulistischen, rechtsextremen und europafeindlichen Parteien markieren sollten. Zugleich aber waren es auch Demonstrationen gegen den faktischen Zustand: Gegen den weiteren Ausbau der „Festung Europa“, gegen ein nur wirtschaftlich und fiskalisch ausgestaltetes Europa, das wenige Gewinner, aber viele Verlierer zum Resultat hat. Europa solle zu einem „solidarischen“, „sozialen“ und „geeinten“ Europa werden.

Ja, es ist richtig: Um diese Ziele erreichen zu können, ist eine Stärkung des Europäischen Parlaments durch eine hohe Wahlbeteiligung ein wichtiger Hebel. Aber dies reicht bei weitem nicht aus, um die in den vergangenen Jahren unübersehbar gewordenen Fehler in der Konstruktion der EU überwinden zu können.

Denn wie soll Nationalismus wirklich beseitigt werden können, wenn Europa auf der Souveränität von Nationalstaaten basiert? Diese werden doch ihre partikularen Interessen immer mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln durchzusetzen versuchen, auch wenn dadurch die Interessen anderer und nicht nur europäischer Staaten und deren Bevölkerungen massiv geschädigt werden. Nur ein Beispiel: Eines der zentralen Kriterien des Maastricht-Vertrages, dass das Haushaltsdefizit eines Staates nicht mehr als drei Prozent des Brutto-Inlands-Produktes überschreiten darf, wurde von Deutschland über viele Jahre (von 2001 bis 2005 sowie 2009 und 2010) nicht erfüllt. Aber unter Ausnutzung ihrer hegemonialen Macht konnten die jeweiligen Bundesregierungen unterbinden, dass gegen sie die in diesem Vertrag vorgesehenen Sanktionsmechanismen in Gang gesetzt wurden – um dann aber mit unnachsichtiger Härte ebendiese Sanktionsmechanismen gegen südeuropäische Staaten zur Anwendung zu bringen. Nationalismus in reinster Form.

Warum die Wirtschaft zuerst? Das lag an den Kriegserfahrungen

Vor diesem Hintergrund lohnt eine Erinnerung an die Vielfalt von Europa-Konzeptionen, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges angestoßen wurden. Der faktische Gründungsprozess der Europäischen Union ist nur die Umsetzung einer dieser Konzeptionen – und unter diesen die einzige, die die wirtschaftliche und fiskalische Einigung zum Ausgangspunkt nahm, mit dem Versprechen, dass danach auch eine politische Konstitution Europas stattfinden solle. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies bis heute nur ein Versprechen geblieben ist.

Warum stand überhaupt die wirtschaftliche Einigung am Anfang? Die Erfahrungen zweier Weltkriege ließen es allen damaligen politischen Akteuren als richtigen Weg erscheinen, zunächst die für eine Kriegsführung zentralen Wirtschaftsbereiche Kohle, Eisen und Stahl durch vertragliche Kooperationen europaweit so miteinander zu verflechten, dass ein einzelner Staat nicht mehr die Kapazitäten besaß, autonom über diese Rohstoffe verfügen zu können.

Es gab aber noch eine weitere, in der Perspektive der Verhinderung von Kriegen mindestens genauso wichtige Erfahrung: nämlich das Scheitern des Völkerbundes, der auf vertraglichen Regelungen zwischen souveränen Nationalstaaten basierte. Dieses Verständnis von Souveränität beinhaltet, dass es jedem anderen Staat verboten ist, ja einen Bruch des Völkerrechts darstellt, sich in die „inneren Belange“ eines Nationalstaates einzumischen.

Es war nicht nur Hannah Arendt, die sehr früh in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ das Ende von Nationalstaaten diagnostizierte, dies war vielmehr auch der Ansatzpunkt aller anderen, über eine bloße wirtschaftliche Einigung hinausgehenden Europa-Konzeptionen: Wie kann Europa jenseits von Nationalstaatlichkeit verfasst sein? Welche anderen Formen von Staatlichkeit gibt es, und in welcher Verfassungsform können sie ausgestaltet werden? Der Ausgangspunkt dieser Europa-Ideen ist also ein politischer Konstitutionsprozess, der zwar auch eine wirtschaftliche und fiskalische Kooperation und Einigung beinhaltet; diese sind aber dem Prozess der politischen Einigung nachgeordnet.

