Die insgesamt zwei Verhandlungstage, während derer vier Zeugen angehört wurden, lassen das Stuttgarter Amtsgericht nicht im glänzendsten aller Lichter erstrahlen. Skurrile Szenen ereignen sich zu Prozessbeginn am 3. April. Auf richterliche Anordnung ist den BesucherInnen das Mitführen von "spitzen Schreibgegenständen" im Sitzungssaal untersagt. Ein Anwalt der BesetzerInnen empfindet das als übervorsichtig, doch die Staatsanwältin betont, ein Stift könne nunmal auch als Waffe verwendet werden. Die vorsitzende Richterin will die Sitzung für fünf Minuten unterbrechen, um ihre Verbotsverfügung zu überdenken und abzuwägen, ob sie die Bedrohung durch Bleistifte in Kauf nehmen kann. Nein, befindet sie nach einer knappen halben Stunde. "Es geht hier nicht nur um meine eigene Sicherheit, sondern die Sicherheit aller Verfahrensbeteiligten."
Sonderbehandlung für Bodyguards
Auf den Zuschauerplätzen sitzen am ersten Verhandlungstag rund 30 SympathisantInnen der Besetzung, die die Entscheidung mit Gelächter kommentieren und dem Gericht auch sonst nicht allzu viel Respekt entgegenbringen. Sie werden offenbar als Sicherheitsrisiko angesehen und beim Einlass in den Sitzungssaal intensiv durchsucht. Eine Vorkehrung, die nicht für alle gilt: Am zweiten und letzten Verhandlungstag sagt die Eigentümerin der Wilhelm-Raabe-Straße 4 im Zeugenstand aus. Sie hat zwei Bodyguards dabei, die ganz vorne in der ersten Reihe sitzen und auf ihren Handys herumspielen.
"Mir wurde zugetragen", führt ein Anwalt mit Verweis auf die beiden Herren aus, "dass die beim Einlass nicht durchsucht wurden." Die Richterin will das überprüfen lassen, doch ein Sicherheitsbeamter im Sitzungssaal interveniert: Entschuldigung, er habe eben per Funk mit seinem Einsatzleiter geredet und die beiden Bodyguards seien "sehr wohl ordentlich durchsucht" worden. Sie haben aber ihre Handys dabei, was im Gerichtssaal nicht erlaubt ist. Nachdem die Richterin entscheidet, die Behauptung des Gerichtsbediensteten zu überprüfen, stellt sie sich als Falschaussage heraus: Die Bodyguards müssen den Saal noch einmal verlassen und anschließend wird nicht weiter darüber geredet.
Evelyn P., die Eigentümerin der streitgegenständlichen Immobilie, beteuert im Zeugenstand, dass sie gar keine Spekulantin sei. Nein, sie habe die Wohnungen vermieten wollen, bis ihr die BesetzerInnen in die Quere gekommen seien. Von den fünf Wohneinheiten standen zwei leer, als sie das Haus kaufte. Diese wurden zwischenzeitlich besetzt. Seitdem sie durch die Zwangsräumung Ende Mai 2018 wieder leer stehen, ließ P. die Wohnungstüren mit Holzverschlägen zunageln. Die geplanten Sanierungsarbeiten, die Voraussetzung für eine Vermietung seien, haben ein knappes Jahr später noch nicht angefangen.
ZDF-Moderator Claus Kleber zeigte Verständnis für die BesetzerInnen
Von den drei regulären Mietparteien, die beim Abschluss des Kaufvertrags in der Wilhelm-Raabe-Straße wohnten, musste eine bereits ausziehen. Die beiden anderen haben inzwischen eine fristlose Kündigung zugestellt bekommen. "Sie wollten also vermieten", fragt ein Anwalt, "und dann steht das Haus leer?" Nebenbei: Der Immobilienverkäufer bewarb sein Objekt in der Wilhelm-Raabe-Straße damit, dass sich dessen Wert durch eine Modernisierung "stark anheben" lasse. Für diese Bauarbeiten muss der Wohnraum Mieter-frei sein.
Für eine juristische Beurteilung tut dies wenig zur Sache. Doch sie werfen ein bezeichnendes Licht auf das Verhalten von Eigentümern. Laut einem Anwalt der BesetzerInnen hätte das Verfahren eingestellt worden müssen. Allein die Zwangsräumung im vergangenen Mai sei bereits rechtswidrig gewesen. Denn Frau P. ließ sich erst zwei Monate später, im August, ins Grundbuch eintragen. Damit sei sie gar nicht befugt gewesen, einen Strafantrag gegen die BesetzerInnen zu stellen. Eine Argumentation, der sich die Vorsitzende Richterin nicht anschließen wollte: Dass ein gültiger Kaufvertrag vorliege und eine Schlüsselübergabe erfolgt sei, genüge bereits.
"Was wir tun, ist nicht legal, aber legitim", teilten die BesetzerInnen gleich zu Beginn ihrer Aktion im April vergangenen Jahres mit. Es gehe ihnen darum, nicht nur auf ihre persönliche Betroffenheit, sondern auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hinzuweisen: Auf die dramatische Wohnungsnot in der Republik nämlich und auf die immer zahlreicher werdenden Menschen, die keine bezahlbare Bleibe mehr finden.
Das ist ihnen gelungen: Die Besetzung fand bundesweite Beachtung und Sympathien weit über linke Kreise hinaus. Sogar <link https: www.zdf.de nachrichten heute-journal heute-journal-vom-4-juli-2018-100.html external-link-new-window>ZDF-Moderator Claus Kleber schien Verständnis zu haben, im "heute journal" vom 4. Juli 2018. Statt sich einem albernen Zank zwischen CDU und CSU zu widmen, eröffnete er die Sendung mit einem Beitrag über die Stuttgarter Besetzer. Bürger mit "echten Problemen", wie Kleber sagte.
Das Urteil des Stuttgarter Amtsgerichts wollen die BesetzerInnen nun akzeptieren. Was eine erhebliche finanzielle Belastung für sie darstellt. Denn neben den insgesamt 2200 Euro, die als Geldstrafe für die drei anfallen, schlagen allein die Kosten für die Zwangsräumung mit knapp 13 000 Euro zu Buche. Hinzu kommen Verfahrenskosten, die noch nicht feststehen, aber erfahrungsgemäß ebenfalls im niedrigen fünfstelligen Bereich liegen dürften.
Um die finanziellen Folgen des Urteils solidarisch auf mehrere Schultern zu verteilen, wurde ein Spendenkonto eingerichtet: Rote Hilfe e.V. Stuttgart, Stichwort: Wilhelm-Raabe-Str., IBAN: DE66 4306 0967 4007 2383 13, BIC: GENODEM1GLS
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Peter Bähr
am 20.04.2019De facto ein Lippenbekenntnis - als ob 98 Prozent der Beschwerdeführer, einmal mehr beim BVerfG wegen…