An Europa-Konzepten besteht kein Mangel

Schon kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges versuchte der japanisch-österreichische Philosoph und Politiker Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894-1972) mit der Gründung der Paneuropa-Union einen solchen politischen Konstitutionsprozess voranzutreiben. Dieser sollte als oberste Prinzipien Freiheit, Frieden, Wohlstand und Kultur in Europa gewährleisten. Unterstützer fand er nicht nur bei Intellektuellen wie Albert Einstein oder Thomas und Klaus Mann, sondern auch bei vielen wichtigen Politikern in Deutschland und Frankreich. Progressiv waren Coudenhove-Kalergis Ideen allerdings nur bedingt; er dachte dieses Europa stark in der Tradition der Habsburger Monarchie als ein „Reich“, das durch einen „geistigen Adel“ repräsentiert werde. Paneuropa sollte ein Staatenbund sein im Sinne von „Vereinigten Staaten von Europa“, der als eine Weltmacht neben den anderen  Weltmächten Pan-Amerika, einem Britischen Bundesreich, einem Russischen Bundesreich und „Ostasien“ (China und Japan) „seinen“ Großraum von Portugal bis Polen beherrscht. Es ist unter anderem diese Großraum-Konzeption, die eine Brücke bietet zu Vorstellungen der Neuen Rechten, wo Coudenhove-Kalergi heute rege rezipiert wird.

Ein föderalistisches Europa, ein „Europa der Regionen“ als Alternative zu den bisherigen zentralistischen Nationalstaaten und auch zu einem zentralistischen europäischen Super-Staat war die Grundidee des Schweizers Denis de Rougemont (1906 – 1985). Als Bürger Europas – und eben nicht mehr als Staatsbürger eines Nationalstaates – sollte jeder und jede sich in die Belange der Region einbringen können und so in Form einer weitgehenden Selbstverwaltung diese politisch aus- und mitgestalten. Dass de Rougemont seine Erfahrungen mit dem Schweizer Modell der Kantone für ein Europa der Bürger fruchtbar zu machen versucht, ist unübersehbar. Was gerade seine späten Schriften bis heute interessant macht, ist zum einen die Analyse des Zusammenhangs, der zwischen der Ideologie eines ungezügelten Wachstums und der Ideologie des Nationalstaates besteht, zum anderen seine Beschreibung, wie in der Struktur eines Nationalstaates Möglichkeiten der Manipulation staatlicher Entscheidungen durch Vertreter wirtschaftlicher Interessen angelegt sind.

Während de Rougemont zeit seines Lebens in oder zusammen mit europäischen Institutionen arbeitete und dort versuchte, seine Idee durchzusetzen, blieb der austro-amerikanische Philosoph und Ökonom Leopold Kohr (1909-1994) eher randständig. Ähnlich wie de Rougemont kritisierte Kohr vehement die Ideologie des Nationalstaates und forderte eine regionale oder kantonale Gliederung Europas. Allerdings dachte er solche Regionen als „historisch gewachsen“ und damit fast als „natürlich vorfindlich“ wie etwa in Frankreich Burgund oder die Normandie. Für de Rougemont dagegen erfolgt die Herausbildung von Regionen über das politische, am Gemeinwesen (res publica) orientierte Handeln der Bürger und dem entsprechende Prozesse der Verfassungsgebung.

Souveränität der Bürger statt der Staaten: das Manifest von Ventotene

Die bis heute anschlussfähigste Konzeption eines geeinten Europa formulierten die italienischen Politiker Altiero Spinelli (1907-1986) und Ernesto Rossi (1897-1967). Als Kommunist war Spinelli unter Mussolini von 1927 bis 1943 inhaftiert, dabei ab 1940 verbannt auf der Insel Ventotene. Dort schrieb er 1941 zusammen mit Rossi das „Manifest von Ventotene“, ein aus der antifaschistischen Tradition entwickelter Entwurf für eine supranationale europäische Integration. Basisorientiert, von den Bürgern getragen sollte die Gründung bundesstaatlich verfasster europäischer Institutionen erfolgen. Unabdingbare Voraussetzung einer europäischen Föderation sei aber ein verfassungsgebender Prozess. Eine solche Verfassungsgebung kann nur beruhen auf dem souveränen politischen Handeln der Bürger; denn diese und nur diese sind die „Autoren und zugleich die Adressaten“ der Verfassung (Jürgen Habermas).

Damit ist in aller Deutlichkeit die Gegenposition formuliert zu dem faktischen Gründungsprozess Europas, der von Robert Schuman, Jean Monnet, Walter Hallstein und anderen vorangetrieben wurde. Diese gingen von der Souveränität der Nationalstaaten und deren Entscheidungen aus; die Souveränität der Bürger in den Gestaltungsprozessen Europas findet in einem solchen Konzept bis heute keinen Platz. Politisch gibt es keine europäischen Bürger, sondern immer noch nur Staatsbürger eines Nationalstaates. Dagegen hält das Manifest von Ventotene fest: „Die absolute Souveränität der Nationalstaaten hat zu einem Machtstreben aller gegen alle geführt, sieht sich doch jeder von ihnen durch die Macht des anderen bedroht und betrachtet immer größere Gebiete als den ihm zustehenden Lebensraum, innerhalb dessen er sich freier bewegen und seine Existenz unabhängig von den anderen gestalten kann. Dieses Machtstreben kann nur auf eine Art zur Ruhe kommen: in der Hegemonie des stärksten Staates über alle anderen. Die Folge davon war, dass der Staat sich vom Beschützer der Freiheit seiner Bürger zum Herrn über geknechtete Untertanen entwickelt hat, dem alle Mittel zur Verfügung stehen, um seinem Willen mit Waffen Nachdruck zu verleihen.“

Geschrieben 1941.

BürgerInnen haben nach wie vor nichts zu sagen

Und heute? Europa ist im Sinne Carl Schmitts geopolitisch ein Großraum mit dem Hegemon Deutschland. Insbesondere die Ostgrenzen dieses Großraums sind – wie im Ersten (Galizien) und Zweiten Weltkrieg (Ukraine) – umstritten. Bürgerrechte werden eingeschränkt zugunsten des Sicherheits- und Überwachungsstaates. Ein Verfassungsprozess wurde 2003 begonnen, aber im Sinne einer feudal-absolutistischen Verfassungsgewährung. Denn 2004 unterzeichneten die damaligen EU-Staatschefs als Repräsentanten souveräner Staaten den Verfassungstext, ohne dass dieser den souveränen (Staats-) Bürgern zur Diskussion und Weiterentwicklung vorgelegt worden wäre. Während die rot-grüne Regierung unter Schröder und Fischer sich von vornherein weigerte, den Verfassungstext zur Abstimmung zu stellen, erfolgte die Ablehnung des Verfassungstextes durch die Bürger in Frankreich und den Niederlanden, weil die jeweiligen Regierungen nur das Abnicken des von ihnen ja schon unterzeichneten Textes wollten. So ist Europa bis heute ohne Verfassung, ohne politische Konstitution durch die Bürger Europas. Letztendlich ist es ein Europa ohne Bürger.

In seinem Buch „Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands“ (2001) konstatiert der Historiker Frank Niess: Der Europäischen Union fehlen politische Visionen. Dabei müssten nur Visionen aufgegriffen werden, die schon einmal formuliert wurden: Der politische Kampf um ein Europa der Bürger, um eine europäische Verfassung, die von der Souveränität der Bürger Europas – und ich betone; nicht von der Souveränität der Staatsbürger! – als ihrem Gemeinwesen ausgeht, dies wäre ein Kampf, der jeglichem Nationalismus und damit auch den rechtsextremen Parteien den Boden unter den Füssen wegzieht. Denn würde dieser Kampf erfolgreich sein, dann fehlten dem Nationalismus und dem Rechtsextremismus ihre konstitutiven Fundamente: die Nation und der Nationalstaat.


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1 Kommentar verfügbar

  • Marla M.
    am 05.07.2019
    Antworten
    Für mich EU Kritikerin wäre es doch mal spannend, wenn all die DemoAufrufer und "geht zur Wahl, sonst..." Erpresser einen
    vor der Wahl und nach der Wahl Faktencheck machen würden!
    a) aus Sicht des Wählers: bessere, sozialere, gerechtere EU?
    b) aus Sicht der EUrokraten: sind Sie demokratisch…
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